Während Ragnar und Thorstein die Nacht nachdenkend und betend am Altar des Heiligen Hains verbrachten, wachten in Gunnars großem Bauernhaus ebenfalls zwei besorgte Frauen.
Als Rúna am Abend nach einem anstrengenden Ritt auf dem Hof von Lathgerthas Bruder eingetroffen war, nahm sie sich nicht die Zeit für eine Erholung sondern eilte sofort an Björns Lager. Der Bote hatte nicht gelogen oder auch nur übertrieben. Gerthas kleiner Junge glühte vor Hitze. Glasige Augen sahen die junge Heilerin an, als sie sich mit dem Kind näher beschäftigte. Ragnars Sohn war kaum mehr in der Lage mitzuhelfen, als sie begann, ihn von seinem verschwitzten Hemd zu befreien. Längst hatte die Krankheit ihre Herrschaft über den schmächtigen Körper übernommen.
Aufmerksam betrachtete Rúna die nun nackte, schweißig-kalte Haut des Jungen. Feine, flächige, erhabene, rote Stellen überzogen Brust und Bauch des Kindes - beinahe schienen sie wie Samt anzumuten. Finster runzelte die junge Frau die Stirn. Wenn Björn nun auch noch einen dick angeschwollenen schmerzhaften Hals hatte, so war ihr genau diese Krankheit bereits einmal begegnet. Es war die Tochter von Áris Nachbarin gewesen, deren zitternder, heißer Körper damals ähnliche Zeichen hervorgebracht hatte. Ihrem Herrn war der Einfall gekommen, dass sie, Rúna, die Fiebernde betreuen sollte. Immerhin wusste keiner so recht, ob man nicht selbst ein Opfer der Krankheit werden konnte, wenn man sich dem Mädchen zu sehr näherte.
Widerwillig erinnerte sich Thorsteins Gefährtin an jene Zeit. Man hatte sie auf den Nachbarhof gebracht und sie einfach bei der Kranken eingesperrt. Helwig, wie das Mädchen hieß, war zu Anfang kaum in der Lage gewesen, ein wenig Tee mit Honig zu trinken, geschweige denn zu essen. Zwei Tage lang hatte Rúna ununterbrochen an ihrem Lager gewacht und sie versorgt. Kalte Wickel waren eine Hilfe gewesen und frisches Quellwasser. Mit starkem Weidensud hatten sie schließlich das Fieber lindern können. Dann aber, als es dem Mädchen besser ging, ließ sie Rúna sehr deutlich fühlen, wie sehr sie deren Sklaventum verachtete. Ein Wunsch folgte dem anderen und es gab nichts, womit sie die verwöhnte Helwig hätte zufrieden stimmen können. Letztlich war sie sehr froh gewesen, als Ári sie zurückrief.
Nun aber kniete sie als freie Frau am Bett eines kleinen, hilfebedürftigen Jungen. Die Vergangenheit durfte sie nicht daran hindern zu tun, weshalb sie gekommen war. Eifrig begann Rúna nun, das Kind mit kühlem Wasser abzuwaschen. Vorsichtig strich sie über die gerötete Haut, immer darauf bedacht, dem Kleinen keine Schmerzen zu bereiten. Dass Lathgertha sie dabei aufmerksam beobachtete, entging der jungen Frau, die konzentriert arbeitete. Nachdem sie Björn ein trockenes frisches Hemd angezogen hatte, begann sie, mit nassen Lappen seine Waden zu kühlen. Diese Tätigkeit war einfach und nach kurzer Zeit nahm die Mutter des Kleinen ihr die Schüssel vom Schoß.
„Ich mache das, Rúna“, versicherte Gertha ihr. „Sicher bist du von dem langen Ritt erschöpft. Wenn du etwas essen möchtest …“
Doch die so Angesprochene dachte weder an Brot noch Met. „Wenn es dir nichts ausmacht, Björns Waden zu kühlen, würde ich einen frischen Fiebersud zubereiten“, schlug sie vor. Ohne noch die zustimmende Antwort vollständig abzuwarten, begann Rúna, ihr mitgebrachtes Bündel zu durchsuchen. Jorunn hatte ihr viele Kräuter genannt, die sie mitnehmen sollte – nun galt es, eine Auswahl zu treffen. Sorgsam darauf bedacht, die zarten Stängel und Blüten nicht zu zerreiben, legte die Heilerin die geeigneten Trockenpflanzen bereit: Holunder- und Lindenblüten, ein paar Stängel Thymian, ein wenig Brunnenkresse und die alles übertreffende Weidenrinde. Nun galt es, das richtige Maß zu finden und den geeigneten Zeitpunkt, zu dem die einzelnen Bestandteile der Mischung in das siedende Wasser gegeben werden mussten.
