Die Zeit verstrich. Sally und ihr Vater Adrian verstanden sich besser denn je. Lilith fühlte sich von der Zweisamkeit zwischen Vater und Tochter ausgeschlossen und beobachtete die beiden argwöhnisch. Der Neid fraß sich in ihr Herz. Nicht nur einmal dachte sie daran, ihre Intrigen erneut aufblühen zu lassen, um denen, die sie eigentlich lieben sollte, Schaden zuzufügen. Aber dann wurde ihr bewusst, dass der Verdacht sofort auf sie fallen würde. Der unüberhörbare Disput zwischen ihr und Adrian vor einigen Wochen auf dem nächtlichen Flur hatte garantiert nicht nur Sally mitbekommen, sondern auch die gesamte Dienerschaft, bei der sie nicht sonderlich beliebt war. Jeder würde sofort sie verdächtigen.
Adrian hatte seiner Tochter noch viele Fragen zu beantworten, was er gerne tat, sofern er es konnte. Sie wollte auch mehr über die Eltern ihrer Mutter erfahren. Doch Adrian wusste von ihnen nur, dass sie inzwischen verstorben waren. Susan hatte nie viel über ihre Eltern erzählt, die ebenfalls sehr streng mit ihr waren.
Das Jahr, das Lilith Sally als Schonfrist gegeben hatte, war beinahe vergangen. Bisher hatte sie Sally nie wieder auf eine anstehende Vermählung angesprochen, doch vergessen hatte sie es noch längst nicht. Eher im Gegenteil, beinahe jeden Tag dachte sie daran, wie es wäre, wenn Sally endlich hinter Klostermauern säße und sie endlich Adrians alleinige Aufmerksamkeit genießen konnte.
Auch bei Adrian schien das Thema in Vergessenheit geraten zu sein. Eines Abends aber platzte Lilith der Kragen.
„Wie ich sehen muss, werde ich in diesem Haushalt nicht ernst genommen“, keifte sie Adrian an, der über ein Schriftstück gebeugt an seinem Schreibtisch in der Bibliothek saß.
„Ach, das merkst du erst jetzt“, erwiderte er schnippisch und senkte seinen Blick erneut auf das vor ihm liegende Papier.
„Das ist doch wohl die Höhe!“, schrie seine Frau ihn an. „Es genügt dir wohl nicht, dass die Dienerschaft mich ignoriert und meinen Anweisungen nicht nachgeht! Garantiert steckt ihr dahinter, du und deine ach so heiß geliebte Tochter! Nein, du musst mich jetzt auch noch beleidigen.“ Lilith schnaufte. Ihr Gesicht lief vor Wut rot an.
„Dich beleidigen? Wie könnte ich?“ Adrian blieb immer noch ruhig.
„Dann denke doch mal daran, deine Tochter endlich unter die Haube zu bringen. Ich bin es leid, sie Tag für Tag zu sehen und mit ihr Susan“, platzte Lilith heraus. „Ich gab ihr ein Jahr, das nun fast rum ist. Noch ein Monat, dann kommt sie ins Kloster!“
„Du wirst doch wohl nicht annehmen, dass ich Sally gegen ihren Willen verheirate oder gar ins Kloster stecke, nur weil du es so wünschst. Niemals! Du bist doch nur eifersüchtig!“ Adrian brauste auf und schlug mit der Faust auf die Tischplatte, dass das offen dastehende Tintenglas beinahe umfiel.
„Du bist genau so ein Sturkopf wie Susan“, schrie Lilith ihn an. „Wenn sie nicht gewesen wäre, dann wäre ich jetzt Sallys richtige Mutter. Aber nein, du konntest nicht die Finger von ihr lassen und musstest sie auch noch schwängern.“
„Du bist immer noch eifersüchtig auf Susan“, stellte Adrian fest. „Susan ist tot! Tot! Verstehst du? Nie wieder werde ich ihr Lachen hören können, und Sally wird ihre Mutter nie kennenlernen können! Du bist daran genau so schuld wie ihre Eltern. Nur Sally ist mir von ihr geblieben.“ Verständnislos schüttelte Adrian seinen Kopf.
