Ragnar sah zu den dunklen Wolken hinauf, die, vom starken Wind getrieben, über Straumfjorður hinweg zogen. Dort, weit oben, kreiste erneut das Rabenpärchen und dem Jarl schien es, als würde ihr Krächzen ihn höhnisch verspotten. Nichts war ihm gelungen, all seine Pläne zunichte gemacht … Und nun nahm nicht einmal Læva die Gnade an, die er ihr bot.
Die Flüche, mit denen sie ihn belegt hatte, waren unverzeihlich, selbst wenn sie nicht die Macht haben sollte, sie Wahrheit werden zu lassen. Es gab keinen Weg mehr, sie am Leben zu lassen. Zu sehr wünschte sein Volk ihren Tod. Das Murren und Flüstern der Zuschauer schwoll bereits an und er musste eine Entscheidung treffen. Doch wollte er das wirklich - eine wehrlose Frau umbringen? Hatte er nicht beschlossen, maßvoll zu handeln und sich nicht von seinem Zorn bestimmen zu lassen?
Ragnar war verwirrt. Er war unsicher, was er tun sollte. Und die Raben kreisten unaufhörlich weiter, als erkannten sie, dass er nicht weiterwusste.
Die Zeit verstrich und die Zuschauer wurden ungeduldig. Einzelne Rufe wurden laut, Ragnar möge der Metze einfach die Kehle durchschneiden.
"Reiß ihr doch die Zunge raus!", grölte ein besonders blutdurstiger Krieger. Und während der Jarl noch zögerte, fasste Sture einen ersten Entschluss. Rücksichtslos zog er die bewusstlose Læva zurück an den Pfahl, von dem er sie vorhin abgebunden hatte und schlang erneut die Riemen um ihre Hände. Regungslos hing die junge Frau nun erneut an dem Stamm. Das Blut hatte rostbraune Flecken auf ihrem zerfetzten Kleid hinterlassen, ihr Haar war von den Nächten im Schuppen verfilzt und ihre Lippen, Hände und Füße von der Kälte blau gefroren. Eigentlich hätte man Mitleid mit ihr haben sollen, dachte Ragnar. Doch es gab kein Erbarmen mehr!
Das Blau ihrer Füße war es dann, das Ragnar bei seiner Entscheidung weiterhalf. Die Götter selbst mochten wissen, was recht und was falsch wäre. Sollten sie doch über Leben oder Tod des aufmüpfigen Weibes entscheiden!
"Weck sie auf!", befahl er seinem Vorarbeiter, der dem Wunsch seines Herrn auch mit ein paar kräftigen Ohrfeigen nachkam. Tatsächlich halfen die Schläge, Læva ins Hier-und-Jetzt zurückzuholen. Verwirrt blinzelte die junge Frau gegen das Erwachen an. Man sah, dass sie zunächst nicht begriff, wo sie war und was gerade geschah. Doch dem Jarl war nun alles egal. Er wartete nicht ab, bis sich Læva gefangen hatte, sondern wandte sich sofort mit fester, lauter Stimme an seine Leute.
"Es ist der Wille der Götter, dass Menschen als Sklaven dem starken Volk der Nordmänner dienen", begann er. "So haben es uns die Goden und unsere Väter gelehrt." Zustimmendes Gemurmel bestärkte ihn in seinen Ausführungen. "Sklaven sind unser rechtmäßiger Besitz." Ragnar schwieg einen Augenblick, um seine Worte wirken zu lassen. Dann fuhr er langsam und würdevoll fort: "Ich war bereit, dieser Sklavin ihr Fehlverhalten zu vergeben. Dabei glaubte ich, dass ich sie durch meine Gunst vielleicht zu ihrem Handeln verleitet haben könnte."
Das widersprechende Murmeln und Flüstern nahm zu und der Jarl musste die Hand heben, um sich erneutes Gehör zu verschaffen. Es störte ihn nicht. Die Menschen Straumfjorðurs waren so einfach lenkbar! Meist konnte er gut vorausahnen, wie sie reagieren würden. Sie waren tief in ihrer Lebensweise verwurzelt und stellten nie infrage, was ihnen von den Alten gelehrt und von den Skalden überliefert wurde. So würde es auch heute sein. Wenn er an die Macht Asgards und der Asen appellierte, würde ihm nicht eine Stimme mehr widersprechen. Der Glaube an die Macht der Götter war eine Selbstverständlichkeit, die keiner in Zweifel zog.
Ragnar sah sie nun der Reihe nach an - seine Krieger, die Freunde, auch diejenigen, die seine Herrschaft noch immer mit kritischem Auge betrachteten. Sie alle würde er mit seiner Entscheidung zufriedenstellen. Mit den nächsten Worten nahm er den Faden seiner vorherigen Rede wieder auf: "Wie ihr aber hört, habe ich mich in den Beweggründen meiner Sklavin grundlegend geirrt. Es ging ihr nicht um meine Zuneigung, sondern um Macht. Nun, da sie nicht bekommen hat, was ihr, wie sie glaubte, zustand, wünscht sie mir das Schlimmste auf den Hals. Eine solche Hexe können wir nicht in unserer Siedlung dulden!"
