»Wir sollten unterwegs ein paar Haselruten schneiden«, schlug Rollo vor, während seine Stute geruhsam neben Thorsteins Hengst Skinfaxi trabte. »Ich hoffe, dass es auf einen Holmgang[1] hinauslaufen wird«, fügte er erklärend hinzu.
Stirnrunzelnd sah der Steuermann auf und musterte den Bruder des Jarls nachdenklich. »Glaubst du wirklich, dass es so einfach werden wird?«, forschte er nach. »Horiks Erster Mann ist ein Siegertyp, da gebe ich dir gern recht. Aber wird dem König ein Kampf Mann gegen Mann genügen? Und wird er deinem Bruder genügen, Rollo? Du weißt, wie wichtig ihm seine Ehre ist. Da er aber nicht selbst kämpfen kann …«
Rollo starrte nachdenklich auf die Mähne seines Pferdes. »Ragnar war schwer verwundet«, gab er zu. »So, wie er es geschildert hat, stand er kurz vor dem Weg nach Niflheim. Er kann keinesfalls selbst gegen Arngrim antreten. Wenn der König sich für einen Holmgang entscheidet und Halldór[2] für ihn kämpft, muss er sich damit zufriedengeben, egal, wie dieser Kampf ausgehen wird.«
Der Krieger schwieg eine Weile nachdenklich, dann grinste er. »Es ist kaum vorstellbar, dass Arngrim Halldór besiegen kann, wenn es zu einem Zweikampf kommt. Er ist größer, stärker und hat jahrelange Kampferfahrung. Arngrim hingegen hat nur seine Verschlagenheit.«
»Wenn es zum Zweikampf kommt …«, brummte Thorstein leise. »Was aber, wenn der König Arngrim nicht ehrenhaft sterben lassen will? Er hat auch gegen die Hoheit des Königs gehandelt. Es erscheint mir denkbar, dass er weniger rücksichtsvoll gegen einen Verräter vorgehen wird, als wir es uns vorstellen.«
Rollos Stute war in einen langsamen Schritt gefallen und Rollo gab ihr ein Zeichen, wieder zu traben. Eine Weile schwiegen beide Männer, während sie die zunehmend steiniger werdende Landschaft um sich herum betrachteten.
»Es wird nur noch zwei oder drei Tage dauern, bis wir es genauer wissen«, beendete Rollo das Thema, zu dessen Ausgang beide nichts sagen konnten. »Egal, was Ragnar und Horik entscheiden, sie werden Arngrim nicht einfach laufenlassen. Am Ende wird er Moseby verlieren und wenn mich nicht alles täuscht, wird es Ragnar sein, der dort nach ihm die Macht übernimmt. Wenn meinem Bruder ein solcher Zuwachs seiner Macht zuteilwird, kann sich damit vieles verändern. Wir beide sollten dann wissen, was wir wollen und wo wir stehen.«
Thorstein nickte unbehaglich. »Schon jetzt verändert sich vieles, finde ich«, gab er zu. »Durch den neuen Mann Santór wird Jorunn einen Teil ihrer Macht verlieren. Er ist inzwischen mehr Berater als Diener für Ragnar. Wenn er auch ein guter Heiler ist, kann der Einfluss der Völva auf deinen Bruder schnell schwinden. Dann mag es sein, dass ihn niemand mehr an den Willen der Götter erinnert und er sich selbst an erster Stelle sieht. Es gefällt mir nicht, was dieser Christ vielleicht in das Ohr unseres Anführers flüstert.«
Rollo strich sich über den Bart. »Sein Glauben stört mich weniger als seine berechnende Art. Er war es immerhin, der Ragnar geraten hat, Björn nicht mit Lathgertha gehen zu lassen. Und ich vermute auch, dass er ihm zuflüstert, dass Macht das Allerwichtigste im Leben ist, dass an erster Stelle das Wohl des Jarls stehen muss. Und das ist etwas, was es in Straumfjorður noch nie gab. Hier stand immer das Gemeinwesen an erster Stelle. So, wie es sein sollte.«
Thorstein nickte. »Es sollte immer die Gemeinschaft sein, für die ein Anführer arbeitet. Wenn Ragnar das nicht mehr kann, wird er meine Achtung vollends verlieren. Es wird Straumfjorður schaden, wenn der Jarl zuerst auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist.« Grübelnd starrte er eine Zeitlang vor sich hin. »Ich habe keine Vorstellung, was wir tun könnten, wenn Ragnar seine Ziele vor die Zukunft der Siedlung stellt. Mit der Unterstützung Horiks ist er unantastbar. Und das weiß er auch. Er ist nicht dumm!«
Rollo straffte sich und zügelte dann seine Stute. Überrascht kam auch Thorstein auf Skinfaxi neben ihm zu stehen.
