Sally und Raimon erreichten Exmouth ohne weitere Zwischenfälle und Katastrophen. Die Kinder genossen die Fahrt. Neugierig schauten sie sich um und sogen jedes Detail der Reise in sich auf wie ein trockener Schwamm. Es war das erste Mal, dass sie sich außerhalb von Dover aufhielten. Weiter als bis zur Stadtmauer waren sie in ihrem jungen Leben noch nicht gekommen. So war die Fahrt zu ihrem neuen Zuhause für sie wie ein großes Abenteuer.
Als sie in Exmouth ankamen, lag das Haus des Henkers verlassen da. Raimon aber erkannte sofort, dass sich jemand unberechtigt Zutritt verschafft hatte. Die hintere Tür war nur angelehnt. Dabei war er sich sicher, diese fest verschlossen zu haben. Kaum ein Möbelstück stand an seinem Platz, die Strohsäcke in den Betten waren aufgeschlitzt. Es herrschte Chaos. Sogar das Henkersschwert war aus seiner Halterung genommen worden und seine Kiste mit den Folterinstrumenten durchwühlt.
„Das waren bestimmt Rodney und seine Konsorten“, sagte Sally, nachdem sie sich eine Übersicht über die Schäden verschafft hatten. Kopfschüttelnd ging sie durch das Haus und regte sich über so viel Zerstörungswut auf. Sie konnte es nicht verstehen, warum manche Menschen sich so zügellos benehmen konnten.
„Das glaube ich auch“, erwiderte Raimon, der neben Sally stand und versuchte, sie einigermaßen zu beruhigen. „Wer sonst sollte sich hier unberechtigterweise Zutritt verschafft haben. Nur Rodney würde so etwas wagen. Normale Einbrecher getrauen es sich nicht, das Haus zu betreten.“ Der Henker grinste, als er sich daran erinnerte, wie er einen Ganoven dabei ertappte, der sich an seinen Vorräten gütlich tat. Wie grau war der Mann im Gesicht geworden, nachdem er erkannt hatte, wer der rechtmäßige Bewohner des Hauses war. So schnell hatte Raimon lange Zeit niemanden rennen sehen.
Nachdem der Scharfrichter mit Sallys Hilfe den Karren abgeladen und das Pferd versorgt hatte, nahm er sich Zeit für die Kinder. Sally währenddessen blieb im Haus, um das Abendessen zuzubereiten. Um die Unordnung im Haus wollte sie sich später kümmern. Das konnte warten. Während die Brühe kochte, richtete sie nur die Kammern im oberen Stockwerk, damit sie für die Nacht genug Platz zum Schlafen hatten.
Faylynn und Travis waren bereits dabei, Haus, Hof und Garten zu erkunden. Nur Barnet war nirgends zu entdecken. Raimon jedoch machte sich keine Gedanken. Er hatte den Jungen als zuverlässigen Burschen kennengelernt. Wahrscheinlich war er im Stall beim Pferd. Auf der Fahrt nach Exmouth war es Raimon aufgefallen, dass Barnet gerne mit dem Tier umging und es fürsorglich behandelte.
Die neue Umgebung reizte die beiden zurück gebliebenen Kinder, jede noch so kleine Ecke zu erforschen. Aufgeregt plapperten sie durcheinander, als sie den verlassenen Hühnerstall entdeckten.
„Onkel Raimon“, plärrte Faylynn dem Henker entgegen, der eben aus dem Haus kam. „Dürfen wir Hühner halten? Bitte! Wir kümmern uns auch jeden Tag um die Tiere.“ Während sie auf Raimon einredete, schaute sie ihren Onkel mit ihren großen Kinderaugen an, dass er dahin schmolz wie Wachs in der prallen Sonne. Konnte man solchen Augen etwas abschlagen? Raimon konnte es nicht.
„Gleich morgen gehen wir auf den Markt und kaufen kleine Hühnchen für dich“, sagte Raimon zu dem Mädchen, das wie eine Klette an seinem Hosenbein hing. Er nahm sie hoch und drückte sie liebevoll an sich.
„Wirklich?“ Faylynn warf sich an Raimons Hals und gab ihm dutzende Küsschen auf die Wange. Schon bald klebte seine Wange wie der mit Honig verschmierte Mund der Kleinen. Der Scharfrichter konnte sich des Angriffs gar nicht erwehren. Lachend schwenkte er das Mädchen hin und her, dass es vor Übermut laut kreischte.
