Sally dachte, sie hört nicht richtig. Raimon wollte ihre Stiefmutter einer Straftat überführen. Nahm er womöglich an, sie wäre für den Tod ihres Vaters verantwortlich? Oder auch für ihre Entführung? Obwohl sie es Lilith zumutete, glaubte sie nicht, dass sie ihre Hände im Spiel hatte.
„Ach, Sally, sei nicht so blauäugig“, sagte der Henker auf ihre nochmalige Nachfrage. „Alles, was du mir bisher über Lilith erzählt hast, lässt mich sie als Grund allen Übels erkennen. Natürlich werde ich noch Befragungen durchführen, ehe ich mir ein endgültiges Urteil bilde.“
„Meinst du, das klappt?“, wollte Sally wissen.
„Natürlich“, erwiderte Raimon. „Solche Untaten kann man nicht ungestraft lassen. Aber vorher erledigen wir hier unsere Angelegenheiten. Danach heiraten wir und erst dann kümmern wir uns um Lilith. Einverstanden?“
„Alles, was du willst! Ich richte mich nach dir.“
„Liebes, sprich bitte nie wieder so! Wir werden gleichberechtigte Partner sein. Du wirst genau so ein Mitspracherecht haben wie ich. So haben mich meine Großeltern erzogen. Genau dies werde ich an dich und unsere Kinder weitergeben.“
Sally konnte nur erstaunt schauen. Seit wann waren Mann und Frau gleichberechtigt? Das hatte sie noch nie gehört. In ihrer Familie hatte immer nur ihre Stiefmutter das Sagen. Ihr Vater konnte sich nie gegen sie behaupten. Dabei wäre Adrian das Familienoberhaupt, nach dem sich alle zu richten und ihm zu gehorchen hätten. Exakt das hatte sie Raimon bereits erzählt.
„Lassen wir dieses Thema vorerst. Delmore und die Kinder sind erst einmal wichtiger“, sagte Raimon. „Es macht mich schon stutzig, dass hier noch niemand nach Hause gekommen ist. Delmore legte immer viel Wert darauf, gegen Mittag zu Hause zu sein. Er hatte auch stets seine Frau angewiesen, rechtzeitig das Mittagsmahl bereit zu haben. Ich denke, das hat er beibehalten, um den Kindern die Trennung von ihrer Mutter zu erleichtern. Er schrieb mir auch etwas von einer Frau, die täglich ins Haus kam und Essen für die Familie kochte. Die ist eigenartigerweise bisher auch noch nicht aufgetaucht.“
Raimon stand auf und lief mit großen Schritten hin und her. „Ich verstehe es nicht“, murmelte er dabei. Am Fenster blieb er stehen und schaute hinaus. Suchend blickte er die Gasse hinauf und hinab.
Plötzlich fiel Sally ein, dass sie, als Raimon auf dem Markt Einkäufe tätigte, in der Werkstatt gewesen war. „Du sagtest doch, dein Bruder wäre Schustermeister“, begann sie, als der Henker sich vom Fenster zurückzog und es schloss. „Ich war vorhin in seiner Werkstatt.“
„Was wolltest du dort? Delmore mag es nicht, wenn jemand unerlaubt sein Heiligtum betritt.“
„Mir fiel eine Tür auf, die wir übersehen hatten, als wir nach deiner Familie suchten. Ich war neugierig und öffnete sie. Plötzlich stand ich in der Werkstatt deines Bruders“, sprach Sally weiter. „Man könnte sie wirklich als Heiligtum bezeichnen. Sie ist penibel genau aufgeräumt. Alle Werkzeuge liegen in Reih und Glied. Nur eins finde ich sehr seltsam.“
„Sag schon! Was daran ist so seltsam, dass es dir aufgefallen ist?“, forderte Raimon sie auf, weiter zu sprechen.
„Es ist eigenartig, dass überall fast eine zentimeterdicke Staubschicht auf Werkzeug, ja sogar auf der Werkbank und allem anderen im Raum, liegt. Genau so war es hier unten. Nur oben war es nicht so schlimm wie hier. Mir kam es beinahe vor, als wäre das Haus bereits über längere Zeit unbewohnt. Wäre es anders, hätte ich Spuren gefunden, von Händen oder Füßen. Aber hier war gar nichts.“
„Das ist wahrlich sehr merkwürdig“, sagte Raimon und stürmte wortlos hinaus, um sich in der Werkstatt umzuschauen. Sally eilte hinterher.
