Bleich vor Schreck schaute Sally den Henker an. Wer war derjenige, der so resolut an die Tür des Henkerhauses klopfte und um Einlass begehrte? Was sollte sie nur tun, wenn sie hier entdeckt wurde?
Raimon blieb gelassen. „Schnell, dort hinten“, er zeigte mit dem Finger in die Ecke des Raumes. „Dort ist im Boden eine Luke, die in einen kleinen Keller führt. Dort kannst du dich verstecken. Sabrin, mach alles wieder richtig zu, wenn Sally drin ist.“ Raimon scheuchte die Frauen auf, die sich sofort an der Öffnung zu schaffen machten.
Der Henker währenddessen riss sich das Hemd aus der Hose und brachte seinen Haarschopf durcheinander. Es sollte so aussehen, als wäre er gestört worden.
„Seid ihr fertig?“, wollte er eben fragen, aber da sah er schon, dass Sabrin bereits dabei war, die Luke zu verschließen. Schnell legte er noch ein paar Holzscheite darüber, damit sie nicht sofort zu sehen war.
„Mach dein Mieder auf“, befahl er Sabrin, während er das Holz um stapelte. „Mach schon, überlege nicht so lange“, fuhr er die Frau an. „Ich muss jetzt die Tür aufmachen, ehe sie mir noch eingeschlagen wird.“
Sabrin sah dem Henker kopfschüttelnd nach, tat aber, was er von ihr verlangte. Vorsorglich wuselte sie sich auch noch durch ihre Haare.
„Ja, ja, ich komme schon“, rief Raimon, während der gemächlich zur Tür schlurfte, gegen die erneut gewummert wurde. „Was soll der Lärm?“, schimpfte er mit dem Ruhestörer und riss schwungvoll die Tür auf, gegen die Osbert eben nochmals hämmern wollte. Beinahe wäre er kopfüber ins Haus gestürzt, als sich für ihn unverhofft die Tür öffnete.
„Na endlich! Raimon, es eilt! Du musst dringend ins Hurenhaus kommen“, sprudelte es aus dem Knecht heraus. Als er für diese Tageszeit eigenartige Aufmachung des Henkers sah, verkniff er sich lieber einen Kommentar. Vielleicht hatte er ihn gerade bei etwas ganz bestimmten gestört, dass es so lange gedauert hatte, bis er an die Tür kam. Aber sich darüber aufzuregen, stand Osbert nicht zu. Der Henker war auch nur ein Mann mit Bedürfnissen.
„Hole erst einmal Luft. Sonst erstickst du noch“, erwiderte der Henker. „Was ist geschehen, dass du es so eilig hast?“
Osbert schaffte es endlich, wieder normal zu atmen. „Aelfric“, brachte er nun hervor, „Er wurde niedergestochen. Alles ist voller Blut. Wir müssen uns beeilen, sonst stirbt er.“
„Ich hole nur meine Tasche, dann können wir uns gleich auf den Weg machen“, sagte Raimon und ließ den Knecht stehen. Er ging zurück in die Wohnstube, ohne weiter auf den Mann zu achten.
„Du bleibst am besten hier“, sagte er zu Sabrin, die ihm mit fragenden Augen entgegenblickte. „Sally auch. Hole sie aus dem Versteck, wenn ich weg bin. Macht niemandem die Tür auf“, flüsterte er dem Mädchen zu. „Da draußen ist Osbert, der mich zum Hurenhaus bringen soll. Aelfric soll niedergestochen worden und schwer verletzt sein.“ Raimon nahm seine Instrumententasche und die, in der er immer einige Salbentiegel aufbewahrte. Kurz darauf hörte Sabrin, wie die Haustür geschlossen wurde und die Männer davoneilten.
„Sind sie weg?“, fragte Sally, die zitternd in dem Kellerloch hockte. Sie wagte es kaum, Luft zu holen, als sie hörte, wer nach dem Henker schickte.
„Sie sind weg“, erwiderte Sabrin und befreite die Freundin, die mit wackligen Beinen aus ihrem Versteck kroch. „Die haben Aelfric gefunden“, erklärte sie, während sie Sally zur Sitzbank führte.
Sally wurde noch bleicher als sie es bereits war. Ihre Lippen zitterten und ihre Augen waren vor Schreck geweitet. „Dann werden sie auch mich bald holen“, sagte Sally fast tonlos.