„Onkel Raimon, schau mal, was ich gefunden habe. Ist das deins?“, hörte der Henker plötzlich Barnet rufen. Er setzte Faylynn ab und wandte sich dem Jungen zu. Erschrocken riss er die Augen auf. Barnet stand an der Hintertür, Raimons riesiges Richtschwert in den Händen haltend. Der Junge musste unbändige Kräfte aufwenden, um es einigermaßen halten zu können.
Raimon rannte zu Barnet und nahm ihm das Schwert aus der Hand. Gerade noch konnte er verhindern, dass sich das Kind verletzte. „Wo hast du das her?“, herrschte er den Jungen schroffer als gewollt an.
Sofort verzog sich das Gesicht des Jungen zu einer erschrockenen Grimasse. Dicke Tränen rannen über sein Gesicht. Er verstand die Reaktion seines Onkels nicht. „Das stand in der guten Stube in der Ecke“, jammerte Barnet herzerweichend. „Ich dachte…, ich könnte…“
„Schon gut“, tröstete Raimon seinen Neffen. „Aber so ein Schwert ist nichts für Jungen wie dich. Du bist noch viel zu klein. Es ist viel zu schwer für dich, außerdem hättest dich arg verletzen können. Versprich mir, ab sofort die Finger davon zu lassen.“ Er beugte sich hinunter und strich Barnet übers Haar. „Die Klinge ist sehr scharf und gefährlich“, erklärte er ihm. Barnet nickte unter Tränen.
„Aber du benutzt es doch auch“, wusste der Junge besser Bescheid, als Raimon angenommen hatte. „Mein Vater sagte mir, dass ich bald zu dir in die Lehre gehen und dabei auch dein Schwert benutzen könne.“
„Ja, das stimmt. Da hatte dein Vater recht“, gab Raimon zu. „Aber noch nicht heute. Du bist doch erst acht Jahre alt und musst noch ein wenig wachsen und kräftiger werden.“
Barnet nickte erneut. Aber dann fragte er, was sein Onkel mit diesem Schwert täte. Neugierig blickte er ihm entgegen und erwartete eine Antwort.
„Er schlägt den Leuten damit den Kopf ab“, mischte sich nun auch Travis ein, der hinzugekommen war und dem Gespräch lauschte.
„Wer sagt das?“, fragte Raimon.
„Vater hat das behauptet, als er uns erzählte, er hätte dir geschrieben, damit du uns in Dover besuchst“, meinte Travis darauf. „Ich kann das aber nicht glauben. Man schlägt doch nicht einfach anderen Leuten den Kopf ab!“
„Oh je, was hat dir dein Vater nur für schreckliche Dinge erzählt“, sagte Raimon entsetzt. „Es ist schon so, dass ich ab und an Menschen töten muss, weil es die Obrigkeit für richtig sieht, es zu tun. Aber das ist kein Thema für jetzt. Später werde ich es euch erklären, versprochen! Wir sind gerade erst angekommen und sind alle sehr erschöpft von der Reise. Hungrig seid ihr bestimmt auch. Tante Sally macht garantiert schon etwas zu essen für uns.“
„Mir knurrt wirklich der Magen ganz dolle“, erwiderte Barnet, der sich bereits ein wenig beruhigt hatte. „Mir auch“, krähte Faylynn ebenfalls und hing schon wieder an Raimons Hosenbein. „Onkel, Hunger“, plärrte die Kleine wie ein Wasserfall. Zu Raimons Glück war das leidige Thema Richtschwert und Töten von Menschen erst einmal ad acta gelegt.
Aus der Küche roch es bereits verführerisch. Sally hatte die Fleischknochen ausgekocht. In der Brühe schwammen Stücke von Steckrüben. Ein paar Kräuter, die sie in den letzten Monaten gesammelt und getrocknet hatten, verfeinerten das einfache Mahl. „Kommt essen“, rief sie die anderen herbei.
Raimon kam mit den Kindern im Schlepptau in die Küche. Sally stand am Herd und rührte noch ein wenig in dem großen Topf, der über dem Feuer hing. Die Kinder setzten sich an den Tisch und warteten geduldig, während Raimon für alle Schüsseln vom Bord holte und Löffel daneben legte.
„Geht erst einmal eure Hände waschen, ehe ihr euch an den Tisch setzt“, sagte Sally zu den Kindern.
„Aber die sind doch sauber“, murrte Travis und begutachtete seine schmutzigen Hände.