Raimon riss fast die Tür aus den Angeln, so sehr zerrte er am Riegel. Krachend gab diese nach und gab den Eingang frei. Drinnen schaute er sich um und sah genau das, was Sally eben beschrieben hatte. Werkzeuge ordentlich in Reih und Glied, aber alles mit einer dicken Staubschicht bedeckt. „Sehr, sehr merkwürdig“, murmelte er immer wieder kopfschüttelnd. „Was mag hier nur geschehen sein? Ich sehe es auch so. Auf jeden Fall war hier wohl wirklich schon lange Zeit niemand mehr.“ Er nickte Sally zu. „Ich denke, du hast recht“, sagte er zu ihr. Mit hängenden Schultern schlurfte er dann wortlos hinaus, zurück in die Küche.
„Vielleicht wissen die Nachbarn etwas über Delmores Verbleib“, sagte Sally, nachdem sie sich neben Raimon an den Tisch gesetzt hatte.
„Klappern wir die einfach mal ab“, meinte dieser und wollte aufstehen. „Nehmen wir das am besten gleich in Angriff.“
Plötzlich klopfte es an die Vordertür. Sally und Raimon sahen sich erstaunt an.
„Wer mag das sein?“, fragte Sally.
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Raimon. „Schauen wir nach.“ Damit verließ er die Küche. Während er zur Tür ging, klopfte es nochmals. Diesmal etwas lauter.
„Aufmachen! Sofort aufmachen! Das ist ein Befehl!“, hörte der Henker eine herrisch klingende Stimme. Dabei wummerte der Unbekannte immer wieder gegen die Tür, dass sie beinahe aus den Angeln fiel.
„Ja, ja. Ich komme ja schon“, knurrte er und riss die Tür auf, dass der Davorstehende beinahe ins Haus gefallen wäre. „Wer macht hier solch einen Lärm?“ Raimon stutzte. Vor ihm standen zwei Stadtbüttel, jeder bewaffnet mit einem Kurzschwert.
„Wer seid Ihr und was tut Ihr hier?“, fuhr der eine Bewaffnete den Henker an. Sally, erschrocken über den Krawall, den die Männer machten, verzog sich lieber in die Küche zurück.
„Was geht Euch das an?“, motzte Raimon zurück. Vom Gehabe der beiden Gestalten ließ er sich nicht einschüchtern. Als Henker wusste er mit solchen Gestalten umzugehen.
„Beantwortet meine Frage! Ihr seid unberechtigt in diesem Haus“, schimpfte der Büttel und wollte sich an Raimon vorbei drängen. Doch der hinderte den Mann daran, indem er sich in voller Größe in den Türrahmen stellte.
„Unberechtigt? Ich? Dass ich nicht lache“, Raimon zog eine Grimasse, als hätte er auf eine Kakerlake gebissen. „Das hier ist das Haus meines Bruders Delmore und seiner Kinder. Ich bin hier zu Besuch und nicht, wie Ihr behauptet, unberechtigt im Haus.“ Er stemmte seine Hände in die Hüften und ließ seine Muskeln spielen, die unter seinem Hemd gut zu erahnen waren.
Die Büttel wurden blass. „Dann seid Ihr also Raimon, der Henker aus Exmouth“, schlussfolgerte der eine. Ehrfürchtig sahen sie den vor ihnen stehenden Scharfrichter an, der schon allein durch seine Größe furchteinflößend wirkte.
„Genau der bin ich“, erwiderte Raimon und machte die Tür frei. „Kommt erst einmal herein. Hier draußen ist es mir zu ungemütlich.“ Er wies den Bütteln den Weg in die Küche, wo Sally ängstlich schauend am Tisch saß. „Meine Gemahlin“, stellte Raimon sie vor. Dass er nicht mit Sally verheiratet war, verschwieg er lieber. Er wollte nicht, dass Fragen aufkamen, die er noch nicht beantworten konnte oder die ihn und Sally in schlechtes Licht rücken könnten.
Die Büttel grüßten sie ehrfurchtsvoll. Auch Sally hieß die beiden Männer willkommen.
„Setzt Euch“, bot Raimon den Zweien einen Platz an, worauf sie sich auf eine Bank plumpsen ließen.
Sally stand auf und nahm vier Becher vom Küchenbord. In die goss sie den restlichen verdünnten Wein von Mittagessen.
„Nun raus mit der Sprache! Was führt Euch hierher?“, wollte Raimon wissen, nachdem alle getrunken hatten.