„Sag nicht so was. Es war Notwehr“, versuchte Sabrin sie zu trösten.
„Aber ich habe ihn einfach abgestochen“, entgegnete Sally verzweifelt.
„Na und. Er hat es verdient, das Schwein“, sagte Sabrin daraufhin und funkelte ihre Freundin zornig an, die sich nun Vorhaltungen machte, jemanden das Leben genommen zu haben. „Sie werden dich nicht finden. Bei Raimon bist du sicher.“
„Dein Wort in Gottes Ohr“, erwiderte Sally. Haareraufend starrte sie Sabrin an und hoffte, ihre Freundin möge recht behalten.
„Was ist passiert?“, wollte Raimon wissen, während er mit Osbert zum Hurenhaus hetzte.
„Aelfric wurde nieder gestochen“, berichtete sein Begleiter aufgeregt schnaufend. „Überall ist Blut, vor seinem Mund sogar Schaum.“
„Hm, schauen wir mal“, knurrte Raimon. Dass er noch etwas ausrichten konnte und Aelfric am Leben bleiben würde, bezweifelte er. Er stürmte voran, dass Osbert Mühe hatte, ihm zu folgen.
„Endlich bist du da!“, rief Rodney erleichtert, als er Raimon und Osbert die Tür öffnete. „Schnell, dort hinten liegt er.“ Er lief dem Henker voraus.
Als Raimon in die Kammer kam, sah er sofort, dass jede Hilfe zu spät kam. Er hatte es bereits befürchtet, doch nun hatte er Gewissheit. Aelfric lag bewegungslos in einer riesigen Blutlache. Den Kopf auf die Seite gedreht, starrte er mit gebrochenen Augen ins Leere.
Raimon trat ans Bett und drehte den Toten auf den Rücken. Jetzt erst sah er das Ausmaß an Verletzungen, denen der Hurenwirt erlegen war. In Aelfrics Bauch klafften mehrere tiefe Wunden. Auch sein Oberkörper wies einige Stichwunden auf.
„Da ist nichts mehr zu machen“, sagte Raimon nach einer Weile. „Der ist mausetot.“
Edwina, die wie erstarrt am Fenster stand, stieß einen entsetzten Schrei aus. „Oh mein Gott, oh mein Gott“, jaulte sie immer wieder.
„Das war diese Sally, diese neue Hure, die Aelfric angeschleppt hat“, knurrte Rodney. „Von Anfang an hat die Probleme gemacht und sich ständig mit ihm gestritten. Ich habe sie sogar wieder einfangen müssen, als Aelfric sie gekauft hat.“ Er drängte Osbert, der die Tür versperrte, zur Seite. „Diese Hure hat ihn einfach abgeschlachtet wie ein Schwein. Ich wusste es, dass es mit der immer wieder Ärger geben wird.“
„Ich wäre vorsichtig mit solchen Verleumdungen“, warf Raimon ein. Er wurde jedoch nicht wahrgenommen.
„Ja, Sally war das. Sie war zuletzt bei Aelfric“, gab nun Edwina Rodney recht, „Wo ist sie überhaupt? Sie war doch vorhin noch im Haus.“
„Die ist Freier suchen“, gab Rodney zum Besten. „Das hat sie vorhin gesagt, als ich sie im Flur gesehen habe. Das ist aber schon eine Weile her.“ Rodney hielt inne und schaute, als ob ihm eben etwas eingefallen wäre. „Sie hatte Sabrins Kleid an, sehr eigenartig“, sagte er dann.
„Warum das?“, fragte Edwina, die mal wieder gar nichts verstand.
„Woher soll ich das wissen?“, fuhr Aelfrics Handlanger die Alte an.
„Ganz einfach“, mischte sich nun auch Osbert ein. „Entweder ist ihr eigenes Kleid zerrissen oder aber…“, er zeigte auf Aelfrics blutüberströmte Leiche, „es ist voller Blut. Wenn Sally Aelfric wirklich abgemurkst hat, müsste sie, oder wenigstens ihr Kleid voller Blut sein.“
Edwina drängelte sich vorbei und ging hinaus. Nach einer Weile kam sie zurück. „Sallys Kleid liegt in der Waschküche, es ist voller Blut“, berichtete sie.