„Es ist besser, du gehst jetzt, ehe ich mich gänzlich vergesse. Ich will mir nicht nachsagen lassen, ich schlage meine Gattin. Obwohl du es verdient hättest.“ Adrian ging zur Tür und öffnete diese. „Geh jetzt“, sagte er nochmal zu Lilith, worauf sie ohne ein weiteres Wort die Bibliothek verließ. Doch in ihrem Inneren brodelte es.
Kaum saß Adrian wieder an seinem Schreibtisch, klopfte es erneut. Wutentbrannt lief er zur Tür und riss sie auf. „Kannst du immer noch keine Ruhe geben!“, stieß er aus. Aber dann erkannte er seine Tochter, die vor der Tür stand und ihn mit großen Augen ansah. Der Schreck stand ihr ins Gesicht geschrieben.
„Verzeiht, Vater. Da gehe ich lieber mal wieder“, stieß Sally stotternd aus. Sie drehte sich auf dem Absatz und wollte sich wieder entfernen.
„Bleib“, rief Adrian aus und hielt seine Tochter am Ärmel ihres Kleides fest. „Das galt nicht dir, sondern Lilith.“
„Wieder einmal die alte Leier“, erkannte Sally richtig. „Was ist denn diesmal der Grund Eures Streites? Sagt nichts! Ich weiß es auch so.“ Sally verdrehte genervt die Augen.
„Komm doch erst einmal rein“, sagte Adrian und ließ seiner Tochter den Vortritt in seine Bibliothek. Als er die Tür hinter sich schloss, bemerkte er nicht, dass seine Frau, in einer Nische versteckt, gehorcht hatte. Fies grinsend beschloss sie, sich nicht in die Enge treiben zu lassen und nun endlich Nägel mit Köpfen zu machen.
„Lilith denkt immer noch, sie kann hier tun und lassen, was sie will. Vater, Ihr seid hier der Hausherr. Sprecht doch endlich einmal ein Machtwort. So kann das nicht weitergehen, dass alle unter Liliths ständiger schlechter Laune leiden müssen. Die Dienstboten beschweren sich ständig über sie.“
„Liebes, das ist gar nicht so einfach“, erwiderte Adrian.
„Was kann daran so schwer sein?“, mokierte sich Sally. Sie verstand es nicht, warum sich ihr Vater so viel von seiner Frau gefallen ließ.
„Du hast ja recht“, versuchte Adrian seine Tochter zu beruhigen. „Aber du weißt nicht, zu was Lilith alles fähig ist, nur um ihren Willen zu bekommen.“
„Also Vater! Ihr werdet Euch doch wohl nicht ins Bockshorn jagen lassen! Seid ein Mann und gebt ihr Saures. Wollt Ihr Euch das ewig gefallen lassen?“ Sally lief unruhig hin und her. Plötzlich blieb sie stehen und schaute ihren Vater fragend an. „Um was ging es denn diesmal wieder?“, wollte sie wissen.
„Um was schon. Um dich und die nicht anstehende Vermählung. Lilith bleibt auf ihrem Standpunkt bestehen, dich ins Kloster zu schicken.“ Nun verdrehte Adrian die Augen. „Hast du nicht vielleicht doch einen Liebsten, der dich ehelichen würde?“, fragte Adrian.
„Vater! Was denkt Ihr von mir? Natürlich nicht! Ich bin doch keine Dirne, die sich heimlich mit Männern vergnügt!“ Kaum hatte Sally diese Worte ausgesprochen, schlug sie sich erschrocken auf den Mund. Ihr wurde klar, wie ungebührlich sie sich ihrem Vater gegenüber verhalten hatte. „Verzeiht, Vater. Das wollte ich nicht“, sagte sie bebend. Tränen bahnten sich ihren Weg und rollten über ihre Wangen.
„Ist schon gut, Liebes. Du musstest meine Worte missverstehen“, entschuldigte sich auch Adrian. Liebevoll wischte er Sally die Tränen weg und küsste sie auf die Wange. „Frieden?“, fragte er, worauf Sally nur nickte und ihn schüchtern anlächelte.