„Die Nachbarn meldeten uns, dass sich unbekannte Personen hier im Haus befänden, die sich nicht einmal die Mühe machten, sich zu verbergen“, erklärte der eine.
„Warum sollten wir uns verstecken? Wir haben nichts Unrechtes getan“, fragte Raimon. „Der Schustermeister ist mein Bruder. Leider haben wir weder ihn noch seine Kinder angetroffen. Da wir einen weiten Weg hinter uns haben, zogen wir es vor, hier drinnen auf ihn zu warten“, erklärte der Henker und nahm erneut einen Schluck aus dem Becher.
„Auf Euren Bruder könnt Ihr noch ewig warten und das Haus ist von der Stadt konfisziert“, entgegnete der andere Büttel völlig emotionslos.
„Ich verstehe nicht“, antwortete Raimon.
„Euer Bruder ist tot“, sagte der Büttel ohne ein Anzeichen des Bedauerns.
Sally stieß einen entsetzten Schrei aus. Raimon wurde bleich. Seine Lippen zitterten, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. „Wie kann das sein?“, fragte er ganz leise. „Er schrieb mir doch erst vor etwa zwei Monaten, ich müsse ihn unbedingt besuchen kommen, da er mit mir etwas zu besprechen hätte. Und nun soll er tot sein? Einfach so!“
„Ihr habt nicht von dem Vorfall gehört?“, erwiderte der Büttel. „Es war doch in aller Munde.“
„Wie soll ich von einem Vorfall gehört haben? Ich lebe zehn Tagesreisen zu Fuß von hier entfernt. Bis Exmouth ist die Kunde über den Tod meines Bruders nicht gedrungen. Eine Nachricht hat mich auch nicht erreicht.“
„Dann wundert mich das nicht, dass Ihr nichts wisst“ entgegnete der wortführende Büttel.
„Jetzt sagt endlich, was hier los ist! Warum ist mein Bruder tot und warum wurde sein Haus konfisziert?“ Raimons Faust knallte auf die Tischplatte, dass die darauf stehenden Becher hüpften. „Ich habe ein Anrecht darauf!“, schrie der Henker aufgebracht.
Sally sprang auf und versuchte Raimon zu beruhigen. Der aber schüttelte nur ihre Hand ab, die sie auf seinen Arm gelegt hatte.
„Ja, doch!“, fuhr der Büttel Raimon an. „Setzt Euch gefälligst wieder hin und beruhigt Euch. Sonst sperren wir Euch ins Verlies, bis Ihr Euch beruhigt habt. Dieses Geschrei ist ja nicht auszuhalten!“
„Bitte, Raimon“, redete Sally beschwichtigend auf ihn ein.
Der Scharfrichter versuchte, sich zu beruhigen. Als wären sie Aussätzige, starrte er die Büttel an, als könne er sie so dazu bewegen, schneller mit der Nachricht herauszurücken.
„Gut so“, lobte der eine und begann zu erzählen, was vorgefallen war.
„Euer Bruder wurde vor drei Wochen hingerichtet. Da er seinen Aufenthalt im Kerker und die Hinrichtung nicht bezahlen konnte, wurde kurzerhand sein Haus konfisziert, um die Kosten zu begleichen. Ihr als Henker müsstet wissen, wie in solch einem Fall vorgegangen wird.“
„Ja, ja“, sagte Raimon nur.