„Dann ist es ja eindeutig“, meinte Osbert und schüttelte mit dem Kopf.
Für Raimon war Osberts Schlussfolgerung richtig. Edwinas Entdeckung deckte sich mit dem, was er hier vorfand. Dass er von Sally bereits erfahren hatte, was hier wirklich geschehen war, ließ er sich lieber nicht anmerken. Er kannte Rodney gut genug, um zu wissen, dass das Mädchen nicht mehr lange zu leben hatte, bekäme er sie in die Hände.
„Ist nun auch einerlei. Tot ist tot“, sagte Raimon kaltschnäuzig, nachdem sich die Gemüter einigermaßen beruhigt hatten. „Ich werde jetzt notdürftig die Wunden verschließen, damit es nicht zu sehr auffällt und der Leichengräber Lunte riecht.“ Raimon machte sich sofort an die Arbeit, die anderen standen nur schweigend dabei und sahen ihm zu.
„Beerdigt ihn“, bestimmte Raimon, nachdem er mit Aelfric fertig war. „Ich gehe auf dem Heimweg beim Leichengräber vorbei und sage ihm, dass hier Arbeit auf ihn wartet. Seht inzwischen zu, dass ihr den Toten wascht und frisch kleidet.“
„Und was wird mit der Hure?“, knurrte Rodney. „Wenn ich die in die Finger kriege, dann…“ Er machte mit den Händen eine Bewegung, die wie Hals umdrehen aussah.
„Du wirst gefälligst deine Hände von ihr lassen“, fuhr Raimon Rodney an. „Ich kümmere mich selber drum. Ich werde das Mädchen schon finden und ihrer gerechten Strafe zuführen.“ Er wandte sich ab, doch Rodney murrte nur. „Hast du mich verstanden?“, fuhr Raimon ihn daraufhin nochmals an, worauf Rodney nur ergeben nickte. „Ich bin als Henker auch für die Hurenhäuser verantwortlich. Nach Aelfrics Tod untersteht ihr und die Dirnen mir, bis ein Nachfolger gefunden ist. Und nun macht euch an die Arbeit!“ Dann verließ Raimon den Ort des Verbrechens.
Auf dem Rückweg ins Henkerhaus musste Raimon an Sally denken. Dass sie Aelfric auf dem Gewissen hatte, konnte er beinahe nicht glauben. Bei den wenigen Malen, die er sie gesehen hatte, machte sie einen ganz anderen, eher ruhigeren Eindruck auf ihn.
Sally und Sabrin saßen in der Henkerstube und beratschlagten sich. Als sie die Tür hörten, sahen sie sich erschrocken an. Hatten sie ein Klopfen überhört? Oder hatte sich jemand unberechtigterweise Zutritt verschafft. Gerade wollten sie aufspringen, damit sich Sally erneut im Kellerloch verstecken konnte, als Raimon hereinkam.
„Hast du uns zu Tode erschreckt!“, stieß Sabrin erleichtert aus, als sie den Henker erkannte.
„Ein Toter reicht mir heute“, erwiderte Raimon und stellte seine Taschen in die Ecke. „Du hast ganze Arbeit geleistet“, sagte er zu Sally und setzte sich zu den Frauen an den Tisch.
„Also ist er wirklich tot“, fragte Sally ängstlich. Sie hatte bis eben gehofft, Aelfric hat überlebt. Dich nun war ihre letzte Hoffnung verpufft.
„Mausetot. Toter geht es nicht“, erwiderte Raimon.
„Bringt Ihr… bringst du mich nun an den Galgen?“ Sallys Gesicht wurde erneut bleich. Ängstlich schaute sie den Henker an.