Rúna begann mit der Weide. Das zähe, feste Material sollte einige Zeit kochen. Dann, als ihr der feinherbe, fast schon bittere Geruch des Sudes in die Nase stieg, fügte sie Thymian und wenig später die Kresse hinzu. Nun galt es zu warten, bis beide Kräuter weich gekocht waren. Erst dann, kurz bevor sie das Gebräu vom Feuer nahm, warf sie die beiden Blütenbündelchen des Holunder und der Linde dazu. Hoffentlich war das Mittel gelungen!
Rúna wollte nicht zu lange warten und holte kurzerhand einen Eimer voll Schnee ins Haus. Hier hinein packte sie den ersten kleinen Krug ihres Tranks und sah dann nachdenklich zu, wie die Hitze des Tongefäßes die feinen Kristalle zu unzähligen Tropfen schmolz. Bald würde der Sud kühl genug sein, dass Björn trinken konnte. Gedankenverloren folgte Rúnas Blick einem kleinen Eissplitter, der auf dem Schmerzwasser schwamm.
„Warum tust du das?“, riss sie die leise Stimme der Frau an Björns Lager aus den Gedanken. Rúna verstand nicht ganz. War ihr Handeln denn nicht offensichtlich? „Es soll so schnell wie möglich abkühlen“, gab sie irritiert zur Antwort. „Björn braucht das!“
Doch Lathgertha hatte etwas ganz anders gemeint. „Ich weiß!“, gab sie zu. „Doch das war gar nicht meine Frage! Warum hilfst Du Ragnars Sohn, wo er dich doch so gedemütigt und verletzt hat. Wäre dies nicht die beste Gelegenheit, es ihm heimzuzahlen, Rache zu nehmen?“ Unverständnis schwang in der Stimme der Schildmaid und auch ein wenig Angst, Angst um ihren einzigen Sohn, dessen Leben sie nun gerade der Frau anvertrauen sollte, die ihr Gefährte geschändet hatte. Wenn sie an Rúnas Stelle wäre …
Diese aber wurde von der Frage nicht so heftig überrascht, wie es Lathgertha annahm. Natürlich hatte die junge Frau einen kurzen Moment lang mit dem Gedanken gespielt , einfach Nein zu sagen. Doch da war längst nicht mehr genug Zorn in ihr, als dass sie ernsthaft darüber nachgedacht hätte, Björn ihre Hilfe zu verweigern. Wenn sie für ihre Gefühle einen Namen hätte finden müssen, dann wäre es vielleicht Trauer gewesen, Trauer, dass ein Teil von ihr für immer von dem Erlebten geprägt war.
Die Vereinigung zwischen Mann und Frau, so dachte sie, sollte von Vertrauen und Liebe geprägt sein. Sie aber konnte die Erinnerung an das Erlebte nicht gänzlich verdrängen und trug sie auch in ihr Zusammensein mit Thorstein hinein. Selbst in der vergangenen Nacht war es so gewesen. Ihr Steuermann war so zärtlich und liebevoll gewesen, dass sie in seinen Armen alles hätte vergessen sollen. Doch allein sein spielerisches Hinauszögern ihres Beischlafs, sein Necken, seine herausfordernden Berührungen – so wenig hatte ausgereicht, um sie mit Macht aus der Bahn zu werfen und die Erinnerung an andere wissende Finger übermächtig werden zu lassen.
Thorstein hatte es gespürt, das war Rúna schnell klar gewesen. Doch ihr Gefährte war daraufhin nur dichter zu ihr gerückt und hatte seine starken Arme um sie geschlungen und sie gehalten. Als sie sich später doch noch miteinander vereinigten, war daran nichts Heiteres, nichts Neckendes. Doch es lag nicht nur ein großer Ernst über diesem Akt. Es war auch ein Versprechen Thorsteins, sie dennoch bei sich zu behalten und sie zu lieben. Daran konnte sie sich festhalten. Dennoch war es Trauer, die Rúna empfand, wenn sie daran dachte, dass jene Nacht mit Ragnar ihr die Fähigkeit genommen hatte, sich sorglos hinzugeben. Das aber würde sie Lathgertha nicht sagen!