Aufatmend nahm er sie in seine Arm und drückte sie an sich.
„Wir sollten uns aber trotzdem etwas einfallen lassen, um Lilith zu beruhigen“, sagte Sally nach einiger Zeit auf einmal.
„Ach was, vergiss es einfach“, erwiderte Adrian. „Ich bin dein Vormund. Sie kann dir gar nichts tun.“
„Wie Ihr meint“, sagte Sally darauf, trotzdem froh, dass das leidliche Thema erst einmal fallen gelassen wurde.
Aber auch Adrian hatte noch etwas mit seiner Tochter zu besprechen, was er sogleich in Angriff nahm. „Dein einundzwanzigster Geburtstag ist in drei Wochen“, begann er. „Was gedenkst du an diesem Tag zu tun?“
„Ich weiß noch nicht“, antwortete Sally. „Eigentlich habe ich gar keine große Lust zum Feiern.“
„Liebes, man wird nur einmal einundzwanzig“, erwiderte Adrian. „Das sollte man groß feiern. Was hältst du davon, am Vormittag zu einer Treibjagd aufzubrechen und abends feiern wir ein rauschendes Fest dir zu Ehren.“
Sally dachte nach. „Treibjagd und Picknick, wenn das Wetter mitmacht. Damit könnte ich leben. Aber bitte kein Fest, an dem ich mich vor Einladungen zum Tanz nicht erwehren kann. Ich hasse es, tanzen zu müssen.“
Adrian wusste von Sallys Abneigung zum Tanz. Diesbezüglich ähnelten sie sich wie ein Ei dem anderem. „Gut, dann Treibjagd und Picknick“, gab Adrian klein bei.
Am Abend teilte Adrian seiner Gattin die Pläne zu Sallys Geburtstag mit. Lilith zuckte nur mit den Schultern und meinte, er solle doch tun, was er will. Sie ginge das nichts an, Sally wäre seine und nicht ihre Tochter.
Wenig später lag Lilith in ihrem Schlafzimmer auf dem Bett und starrte nachdenklich an die Decke. Dass Adrian zu Sallys Geburtstag solch einen Trubel veranstalten wollte, missfiel ihr. Eifersucht flammte in ihr auf und damit zum wiederholten Male der Gedanke, sich den ungeliebten Ehemann, oder dessen Tochter, am besten gleich beide, vom Hals zu schaffen. Dann wäre für sie der Weg frei für ein zügelloses Leben in Reichtum. Über diesen Gedanken schlief Lilith ein.
Unruhig wälzte sich Lilith von einer auf die andere Seite. Der Alptraum, der sie heimsuchte, hatte sie zutiefst erschreckt. Erst als sie mit einem lauten Schrei schweißgebadet hochfuhr und dabei fast aus dem Bett fiel, wurde ihr bewusst, die Bilder, die sie sah, waren keine Realität.
Lilith versuchte, sich zu erinnern. Sie sah einen toten Pferdeleib, darunter begraben, Adrian, ihr Gatte. Auch er war nicht mehr am Leben. Die Last des Pferdes, das auf ihn fiel, nahm ihm dieses. Die Menschen, die sich abmühten, das Pferd von Adrian zu ziehen, konnten ihm nicht mehr helfen. Als sie ihn endlich befreien konnten, war er bereits tot.
„Das ist es!“, rief Lilith aus. Bösartig grinsend stieg sie aus ihrem Bett und lief in ihrem Schlafzimmer hin und her. Die restliche Glut aus dem Kamin erhellte es nur spärlich, doch für Lilith war das nicht wichtig. Gedankenverloren stellte sie sich an das Fenster und schaute in den Garten hinunter, der vollkommen im Dunkeln lag. Nur ganz am hinteren Ende konnte man über den Wipfeln der Bäume die langsam aufziehende Dämmerung erspähen.
Fröstelnd rieb sich Lilith über die Arme. Doch auch die aufkommende Kälte trieb sie nicht in ihr Bett zurück.