„Geht bitte und wascht euch. Tante Sally mag es nicht, wenn man ungewaschen bei Tisch sitzt“, sagte Raimon darauf. Die Kinder gehorchten nun ohne Widerworte. Lärmend rannten sie hinaus und schon bald konnten die beiden Zurückgebliebenen hören, wie der Schwengel am Brunnen quietschte.
„Wird es dir zu viel mit den Kleinen?“, fragte Raimon Sally.
„Das wird schon noch“, erwiderte sie. „Ich muss mich halt noch daran gewöhnen, drei weitere Personen versorgen zu müssen. Außerdem kann ich dabei gleich für unsere gemeinsamen Kinder üben.“ Sie grinste Raimon schelmisch an.
„So ist das also! Du willst gleich einige eigene Bälger haben?“, wollte Raimon scheinheilig wissen. Er hielt inne und stutzte. „Oder? Sag! Bist du…?“
Sally lachte. „Ich weiß es nicht. Meine unreine Zeit müsste nächste Woche sein“, sagte sie. „Vielleicht haben wir Glück.“
„Das wäre schön. Ich möchte so gerne noch einmal Vater werden“, erwiderte Raimon. „Du wirst eine wundervolle Mutter sein.“ Verliebt sah er Sally mit Tränen in den Augen an.
„Tante Sally bekommt ein Kind?“
Erschrocken drehte sich Sally um. Sie hatten gar nicht wahrgenommen, dass die Kinder zurück in die Küche gekommen waren. Nun sahen sie in drei entsetzte Gesichter.
„Müssen wir zurück ins Waisenhaus, wenn Tante Sally ein Kind bekommt?“, presste Travis hervor.
Mit wenigen Schritten gingen Sally und Raimon zu den Kindern. „Aber wer sagt denn so etwas?“, fragte Sally verstört.
„Die Mary hat das gesagt“, erwiderte Travis.
„Wer ist Mary und warum sagte sie so etwas zu euch?“, wollte Raimon wissen, der sich immer noch nicht vorstellen konnte, warum die Kinder so etwas annahmen.
„Mary war wie wir in Dover im Waisenhaus. Ihre Eltern waren gestorben und ihre kinderlose Tante wollte sie nicht bei sich aufnehmen. Erst nachdem deren Ehemann gestorben und sie nun ganz alleine war, nahm sie Mary bei sich auf. Aber das Glück dauerte nicht lange. Die Tante heiratete erneut und bekam mit ihrem neuen Gatten Kinder. Da war Mary nun im Weg und musste zurück ins Waisenhaus. Die Tante hätte gesagt, sie wäre ein unnützer Fresser.“
Sally und Raimon waren geschockt. Wie konnte man nur so kaltherzig sein? „Wir versprechen euch, ihr müsst nie wieder ins Waisenhaus. Wir lieben euch, das brächten wir nicht übers Herz, euch wieder wegzugeben“, sagte Sally und zog die Kinder in ihre Arme. Die Drei schmiegten sich vertrauensvoll an sie.
Raimon lächelte ihnen aufmunternd zu. „Wie könnten wir euch jemals weggeben? Ihr seid unsere letzten lebenden Verwandten und ihr gehört zu uns“, sagte nun auch er zu den Kindern, die schniefend ihre Nasen an Sallys Schürze schnäuzten.
„Habt ihr keine Taschentücher?“, fragte Sally daraufhin lachend und gab ihnen einen spielerischen Klaps auf den Hintern.
„Dafür gibt es doch deine Schürze“, erwiderte Barnet schelmisch und lachte laut. Sein Lachen steckte alle anderen an. Als er sich erneut die Nase an Sallys Schürze abwischte und dabei übertrieben laut trompetete, hatte Sally den Spott auf ihrer Seite.
„Jetzt aber gut“, wehrte sie den Jungen ab und schob ihn in Richtung Tisch. „Oder willst du nichts essen? Auch gut, da habe ich mehr für mich.“ Sally grinste.
„Doch, doch“, erwiderte Barnet und setzte sich unverzüglich neben seine Geschwister, die bereits Platz genommen hatten. Sie staunten, da jeder eine eigene Schüssel bekam.
„Bei unserer Mutter gab es das nicht“, erzählte Travis. „Da haben wir immer aus einem Topf gegessen.“
„Das sind aber keine guten Sitten“, erklärte Raimon. „Fragt Sally, sie muss es wissen.“ Dann erzählte er kurz, woher Sally kam und wer sie war. Die Kinder staunten nur, dass ihr Onkel eine adlige Dame an seiner Seite hatte. Aber dann besannen sie sich wieder auf das Essen. Immerhin knurrte ihnen der Magen.