„Es ist auch dein Sohn“, erwiderte sie stattdessen. „Und er ist ein Kind.“ Entschlossen hob die Heilerin den inzwischen abgekühlten Krug aus dem Wassereimer. „Es spielt keine Rolle, wer sein Vater ist oder was er getan hat. Ich würde auch dem Kind eines Feindes meine Hilfe nicht verwehren.“
Ihre ernsten Augen suchten den Blick Lathgerthas. „Wenn man es genau nimmt, gehört keiner von euch zu meinem Volk. Ich wurde nicht gefragt, ob ich hierher in den kalten, dunklen Norden gehen möchte. Ein Schwert hat mich hierher geführt, eine Klinge an meinem Hals.“
Rúna füllte ihren Sud in einen Tonbecher um und kostete dann die Mischung mit gerunzelter Stirn. Bitter war der Geschmack, nicht für einen Kindermund geeignet. Während sie der Flüssigkeit einen Löffel Honig hinzufügte, fuhr sie fort. „Was aber bleibt mir zu tun, als mein Los anzunehmen? Ein Zurück gibt es nicht.“ Rúnas leises Lachen bei diesen Worten nahm dem, was sie gesagt hatte, ein wenig die Schärfe. Dennoch hatte Lathgertha das Gefühl, die stille Frau neben sich kaum zu kennen. Was wusste sie schon, wie es sich anfühlte, auf Gedeih und Verderb einem übermächtigen Herrn zu gehören, Besitz eines anderen Menschen zu sein?
„Eirði illa ofankomu, hárbaðms undir haldin meiði; kunni síst að kundar Nörva, vön að værri vistum heima (1)“, murmelte Lathgertha grübelnd. „Warst du auch an eine heitere Wohnung gewöhnt, Rúna?“
Die Heilerin, die in der Zwischenzeit den kleinen Björn aufgesetzt hatte und nun versuchte, ihm ein wenig ihres Tranks einzuflößen, zögerte mit der Antwort. War der Hof ihres Vaters heiter gewesen? Vielleicht konnte man es so sehen. Eines konnte sie mit Sicherheit sagen, er war ein gewohnter Ort und fehlte ihr noch immer. Ja, sie wusste, dass Reric nach Göttriks Eroberung gebrannt hatte. Ári war bei seinen Erzählungen gern sehr ausführlich gewesen. Doch war es wirklich ein Ort, nach dem sie sich sehnte? „Ein Zuhause war ich gewöhnt, Lathgertha“, gab sie leise zu, „einen Ort, der Sicherheit und Verständnis bot.“Einen Moment lang dachte sie angestrengt nach. So lang war das schon her!
„Als Kind glaubte ich, dass unser Hof und unser Land für immer Bestand hätten. Doch auch wenn mich Ári und später Ragnar nicht geholt hätten – was hält schon für immer? Wer weiß, ob ich nicht dennoch nach Norden gelangt wäre? Ja, vielleicht“, und hier lächelte Rúna voller Liebe, „habe ich doch noch ein Zuhause gefunden. Es ist nicht so sehr das Land, das einen Ort dazu macht, sondern die Menschen, die dort leben. Einer von ihnen wartet darauf, dass ich bald zu ihm zurückkehre. Und es gibt ein kleines Mädchen namens Solvig, dessen Lachen ich schon vermisse! Es sollte mich nicht beschäftigen, woher ich komme, solange ich weiß, wohin ich heute gehöre! “
Entschlossen hob Rúna nun den Becher an Björns Lippen und beide Frauen sahen erleichtert dabei zu, wie der Junge gierig trank.
HRAFNAGALDUR ÓÐINS
„Schwer erträgt sie dies Niedersinken
Unter des Laubbaums Stamm gebannt.
Nicht behagt es ihr bei Nörwis Tochter,
An heitere Wohnung gewöhnt so lange.“
("Sie" ist die Göttin Nanna, die Gefährtin Baldrs. Manch einer glaubt, dass sie die Abendröte oder den Abendstern symbolisiert. Dass Lathgertha hier die Edda zitiert, mag damit zusammenhängen, dass man schon damals aus den alten Liedern tiefere Zusammenhänge herauslesen wollte)