„Was wäre, wenn Adrian einen Reitunfall hätte und dabei zu Tode stürzen würde?“, sinnierte sie, dabei an den Traum denkend, der sie aus dem Schlaf gerissen hatte. „Ja, natürlich, genau das ist es“, rief sie erfreut über ihren bösartigen Gedanken. „Dann könnte ich Sally ins Kloster schicken und sie könnte nicht einmal etwas dagegen tun. Sie würde rein gar nichts erben und ich alles.“
Lilith lachte laut auf. „Das Familienerbe würde ihr erst zufallen, wenn ich gestorben bin und sie zu diesem Zeitpunkt auch verheiratet ist. Das könnte sie aber nicht, da sie ja als Braut Gottes im Kloster leben und dort versauern würde.“ Der Gedanke, ihren Traum in die Tat umzusetzen, reifte in Lilith heran. Sie blieb noch einige Zeit am Fenster stehen, das sie inzwischen geöffnet hatte.
Die kalte Morgenluft strömte ins Zimmer. Lilith fröstelte noch mehr und beschloss, die Zeit bis zum Frühstück lieber schlafend im Bett zu verbringen, als frierend am offenen Fenster. Sie schloss es und schlüpfte zurück unter die noch warme Daunendecke. Seufzend schloss sie ihre Augen und versuchte wieder einzuschlafen.
Leise Geräusche im Hintergrund drangen an Liliths Ohren. Sie wollte noch nicht aufwachen, sondern drehte sich auf die Seite und zog die Decke über ihren Kopf. Doch die Geräusche ließen sich nicht vertreiben. Gähnend streckte sie sich unter ihrer Decke. Nur mühsam zwang sie sich, die Augen zu öffnen. Als ihr das endlich gelang, war das Fenster, das sie letzte Nacht geschlossen hatte, wieder geöffnet. Sie Sonne schien bereits und die Vögel zwitscherten um die Wette. Durch das Fenster drang der intensive, schwere Geruch der Rosen, die in langen Rabatten im Garten standen.
„Oh, verzeiht, habe ich Euch geweckt?“, hörte sie Amalia, ihre Zofe, sagen. Mit angsterfüllten Augen blickte das Mädchen von ihrer Arbeit auf, die sie eben verrichtet hatte. Obwohl es noch nicht lange im Haus weilte, wusste es bereits von der oft üblen Laune ihrer Herrin und hatte nicht nur einmal deren Schläge erdulden müssen.
„Ist schon gut“, erwiderte Lilith lächelnd und streckte sich noch einmal genüsslich im Bett aus. „Doch lauf lieber, hole Glut aus der Küche, damit du das Kaminfeuer hier entfachen kannst. Es ist arg kalt hier drinnen.“
Als Amalia aufatmend das Zimmer verlassen wollte, rief Lilith sie zurück. „Schließe doch vorher das Fenster“, befahl sie ihr, was Amalia sofort tat. Dann begab sich die junge Frau in die Küche, um die ihr befohlene Arbeit auszuführen.
Lilith währenddessen zog die Bettdecke nochmals hoch bis zum Kinn. Ihre Gedanken schweiften erneut zu ihrem erlebten Traum zurück. Die Idee, sich das Erbe ihres Gatten unter den Nagel zu reißen, ließ sie nicht mehr los. Erst als im Kamin ein prasselndes Feuer brannte und ihr Schlafzimmer in wohlige Wärme tauchte, begann sie ihren Tag.
Die Tage zogen ins Land und Sallys Geburtstag rückte immer näher. Lilith hatte ihre alten Beziehungen aufleben lassen, um ihrer Intrige Hand und Fuß zu geben. Die dunklen und zwielichtigen Gestalten, die sie angeheuert hatte, warteten nur auf ihr Zeichen, um tätig zu werden. Billig war das Ganze nicht, doch das, was sie am Ende ihr Eigentum nennen konnte, übertraf die für sie läppische Summe, die die Ganoven von ihr verlangten, um Vieles. Adrian überließ ihr den geforderten Betrag ohne nachzufragen, wofür sie ihn benötigte. Er nahm wohl an, sie wolle sich neue Garderobe schneidern lassen. Dass er damit seinen eigenen Tod bezahlte, ahnte er nicht.
