Thorstein fluchte so gotteslästerlich, dass sich Odin gewiss die Ohren zugehalten hätte, wäre er Zeuge dieses Ausbruchs geworden. Ja, er war sich sicher, dass er richtig gehandelt hatte, als er Ragnar verschonte. Doch es ging ihm gewaltig gegen den Strich, was er seither täglich von den Kriegern der Siedlung zu hören bekam. Weich sei er geworden, hatte Gylfe ihm gesagt, zu mitleidig. Ob er keinen Anspruch an den eigenen Stand habe, wollte Eirikr von ihm wissen, ob ihm die eigene Gefährtin so wenig wert wäre, wenn sie denn überhaupt als seine Frau gelten durfte - Sklavin die sie doch gewesen sei. Die Männer wussten mehr, als gut für sie war, gaben allem Klatsch nach, trugen ihr angenommenes Wissen von Ohr zu Ohr. Zu viele der Krieger waren am Tag nach der Ankunft der Straumfjorðurnautr bei dem Gelage dabei gewesen, das mit Rúnas Schändung geendet hatte.
Man sah ihm nach, beobachtete ihn und Thorstein ahnte, dass man hinter seinem Rücken noch heftiger über ihn tratschte. Er hatte es wahrhaftig satt!
Missmutig näherte er sich seinem Ziel, dem Haus Rollos, wo er mit dem Bruder des Jarls erste Pläne zur Verteidigung Straumfjorðurs schmieden wollte. Endlich weg von diesem unwissenden Volk von gnadenlosen Männern und Frauen, die nicht zwischen Zurückhaltung und Unfähigkeit zu unterscheiden wussten! Er, Thorstein, wäre sehr wohl in der Lage gewesen, Ragnar zu töten und dessen Herzblut in den Schnee zu vergießen. Ja, es wäre ihm viel leichter gefallen, als sich gegen dessen Tot und für die Vernunft zu entscheiden. Verdrossen trat sich der Steuermann den Schnee von den Stiefeln. Wenigstens Rollo würde ihn verstehen.
Und so war es auch. Doch nicht nur der Bruder des Jarl wusste Thorsteins Zurückhaltung zu würdigen. Auch Aodh, der sich Gedanken über die Gründe für das Opfer und dessen Ausmaß gemacht hatte, sah in der Selbstbeherrschung des Steuermannes Stärke und keine Schwäche. Es gefiel ihm, dass dieser fähig war, sich zurückzuhalten. Dies sah der Schmied als Eigenschaft eines guten Anführers. Dass Thorstein nicht nur Kraft sondern auch Verstand hatte, wusste der Mann aus dem Süden.
Die drei saßen lange an diesem Tag beieinander und berieten sich. Noch blieb reichlich Zeit bis zum Beginn des Frühjahrs und solange die Männer nicht mit Horik in den Krieg zogen, schien ein Angriff Arngrims ausgeschlossen. Rollo würde zwei seiner Knechte damit beauftragen, die Wege Richtung Osten auf zwielichtige Gestalten zu kontrollieren. Mehr konnte man in der Kälte des Winters nicht tun. Alle drei Männer nahmen sich vor, die Zeit bis zum Frühjahr zu nutzen, um über Möglichkeiten nachzudenken, Arngrim mit List und Überraschung entgegenzutreten.
Thorstein beschloss, diese stille Zeit des Winters doch mit Rúna auf dem Moorseehof zu verbringen. Hier im Dorf war sie ebenso wie er dem Gerede der Dummen und Gedankenlosen ausgesetzt. Weder sie noch er brauchten diese heimlichen Blicke und respektlosen Schwätzer. Viel konnte er gerade eh nicht tun, um sein Versprechen an den Jarl einzulösen. Für Straumfjorður würde er erst dann unentbehrlich sein, wenn die Leidang die Männer nach Süden rief.
Der Steuermann nahm seinen Plan, auf den Hof zurückzukehren, schon am nächsten Tag in Angriff. Gemeinsam mit Teitr unternahm er einen Streifzug über den Markt und belud ein Fuhrwerk mit allerlei Vorräten, die sie in der Einöde schätzen würden.
Dann, als er schon den Einkauf beenden wollte, kam ihm eine weitere Idee und er winkte gebieterisch nach dem Marktschreier. Nicht lange, nachdem er dem Mann seine Anweisungen gegeben hatte, ließ dieser die Besucher der Handelsstände wissen, dass der ehrenwerte Steuermann Thorstein nach einer Magd suchte, die dessen Gefährtin bei der Kinderbetreuung und der Hauswirtschaft unterstützte.
Es dauerte nicht lange, bis sich die ersten neugierigen Frauen bei ihm einfanden. Die erste, die Thorstein auch sofort freizügigen Einblick in ihr Mieder gewährte und ihn mit schamlosen Blicken beinahe auszog, wurde schnell wieder weggeschickt. Ebenso hatte der Krieger keine Verwendung für ein altes Weiblein, das ihn zahnlos und halb schwachsinnig angrinste. Ihr Sohn führte sie mit wenigen Worten davon.