„Mutter war es egal“, erzählte Travis weiter. „Wir waren oft froh, wenn wir überhaupt etwas zu essen bekamen. Oft genug mussten wir hungrig ins Bett gehen. Vater zog es vor, sich in seiner Werkstatt zu verschanzen, wenn Mutter beim Knecht lag und sich nicht um uns und den Haushalt kümmerte.“
„Ja, so war es!“, bestätigten Barnet und die kleine Faylynn.
Raimon und Sally sahen sich erstaunt an. „Dass es so schlimm war, wusste ich nicht“, sagte Raimon zu ihr. Er musste sich räuspern, so fest saß der Kloß in seinem Hals fest. „Warum hat euer Vater sich nicht eher an mich gewandt? Ich hätte doch eingreifen können.“
Travis überlegte kurz, dann begann er: „Vater schämte sich sehr. Er wollte nicht zugeben, dass er nicht der Herr im Haus war, sondern Mutter. Onkel Raimon, ich bin alt genug, um zu verstehen, was Mutter getan hat. Sie lag lieber beim Knecht anstatt bei Vater. Fast jede Nacht habe ich die beiden gehört. Die Leute redeten bereits über das schamlose Treiben in unserem Haus.“
„Es ist schlimm, das hören zu müssen“, sagte Raimon. „Ich, nein wir“, er griff über den Tisch hinweg nach Sallys Händen. „Wir hoffen sehr, dass ihr euch bei uns gut einlebt und es euch gefällt, hier zu sein. Wir können eure Eltern nicht ersetzen, aber wir tun unser Bestes, dass es euch gut geht.“
Sechs Kinderaugen strahlten ihn an und Sally weinte. „Nicht weinen, Liebes“, sagte Raimon zu ihr und küsste liebevoll ihre Fingerspitzen.
Die junge, zusammengefundene Familie saß an diesem Abend nicht mehr lange am Tisch. Die Kinder waren todmüde. Faylynn und Barnet waren bereits im Sitzen eingeschlafen. Sally und Raimon trugen die beiden nach oben in die Schlafkammer. Travis torkelte hinterher. Auch er hatte Mühe, die Augen offen zu halten und den anderen zu folgen. Während Sally die Kinder zudeckte, hatte sich der Älteste schon zusammengerollt und war eingeschlafen.
Raimon stand noch lange in der Tür und beobachtete, wie die Kinder schliefen. Sally hatte sich schon zurückgezogen und wartete im Bett auf ihn. Sie war fast eingeschlummert als Raimon zu ihr kam und sich neben sie legte. Er zog Sally in seine Arme und küsste zärtlich ihre Stirn.
„Wir sollten so bald wie möglich heiraten“, sagte er leise.
Sally lächelte. „Nichts lieber als das“, antwortete sie. „Ich will ja nicht ewig in Sünde leben.“ Einige Zeit sah es so aus, als wäre sie eingeschlafen. Aber dann kuschelte sie sich noch näher an Raimon heran. „Schlaf gut“, nuschelte sie nur noch, dann war es gänzlich still und sie eingeschlafen. Nur Raimon lag noch lange wach und dachte nach.
„Was ist eigentlich mit Rodney und Konsorten?“, fragte Sally am nächsten Morgen, als sie beim Morgenmahl zusammen in der Küche saßen.
Raimon winkte ab. „Das kann warten. Erst heiraten wir, das ist wichtiger.“
Jubelschreie von Seiten der Kinder erscholl. „Da haben wir ja bald richtige Eltern“, freuten sie sich und tanzten ausgelassen wie kleine Kobolde um den Tisch herum.
„Gleich nachher gehen wir zum Priester“, sagte Raimon. „Je eher, desto besser für uns.“ Sally war damit einverstanden.
„Dürfen wir mit?“, fragte Barnet, der sich als Sprecher der Kinder herauskristallisiert hatte.
„Wir gehen natürlich alle gemeinsam“, erwiderte Sally, die sich bereits für den Gang zum Priester zurecht machte. Sie wäre zwar gerne mit Raimon allein gegangen, aber den Kindern konnte sie einfach nichts abschlagen. Sie gehörten nun genau so zu ihrem Leben wie der Henker. Schon immer hatte sich Sally eine große Familie gewünscht. Nun hatte sie eine!