Die Vorbereitungen für die Treibjagd liefen auf Hochtouren. Die Strecke der Jagd stand fest, das Picknick war bereit. Dann war es endlich soweit, Sally feierte ihren einundzwanzigsten Geburtstag. Von Adrian, Sally und den Gästen unbemerkt, lauerten in einem sicheren Versteck auf einem Baum die Gauner auf ihren Einsatz.
Lautes Bellen der Hundemeute klang von den Ställen herüber zum Wohnhaus. Sally mühte sich ab, ihr Reitkleid anzuziehen. Viel lieber wäre es ihr, sich in Hosen zu kleiden. Doch in Gesellschaft geziemte es sich nicht, sich so undamenhaft zu benehmen.
„Warum müssen wir Frauen uns immer so quälen“, maulte Sally unwillig, während Adelaide die Schnüre an Sallys Oberteil in die Ösen fädelte. Die Zofe lächelte dazu nur und tat weiter ihre Arbeit, ohne auf Sallys Gemaule zu hören.
„Fertig“, verkündete sie nach einiger Zeit und reichte Sally den federgeschmückten Hut, den sie heute tragen wollte. Sie drehte sich vor dem großen Spiegel hin und her und betrachtete ihre Erscheinung. „Fürchterlich“, maulte sie wieder, was von Adelaide nur belächelt wurde. Sie kannte ihre Herrin zwar schon einige Jahre, verstand es aber immer noch nicht, warum sie sich lieber in Männerkleidung sah als in schönen Roben, die ihre natürliche Schönheit noch unterstrichen.
„Ach nein, Ihr seht bezaubernd aus“, widersprach Adelaide nun doch und zupfte an einer Locke, die sich aus Sallys Frisur gelöst hatte.
Ehe Sally protestieren konnte, klopfte es an ihre Tür. Gleich darauf steckte Genefa, Sallys Busenfreundin ihren Kopf herein. „Bist du endlich fertig, Prinzessin“, fragte sie. „Die Gäste werden bereits ungeduldig. Die Hundemeute auch, wie du hörst.“
„Ja, ja, gleich“, antwortete Sally und griff nach ihrer Reitgerte, die auf dem Tisch bereit lag. „Gehen wir“, sagte sie zu Genefa und zog die Freundin mit sich.
Als Sally die lange Treppe in die Halle hinunterschritt, blickten ihr die anwesenden Gäste gespannt entgegen. Happy Birthday wurde ihr von allen Seiten zugerufen. Sie musste zahllose Hände schütteln und Küsschen empfangen.
„Du siehst entzückend aus und wirst heute wohl so manches Männerherz brechen“, flüsterte ihr Vater ihr ins Ohr, worauf Sally nur glockenhell lachte und den Kopf schüttelte.
„Oh nein, Vater, letzteres heute garantiert nicht“, erwiderte sie lachend und knuffte Adrian neckend in die Seiten. „Gehen wir lieber, es ist bestimmt alles zur Jagd bereit.“ Sie ließ sich von Adrian nach draußen führen und sich auf ihr Lieblingspferd heben, das fertig gezäumt und gesattelt von einem Reitknecht herangeführt wurde.
Oben am Portal stand Lilith und blickte zu den Gästen hinunter, die sich alle zu ihren Pferden begaben und sie bestiegen. Durch das Tor des Anwesens ritt bereits einer der Hundeführer, gefolgt von seinen laut bellenden und aufgeregten Beagles.
„Auf geht es“, rief Sally aus und gab das Zeichen zum Beginn der Jagd. Sie drückte ihrem Pferd die Ferse in die Seite und preschte los.
Der Wind wehte Sally ins Gesicht, zerrte an ihrem Hut, der aber widerstand. Ihr Vater ritt neben ihr. Gemeinsam folgten sie der Hundemeute, die wohl bereits eine Spur entdeckt hatten und laut auf sich aufmerksam machten. Sally selbst trug kein Gewehr bei sich. Sie nahm zwar gern an einer Jagd teil, aber auf lebendige Tiere mochte sie nicht schießen.