„Wartet, lasst mich weiter sprechen“, wehrte der Büttel ab, als Raimon ihn erneut unterbrechen wollte. „Ihr werdet wissen wollen, aus welchem Grund diese drastische Strafe über Euren Bruder verhängt wurde“, Raimon nickte nur darauf. „Er hat seine Ehefrau Adra, Gott hab sie selig, umgebracht. Vielleicht wusstet Ihr davon, dass sie mit dem Knecht durchgebrannt war, nachdem sie ihrem Gatten ständig Hörner aufgesetzt hatte. Eure Schwägerin war eine, wie soll ich es sagen, eine sehr leichtlebige Person, die sozusagen nichts anbrennen ließ. Es war nicht das erste Mal, dass sie fremd gegangen war. Diesmal war es ihm einfach zu viel und er griff zu dieser sehr drastischen Maßnahme, um sie zu bestrafen.“
„Ich weiß von den Machenschaften meiner verstorbenen Schwägerin. Mein Bruder erzählte es mir im Geheimen. Aber, dass sie so schlimm war, das wusste ich nicht“, meinte Raimon darauf. „Unsere Eltern hatten damals die Ehe arrangiert. Liebe gab es zwischen Delmore und seiner Gattin nicht, als sie vor den Traualtar traten. Das schien sich die ganzen Jahre nicht geändert zu haben. Schade drum. Aber was soll es, nun ist es zu spät.“
„Das dachte ich mir“, sagte der Büttel. „Aber hört weiter. Wenn Euer Bruder nur seine Frau umgebracht hätte, was schon schlimm genug ist, wäre er wahrscheinlich nur zu lebenslänglicher Kerkerhaft verurteilt worden. Aber so hat er sich auch noch am Knecht vergriffen. Der Gute kam nicht so gut davon wie seine Geliebte. Euer Bruder hat den Mann aufs Grausamste gefoltert und gequält. Darüber mag ich gar nicht reden. Ihr als Henker kennt gewiss sehr wirksame Methoden, um die Delinquenten zum Reden zu bringen. Nun ja, es war wohl ein wenig zu viel an Folter. Der Knecht ist zu guter Letzt an den dabei erlittenen Verletzungen verstorben. Der Richter nahm zwar an, dass Delmore das gar nicht wollte, dass der Mann starb. Aber das änderte nichts an der Tatsache.“
Raimon wusste nicht, was er dazu sagen sollte. So saß er nur stumm wie ein Fisch auf der Bank und starrte sein Gegenüber an. Er war zu sehr geschockt über das soeben Gehörte und konnte es nicht fassen, dass sein sonst so verweichlichter Bruder zu solchen Taten fähig war. Entsetzt schüttelte er den Kopf.
Sally setzte sich neben Raimon. Ihr Gesicht war bleich wie eine gekalkte Wand. „Was ist mit den Kindern?“, wollte sie vom Büttel wissen.
„Die sind im städtischen Waisenhaus untergebracht und in guten Händen“, bekam sie als Antwort.
„Hörst du“, sagte Sally zu Raimon, der sich immer noch nicht rührte und auf einen imaginären Punkt vor sich auf der Tischplatte starrte. „Wir müssen ins Waisenhaus und nach den Kindern schauen. Sie sind bestimmt total durcheinander und verängstigt. Erst werden sie von ihrer Mutter verlassen, dann wird der Vater hingerichtet. Ich hoffe, sie mussten die Hinrichtung nicht mit ansehen.“
„Das mussten sie nicht, obwohl viele Leute in der Stadt forderten, dass sie zur Abschreckung anwesend sein sollten. Die Obrigkeit hatte aber Erbarmen mit den armen Würmchen“, erwiderte der Büttel.
„Raimon, so sag doch was“, wandte sich Sally erneut an den Henker.
„Wie? Was hast du gesagt?“, fragte er.
„Wir müssen ins Waisenhaus und nach den Kindern schauen“, wiederholte Sally.
„Warum das? Dort habe ich nichts zu suchen.“ Raimon verstand gar nichts.
„Ach der Arme. Er ist ganz durcheinander“, stellte der Büttel, der bisher ruhig mit am Tisch saß, fest.
„Der kriegt sich schon wieder ein. Das ist nur der Schock“, erwiderte der Erste und stand auf.
„Wie könnt Ihr nur so grausam sein? Ich möchte nicht wissen, wie es Euch nach solch einer Nachricht ergehen würde“, empörte sich Sally. „Ihr solltet Euch schämen, Euch noch am Leid anderer zu ergötzen. Ich fasse es nicht!“
„Es ist wohl besser, wir gehen jetzt“, sagte der Erste, wohl auch, um einer Konfrontation mit der offensichtlich erzürnten Sally zu entgehen. „Am besten Ihr kommt nachher zum Rathaus und sprecht mit dem Richter. Er hat Akteneinsicht und kann Euch genauere Auskunft geben.“
„Ja, das machen wir“, sagte Sally und schob die beiden hinaus in den Flur. „Meldet uns bitte beim Richter an. Wir haben keine Zeit zu vergeuden. Die Kinder brauchen uns.“
Der Anführer der Büttel stimmte dem zu. Dann verabschiedeten sie sich.
Nachdem Sally die Vordertür hinter den Stadtwachen geschlossen hatte, lehnte sie sich von innen dagegen. Was war hier nur geschehen? Sie war fassungslos. Die Kinder taten ihr leid, genau wie Raimon. Hier musste sie helfen, obwohl sie selber noch nicht wusste, wie es nun weitergehen sollte.