„Wo denkst du hin, Kleines?“, erwiderte Raimon. „Wärst du mir nicht zuvorgekommen, hätte ich ihm früher oder später die Schlinge um den Hals legen müssen. Die Obrigkeit hatte ihn schon längere Zeit auf dem Kieker. Irgendwas muss da noch im Busch gewesen sein mit Schmuggel und Weinpanscherei. Mehr weiß ich nicht.“
Sabrin war entsetzt. „Erst Frauenhandel, dann Notzucht, nun auch noch Schmuggel und Weinpanscherei. Was kommt da noch?“ Sie sah zu Sally. „Siehst du, du könntest nicht die Einzige gewesen sein, die diesem Arschloch ans Leder wollten.“
„Trotzdem“, sagte Sally. „Ich kann unmöglich zurück.“
„Du bleibst erst einmal hier“, bestimmte Raimon. „Hier bist du sicher und suchen wird dich hier garantiert auch niemand. Wer würde schon auf die Idee kommen, eine Flüchtige gerade beim Henker zu vermuten.“ Raimon grinste schelmisch über das ganze Gesicht.
„Ich kann dir doch nicht ewig auf der Tasche liegen“, wollte Sally abwehren. „Ich muss bald von hier verschwinden. Wenn ich nur wüsste, wohin.“ Das Mädchen schaute traurig.
„Wir werden schon eine Lösung finden. Bis dahin ist Gras über die Sache gewachsen“, erwiderte Raimon und griff über den Tisch hinweg nach Sallys Händen. Die waren eiskalt. „Doch vorerst bist du hier am sichersten.“
„Raimon hat recht“, stimmte auch Sabrin seinen Worten zu. „Du kannst immer noch weg von hier. Vor Raimon musst du dich nicht ängstigen. Auch wenn er der Henker ist, er ist ein herzensguter Mensch.“ Sabrin lächelte Raimon an, der nur abwinkte.
„So, genug geschwatzt“, unterbrach er Sabrins Redefluss. Eben wollte diese weiter auf die Freundin einreden. „Du gehst jetzt zurück ins Hurenhaus und siehst dich dort unbemerkt um.“ Raimon ging zum Fenster und tat so, als wolle er nach dem Wetter schauen. „Lass dir aber nichts anmerken“, riet er Sabrin. „Tu so, als würdest du eben erst von Aelfrics Tod erfahren und bist nun wahnsinnig entsetzt darüber.“ Er blickte das Mädchen an, das zustimmend nickte. „Hier, da hast du noch ein paar Pennies. Du warst für die anderen bei einem Freier. Das Geld kannst du behalten.“
„Alles verstanden, danke schön“, erwiderte Sabrin und steckte die Münzen in ihre Rocktasche. „Ich gehe dann mal“, sagte sie, nachdem sie ihre Freundin noch einmal fest umarmt hatte und verließ das Henkerhaus.
„Was mache ich jetzt mit dir?“, wandte sich Raimon an Sally, die wie ein Häufchen Unglück am Tisch saß. Sie drehte ihren Becher in den Händen und starrte ihn gedankenverloren an.
„Ich kann nicht hierbleiben“, stieß sie nach einer Weile aus.
„Doch, das kannst du“, widersprach der Henker. „Spätestens, wenn nach dir gesucht wird, bist du in der Stadt nicht mehr sicher. Doch auch jetzt bin ich um deine Sicherheit besorgt. Rodney und seine Kumpane werden garantiert nach dir suchen.“
„Denen möchte ich wahrlich nicht begegnen.“ Sally erbleichte. „Denkst du, dass die mich an die Obrigkeit melden?“, fragte sie noch.
„Das glaube ich eher nicht. Wie ich schon sagte, Aelfric war dort nicht beliebt, Rodney allerdings auch nicht. Die werden froh sein, dass jemand für sie die Drecksarbeit übernommen hat. Solche undurchsichtigen Gestalten wie Aelfric sind nicht sonderlich beliebt. Meist auch nicht unter ihresgleichen. Ihn könnte sonst wer umgebracht haben. Feinde hatte er mehr als genug. Einer oder mehrere von denen könnten nun ja zugeschlagen und ihn aus dem Weg geräumt haben.“
Raimon stand auf und ging zur Feuerstelle. Inzwischen war die Glut fast erloschen, doch der Eintopf, der immer noch darüber hing, war noch warm.
„Hast du Hunger?“, fragte er Sally, um sie ein wenig abzulenken.
„Nein“, entgegnete sie und schüttelte den Kopf. „Ich werde wohl keinen einzigen Bissen hinunter bekommen.“
„Ach was“, sagte Raimon und nahm eine der Schüsseln, die auf dem Bord standen. Er füllte sie mit dem Eintopf und stellte sie vor Sally auf den Tisch. Dann nahm er noch eine für sich und zwei Löffel. Als er sich setzte, reichte er Sally einen davon. „Der Appetit komm beim Essen“, sagte er und lächelte ihr aufmunternd zu.