„Da sind die Hunde!“, rief sie ihrem Vater zu, der sein Gewehr geladen hatte. Das Pferd unter ihm tänzelte aufgeregt, dass er Mühe hatte, sich im Sattel zu halten. Als würde es die Gefahr wittern, wollte es ausbrechen. Doch Adrian hielt es fest im Zaum.
„Vater, gebt Acht!“, rief Sally aus, als Adrians Pferd einen Satz nach vorn machte und den Reiter beinahe aus dem Sattel warf.
Während Adrian Mühe hatte, sein Pferd zu bändigen, saßen die beiden angeheuerten Gauner im Wipfel eines Baumes und versuchten, ihr bewegliches Ziel anzuvisieren. „Ich nehme das Pferd, du den Mann“, flüsterte der eine dem anderen zu.
„Aber pass auf, dass das Mädchen nicht getroffen wird“, erwiderte der Angesprochene.
„Schon klar“, wurde geantwortet.
Geduldig warteten die beiden auf die passende Gelegenheit, endlich zum Schuss zu kommen.
Während die Hunde aufgeregt nach der Spur des Wildes suchten, wartete die Jagdgesellschaft, bis das Wild aus seinem Versteck brach und geschossen werden konnte. Endlich war es soweit. Mit einem lauten Quieken kam ein riesiger Keiler aus dem Gebüsch geschossen, im Schlepptau die Hunde, von denen sich einige bereits in seine Keulen verbissen hatten und hinter ihm her geschleift wurden. Der Keiler kam genau in Sallys Richtung gerannt. Erschrocken riss die junge Frau die Zügel hoch und schrie: „Schießt, Vater, schießt endlich!“ Ihr Pferd machte einen Satz nach vorn, so dass es Sally kaum gelang, sich im Sattel zu halten.
Adrian riss sein Gewehr hoch und zielte auf das riesige Tier. Sein Pferd war die Jagd gewohnt und blieb ruhig. Gerade wollte Sallys Vater schießen, als ein lauter Knall ertönte. Adrian verspürte einen schmerzlichen Schlag, der ihn aus dem Sattel riss. Er fiel genau vor die Füße des wilden Keilers, der sich sofort auf ihn stürzen wollte. Doch ein zweiter Schuss fiel, der das Tier zur Strecke brachte. Tödlich getroffen stürzte es zu Boden und hauchte sein Leben aus.
Während des Falls gelang es Adrian nicht gänzlich, seinen Fuß aus dem Steigbügel zu befreien. Als nochmals ein Schuss fiel, ging sein Pferd durch und riss ihn mit sich. Hilflos wie eine Puppe versuchte der Reiter, irgendwie den Sattel zu erreichen. Doch es gelang ihm nicht. Als das Pferd einen weiten Sprung machte, schlug er mit dem Kopf auf dem Erdboden auf, der ihm die Sinne raubte. Besinnungslos wurde er am Sattel hängend hinterher geschleift. Aber als Adrians Kopf ein weiteres Mal aufschlug und auf einen Stein traf, verließ der letzte Lebensfunke seinen Leib.
„Vater, Vater“, schrie Sally entsetzt und preschte voran, um zu helfen. Sie achtete nicht darauf, dass ihr der Wind den Hut vom Kopf riss und ihr Haar zerzauste. Die kunstvoll aufgesteckte Frisur löste sich. „So kommt doch!“, schrie Sally den Jagdgehilfen zu, die ihr sogleich folgten. Als erste erreichte sie das inzwischen stehen gebliebene Pferd ihres Vaters. Die Flanken des Tieres zitterten und die Nüstern blähten sich. Sally sprang von ihrem Reittier und lief, so schnell es ihre Röcke zuließen, zu der leblos am Boden liegenden Person. Das rechte Bein ihres Vaters hing immer noch im Steigbügel fest und war unnatürlich verrenkt.
„Vater“, schrie Sally erneut und ging neben ihm zu Boden. Erst jetzt bemerkte sie das Blut, das aus einem Loch aus seinem Kopf quoll. Sie legte einen Finger an die Halsschlagader und wollte den Puls erfühlen. Doch da war nichts „Vater, Vater, so hört doch!“, schrie sie voller Entsetzen aus. „Schnell, helft!“, rief sie voller Angst den nachfolgenden Jagdteilnehmern zu, die nun ebenfalls den Unfallort erreicht hatten.