Wieder stimmte das Murmeln der Zuschauer ihm zu und selbst Læva schwieg vor Entsetzen. Es schien ihr nach und nach klar zu werden, welches Schicksal sie sich mit ihren hasserfüllten Worten selber geschaffen hatte. Doch Ragnar sah sie nicht mehr an, während er nun sein Urteil verkündete.
"Es mag euch richtig vorkommen, diese Frau zu töten", stimmte er seinen Leuten zu. "Doch erscheint es mir auch sehr gefährlich, Hand an sie zu legen, sollte sie tatsächlich eine Magierin sein." Wieder machte der Jarl eine kleine Pause, damit sich seine Zuhörer bedenken konnten.
"Es ist am besten, die Götter selbst über das Schicksal der Hexe entscheiden zu lassen. Sie verbleibt an diesem Pfahl, bis sich die Sonne erneut über dem Horizont erhebt. Damit sie nicht noch mehr Unglück herbeifluchen kann, werden wir ihr den Mund stopfen. Danach rührt sie keiner mehr an. Sind ihr die Götter wohlgesonnen, wird sie den neuen Morgen erleben und kann danach als freie Frau Straumfjorður für immer verlassen. Sollte sie je zurückkehren, werde ich sie eigenhändig töten. Ebenso werde ich mit jedem verfahren, der es wagt, ihr vor morgen zu Hilfe zu kommen."
Die Götter anrufend, hob Ragnar beide Hände weit in die Höhe. Manch ein Blick folgte ihm zum Himmel und man hörte den einen oder anderen ehrfürchtigen Atemzug beim Anblick der beiden Raben.
"Odins Boten Hugin und Munin seien meine Zeugen", ließ sich der Jarl nun würdevoll vernehmen, "dass ich den Gottvater Odin und alle aus seinem Gefolge anrufe, in der kommenden Nacht über diese Frau aus meinem Besitz zu richten. Egal, wie ihr Schiedsspruch auch ausfällt, ich werde mich dem Willen der Asen beugen!"
Andächtig ließ Ragnar seine Arme sinken. Die Menschen um ihn herum schwiegen ehrfürchtig. Nur Læva regte sich trotz ihrer Fesseln und wollte gegen das Urteil Einspruch vorbringen. Doch noch ehe sie einen ganzen Satz vorbringen konnte, war schon Sture dazwischengefahren. Wütend über die immer noch vorhandene Widerspruchskraft der Sklavin presste er ihr mit seiner Linken hart die Kiefer zusammen. Dann, als sie notgedrungen schwieg, riss er mit einem Ruck einen Fetzen Stoff aus ihrem Rock und knüllte ihn zu einem Knebel zusammen. Sein Daumen auf ihrem Kiefergelenk zwang die Frau nun dazu, ihren Mund zu öffnen und er stopfte das raue Tuch erbarmungslos zwischen deren Zähne. Dann prüfte er ein letztes Mal die Riemen, die Læva am Pfahl hielten und zog die Fesseln hier und da ein wenig straffer. Zufrieden mit seinem Tun, trat er ein Stück zurück.
Ragnar nickte ihm zu. "Wie mir scheint, sind wir hier fertig", ließ er die umstehenden Gaffer wissen. "Kehrt in eure Häuser zurück und lasst die Asen entscheiden, wie es mit dieser Frau weitergehen soll. Haltet die Feuer in Gang und betet heute Nacht für Straumfjorður."
Das Volk folgte Ragnars Wunsch und zerstreute sich nach und nach. Auch der Jarl selbst hatte es nun eilig, in sein warmes Haus zurückzukommen. Nur wenig Zeit verging, bis es in Straumfjorður still geworden war.
Læva blieb allein zurück auf dem eisig kalten Richtplatz. Ein heimlicher Beobachter hätte sie dabei beobachten können, wie sie zunächst hartnäckig gegen ihre Fesseln ankämpfte und sich wieder und wieder aufbäumte. Dann gegen Abend ließ ihr Widerstand merklich nach. Als der Jarl bei anbrechender Dunkelheit herbeikam, um sich zu versichern, dass sie nach wie vor an ihrem Platz war, hing sie bereits vor sich hin dämmernd am Pfahl.
Und während Ragnar des Nachts an seinem wärmenden Feuer betete und über seine Zukunft nachdachte, hatten die Götter ein Einsehen und nahmen die junge Frau mit dem hoffnungslosen Schicksal einer Sklavin zu sich. Am Morgen fanden die Männer nur noch einen mit Raureif bedeckten, hart gefrorenen Leichnam vor. Sie machten wenig Aufwand, schnitten die Tote vom Pfahl, banden ihr einen Sack mit Steinen an die Füße und fuhren kurz darauf mit einem Ruderboot weit hinaus auf den Sund. Nicht einmal den klatschenden Aufprall des Körpers konnte man in Straumfjorður hören, als sie ihre Fracht über Bord warfen. Tags darauf war es, als habe es Læva nie gegeben. Man vergaß sie schnell. Allein der Jarl erinnerte sich hin und wieder an ihre Flüche und fragte sich bang, ob davon etwas Realität werden würde.