Einer Frau mittleren Alters namens Katla hingegen gebot Thorstein zu bleiben und den weiteren Verlauf der Vorstellungen abzuwarten. Sie war von einem der abgelegenen Höfe in die Siedlung gekommen, da der dortige Bauer nach einer verregneten Ernte weniger Mäuler zu stopfen wünschte. Nun schlug sie sich mit Spinn- und Webarbeiten durch. Mit Kindern kenne sie sich aus, hatte sie Thorstein wissen lassen. Drei habe sie selbst geboren und großgezogen. Auch sei sie nicht ungeschickt bei der Arbeit in Stall und Küche.
Der Krieger war sich schnell sicher, dass sie es sein würde, der er Solvig anvertrauen wollte. Dennoch ließ er sich Zeit, auch noch die letzten beiden Bewerberinnen kennenzulernen. Doch keine der verbliebenen Frauen war für Katla eine Konkurrentin.
Ob sie denn alleine lebe, wollte Thorstein nun abschließend wissen. Es stellte sich heraus, dass die Magd sehr wohl zu einem Mann gehörte, der im Dorf ebenfalls Gelegenheitsarbeiten nachging. (1)Ohne groß zu überlegen, bot der Steuermann nun an, auch diesem eine Anstellung zu geben, wenn er ihm auf den Moorseehof folgen wolle. Dass diese Wahl gut war, zeigte sich schnell, als Katla ihren Gefährten Oddi zu sich rief. Auch dieser war mittleren Alters, doch offenbar durchaus körperlich so gut beieinander, dass er Teitr bei den täglichen Aufgaben zur Hand gehen konnte.
Das Feilschen um Kost und Lohn war bald abgeschlossen und man kam überein, dass Katla dem Steuermann schon an diesem Abend ins Grubenhaus folgen würde, während Oddi sich anschließen wollte, wenn Teitr am übernächsten Tag ins Hinterland aufbrechen würde. So kam es, dass der Moorseehof am Abend dieses Tages um vier fleißige Hände reicher war. Thorstein aber war froh, als er Ragnar jene Magd aus seinem Haus zurückschicken konnte, die sich auf Wunsch von Lathgertha bisher um Solvig gekümmert hatte. Auch, wenn die Alte liebevoll für das kleine Mädchen dagewesen war, blieb doch für den Steuermann ein fader Beigeschmack beim Gedanken an deren Brotherrn.
Aufmerksam verfolgte der Mann, wie seine neue Helferin mit der Kleinen umging und war mit deren Arbeit durchaus zufrieden. Katla war, wie sie es versprochen hatte, erfahren und sicher im Umgang mit dem Mädchen. Er hatte keine Zweifel, ihr seine Solvig anzuvertrauen. Sicher würde auch Rúna die ältere Frau mögen, wenn sie sich ein wenig besser kannten. Ja es mochte sein, dass sie von der erfahrenen Mutter noch manche Dinge lernen konnte.
So war es nicht verwunderlich, dass Thorstein unbesorgt zusah, als Teitr mit dem Fuhrwerk, den beiden neuen Mitgliedern ihres Gesindes samt Solvig Richtung Inland aufbrach. Die Wintersonne beschien einen leicht verschneiten Weg und die beiden Ochsen des Fuhrwerks bliesen ihren sichtbaren Atem aus weit aufgeblähten Nüstern, als sie endlich in einem zügigen Schritt die Siedlung verlassen durften. Dick eingehüllt in mehrere Felle saß Katla mit Solvig im Arm neben dem Kutscher, während ihr Mann Oddi gut gelaunt neben dem Fuhrwerk einherschritt.
Hrimfaxi aber trabte ebenso abenteuerlustig an, als sie mit Thorstein auf dem Rücken die Siedlung ebenfalls verließ. Jorunn sah dem sich entfernenden Tross nachdenklich hinterher. Die Entschiedenheit, mit der der Steuermann das Gesinde auf seinem Hof vermehrt hatte, gefiel ihr. Rúna würde dort ein gutes Leben haben - zumindest in diesem Winter. Was danach kam, wussten allein die Götter. Doch die Völva war zuversichtlich, dass Thorstein mit Mut, Verstand und Umsicht auch dem Drachen begegnen konnte, der sich unaufhaltsam wie der kommende Frühling in ihrer Vision der Siedlung näherte.
(1) Entgegen unserer heutigen Vorstellung von Ehe und Familie war es im Mittelalter nicht unüblich, dass Paare auch längere Zeit getrennt voneinander arbeiteten oder lebten. Besonders hart traf es die Ammen, die bei den Familien ihrer Nährkinder lebten und ihren Ehemann meist nur trafen, um sich immer dann schwängern zu lassen, wenn ihre Herrin auch guter Hoffnung war.
Auch bei adeligen Familien kam es nicht selten vor, dass die Frau mit den Kindern auf dem Land lebte, während sich der Mann in der Stadt aufhielt - gern auch mit seinen Mätressen. Ein wunderbares Abbild jener Zeit hat Robert Merle für Frankreich entworfen: "Fortune de France", eine großartige Romanreihe, die ich jederzeit für echte Leseratten empfehlen kann.
Eure Sophie