„Macht endlich Platz! Aus dem Weg!“, schimpfte Sir Selwyn Wellington, Adrians ältester Freund, mit dem untätig herumstehenden und stieß sie beiseite, um zu seinem Freund zu gelangen. Als er ihn sah, wusste er sofort, da gab es nichts mehr, was er für ihn tun konnte. Trotzdem beugte er sich über ihn und suchte den Puls. Doch auch er konnte ihn nicht finden.
„Sally, komm zu dir, Sally“, sprach er auf die am Boden knieende tränenüberströmte Frau ein. „Es tut mir leid. Ich kann hier nicht mehr helfen.“
Sally schrie verzweifelt auf, als sie Sir Selwyns Worte hörte. Sie warf sich weinend auf Adrians leblosen Leib und ließ sich nicht mehr beruhigen. Der Tod ihres geliebten Vaters warf ihr ganzes Leben durcheinander und ihre Zukunft war noch ungewisser als zuvor.
Während Sir Selwyn versuchte, Sally zu einem Aufbruch zu bewegen, hockten die beiden angeheuerten Ganoven im Wipfel des Baumes und beobachteten die Szenerie am Unfallort.
„Die Lady wird sich freuen, wenn wir ihr Erfolg vermelden können“, sagte der Eine.
„Natürlich! Sie ist uns noch etwas schuldig“, meinte der andere, dabei die Zähne bleckend. Er wies auf die am Boden sitzende Sally, die sich strikt weigerte, den Leichnam ihres Vaters hier zurück zu lassen.
„Du glaubst doch wohl nicht, Mylady überlässt uns für unseren Spaß ihre Tochter!“
„Stieftochter, mein Lieber, Stieftochter“, wurde er berichtigt. „Die ungeliebte Stieftochter, die nun ganz allein und mittellos ohne Schutz ist. Mylady könnte sie uns, oder besser, einem von uns überlassen. Wir könnten schon eine Frau gebrauchen, nicht nur für den Haushalt, sondern auch für…“, er griff sich in den Schritt und machte somit klar, was er meinte.
„Hör auf mit dem Gespinne“, schimpfte der andere. „Nehmen wir das Geld und verschwinden wir schleunigst von hier. Das Geld wird mehr sein, als wir jemals ausgeben können. Da werden wir uns ab und zu auch eine dralle Hure leisten können, die für ein paar Geldstücke gerne für uns die Beine breit macht.“
„Spielverderber!“, wurde nun geschimpft.
„Besser Spielverderber als mit einem Strick um den Hals am Galgen hängend. Und nun lass uns von hier verschwinden“, sagte der Klügere der beiden und hangelte sich am Baumstamm nach unten.
Endlich hatte sich Sally weitestgehend beruhigt, dass sie in der Lage war, den Abtransport ihres Vaters zu überwachen. Der Wagen, nach dem geschickt wurde, um Adrian abzuholen, traf eben ein. Mit finsteren Minen standen die Teilnehmer der Jagdgesellschaft an einer Seite des Wagens und sahen zu, wie der Leichnam auf die Ladefläche gebettet und für die Abfahrt vorbereitet wurde.
Sally lehnte bleich und immer noch fassungslos an Sir Selwyns Seite und blickte auf ihre Schuhe. Sie wollte es einfach nicht glauben, dass sie das Lachen ihres Vaters nie wieder hören konnte. Wortlos ließ sie sich etwas später auf den Kutschbock helfen, da sie es nicht übers Herz brachte, ihren Vater ganz allein auf dem Wagen liegen zu lassen. Sie wollte ihm nahe sein. Der Rest der Gesellschaft ritt in Kolonne still und in sich gekehrt hinter dem Wagen her. Die Heimkehr von der Jagd hatten sich wohl alle ganz anders vorgestellt. An ein fröhliches Picknick unter den Bäumen des Gartens dachte nun erst recht niemand mehr.