Nur widerwillig nahm Sally den Löffel und tauchte ihn in die Suppe. Augenblicklich stieg ihr der köstliche Duft von Kräutern und Gewürzen in die Nase. Sehr zu ihrem Unwillen knurrte ihr nun doch noch der Magen. Das auch noch so laut, dass Raimon es hören konnte.
„Dachte ich es mir doch“, meinte er daraufhin grinsend zu Sally. Er nahm seinen Löffel und begann zu essen. „Greif ordentlich zu. Es ist genügend da“, forderte er Sally nochmals auf.
Nachdem Sally den ersten Löffel voll Eintopf zu sich genommen hatte, begann sie schneller zu löffeln. Erst jetzt bemerkte sie, wie hungrig sie wirklich war. Die letzte Mahlzeit hatte sie am Morgen eingenommen, die nur aus einer dünnen Milchsuppe und ein wenig Brot bestand.
„Wie köstlich“, murmelte das Mädchen. Dankbar sah sie den Henker an. „Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal solch einen schmackhaften Eintopf gegessen habe.“
„Du wirst bestimmt delikatere Speisen gewohnt sein“, erwiderte Raimon, „Erzähle mir ein wenig von dir“, forderte er sie dann auf. „Ich möchte wenigstens wissen, mit wem ich nun unter einem Dach lebe.“ Er sah sie lächelnd an. In seinem Gesicht spiegelte sich die Liebe zu den Menschen ab, vor allem zu denjenigen, die unverschuldet in Not geraten waren. So wie Sally. „Ich mag zwar der Henker sein“, erklärte er ihr, „aber ich bin bei weitem nicht so grausam, wie mancher annehmen mag. Den Beruf des Henkers übe ich nur aus, weil er eben auch gemacht werden muss. Davon lebe ich halt, wie andere von ihrem Handwerk.“
Sally sah Raimon an, wie schwer es ihm fiel, über sich zu sprechen. Sie griff über den Tisch hinweg nach seinen Händen. „Das glaube ich dir gerne“, sagte sie zu ihm und begann nun selbst über sich zu sprechen.
Sie begann in ihrer Kindheit, die sie bei ihrem Vater verbracht hatte. An die Zeit, die sie bei ihrer Mutter lebte, erinnerte sie sich nicht. „Ich war viel zu klein, um mich an meine Mutter erinnern zu können. Alles, was ich über sie weiß, hat mir mein Vater erst vor Kurzem erzählt.“ Sally wurde traurig, als sie an ihren Vater denken musste.
„Was ist mit deinem Vater? Du schaust so traurig, wenn du von ihm sprichst“, fragte Raimon.
„Er ist an meinem Geburtstag bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen. Wir glauben aber nicht, dass es ein Unfall gewesen ist. Unter Verdacht steht meine Stiefmutter. Sie muss ihre Hände im Spiel gehabt haben. Sie muss es auch gewesen sein, die mich hat entführen lassen, um Vaters Erbe für sich ganz allein zu haben.“
„Also kannst du auch nicht zu ihr zurück“, schlussfolgerte Raimon.
„Auf keinen Fall“, erwiderte Sally. „Zu meinen Freunden aber auch nicht.“ In ihren Augen schimmerten Tränen, als sie an die lieben Freunde denken musste, die ihr in der schweren Zeit nach dem Tod ihres Vaters beigestanden hatten.
„Warum nicht?“, wollte Raimon wissen. „Du kannst doch nichts dafür, dass du als Dirne arbeiten musstest. Du wurdest dazu gezwungen.“
„Nein, niemals“, wehrte Sally ab. „Ich könnte ihnen vor Scham nicht mehr in die Augen blicken.“
„Was willst du nun tun?“
„Darf ich vorerst hierbleiben?“, fragte Sally voller Hoffnung.
Raimon nickte darauf nur zustimmend. Jetzt hatte er das Mädchen so weit, ihm zu vertrauen und freiwillig bei ihm zu bleiben. Solange sie hier war, konnte er für ihre Sicherheit sorgen. Was später kommen sollte, würde sich zeigen.