»Was ich dir jetzt sage, Thorstein, sollte unter uns bleiben«, begann Rollo vorsichtig. Der Steuermann nickte zögerlich. »Du bist mein Freund, Rollo, und kannst mir vertrauen«, gab er schließlich sein Einverständnis zu einem vertraulichen Gespräch.
»Jorunn sagte letztens etwas zu mir, worüber ich lange nachgedacht habe«, begann der Jarlsbruder zu erklären, worum es ihm ging. »Sie sagte, dass jeder irgendwann einmal die Entscheidung zwischen der Macht und dem, was er liebt, treffen muss. Sie glaubt, dass für uns diese Zeit jetzt gekommen sein könnte.«
Rollo räusperte sich. »Es gab eine Zeit in meiner Jugend, da hätte ich für mehr Macht alles gegeben. Das weißt du! Doch so ist es längst nicht mehr. Glókolla, du, Rúna, Jorunn und sogar Lathgertha seid für mich so etwas wie eine neue Gemeinschaft, eine neue Familie geworden. Und es wird mich nichts und niemand davon abhalten, diese Familie zu schützen und zu behüten.«
Mit dem Stolz, zu dem ihn diese Worte berechtigten, richtete sich Rollo ein wenig im Sattel auf. »Sollten sich die Zeiten in Straumfjorður nicht zum Guten wenden, werde ich eher mit euch allen segeln, als mich auf einen Machtkampf mit Ragnar einlassen. Auch, wenn wir nur eine kleine Gemeinschaft sein werden, wird es eine bessere Gemeinschaft sein als alles, was uns ein machtbesessener Jarl bieten könnte.«
Nun war es gesagt und es gab kein Zurück mehr für Rollo. Doch auch Thorstein war sich dem Ernst der Zeit bewusst. Er bedachte sich genau, bevor er antwortete.
»Es ehrt dich, dass du unsere Gemeinschaft einer machtvollen Stellung vorziehst«, begann er dann seine Erwiderung. »Und auch ich würde Macht nicht den Vorzug geben.« Thorstein sprach ein wenig lauter, als er fortfuhr. »Wenn wir also segeln müssen, um weiterhin nach unseren Vorstellungen zu leben, so werden wir das gemeinsam tun. Darauf hast du mein Wort!«
Es gab nichts mehr zu sagen und so schwiegen die beiden Männer, bis sie sich am späten Nachmittag zu einer Rast entschieden. Als sie dann das Thema erneut aufnahmen, waren sie sich schnell einig. Sie würden abwarten, was das Thing an neuen Erkenntnissen brachte. Danach konnten sie die Zukunft gewiss etwas besser erkennen. Und sollten sie sich in ihrer Freiheit ernsthaft bedroht sehen, würden sie segeln – gemeinsam mit allen, die ihnen wichtig waren.
Nachdenklich starrten die beiden in einen wolkenlosen Sonnenuntergang. »Nach Westen …« murmelte Thorstein verträumt. »Nach Westen!« Und Rollo nickte. Nach Westen.
[1] Holmgang: gesetzlich geregelter Zweikampf, der Streitigkeiten beilegen sollte.
[2] Halldór: altnordisch Thors Felsen
Zu guter Letzt möchte ich euch heute noch ein besonders schönes Album aus meiner Schreibmusik empfehlen: "Seafarer" von Lindy-Fay Hella, der weiblichen Stimme von Wardruna - unbedingt hörenswert!
Eure Sophie