Während Sally schweigsam neben Raimon durch die belebten Straßen Exmouths einher schritt, schaute sie sich immer wieder unauffällig um. Sie fühlte sich nicht wohl in der Männerkleidung. Obwohl sie scheinbar gewaschen wurde, konnte sie den Geruch des unbekannten Mannes wahrnehmen, der sie getragen hatte. Sie machte sich allerdings keine Gedanken darüber, wessen Eigentum Hemd, Hose, Mütze und Jacke gewesen war. Sehr viel mehr ängstigte sie sich, von Rodney oder dessen Kumpanen auf der Flucht eingeholt und gefangen genommen zu werden. Dementsprechend unruhig war sie. Außerdem war es ihr, als würden ihr alle Passanten ansehen können, dass sie in Wahrheit eine Frau war. Immer wieder zog sie sich ihre Mütze tiefer ins Gesicht und zupfte an ihrer Jacke, damit niemand sie erkennen konnte.
Raimon, der neben ihr weit ausschritt, bemerkte Sallys Unruhe. Er vermeinte den Grund dessen zu kennen. „Keine Sorge, wir werden die Stadt bald hinter uns haben“, sagte er zu Sally. „Rodney und seine Häscher werden dich nicht finden. Wenn die mitbekommen, dass wir weg sind, sind wir bereits weit genug entfernt.“
„Dein Wort in Gottes Ohr“, erwiderte Sally ein wenig zu mürrisch. „Wie weit ist es eigentlich bis Dover?“, wollte sie dann doch wissen.
„Wenn wir gut vorankommen, werden wir in etwa neun Tagen dort sein“, antwortete Raimon.
„Oh, doch so weit weg! Das wusste ich nicht.“ Sally staunte über die Entfernung.
„Schneller geht es zu Fuß leider nicht. Es sei denn, wir finden jemanden mit einem Fuhrwerk, das uns mitnimmt“, sagte der Henker. „Meist sind Kaufleute nach Dover zum Hafen unterwegs. Einer von denen wird bestimmt mit zwei einsamen Wanderern Erbarmen haben. Hier in Exmouth gibt es zwar auch einen Hafen, aber große Handelsschiffe legen hier nicht an.“
Raimon und Sally kamen gut voran. Trotzdem schauten sie sich immer wieder aufmerksam um, ob eventuelle Verfolger ihre Spur aufgenommen hatten. Doch unter den Reitern, die sie überholten, sahen sie kein einziges bekanntes Gesicht. Trotzdem währten sie sich nicht in Sicherheit. Wer wusste schon, welche windigen Ganoven Rodney anheuerte, um sie zu finden.
Aufrichtig erschöpft erreichten sie kurz vor Sonnenuntergang ein Wäldchen. „Hier werden wir nächtigen“, erklärte Raimon kurzerhand und zeigte ins Dickicht der tief hängenden Äste der Bäume. Er ging voran und suchte nach einem geeigneten Platz, wo sie ruhen konnten. „Es ist besser, wir machen hier kein Feuer“, meinte er, nachdem er einen gut versteckten Platz gefunden hatte. Von dort aus konnte man den Weg in Richtung Dover gut überblicken, war selbst aber nicht zu sehen. Nur wenn ein Feuer brannte, konnte man entdeckt werden.
„Es ist nachts nicht allzu kalt, da genügen uns die mitgebrachten Decken. Notfalls rücken wir ein wenig zusammen“, sagte Raimon, ohne sich Gedanken über seine Worte zu machen. Erst als Sally verlegen hüstelte, erkannte er seinen Fehler. „Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahe treten“, sagte er darauf.
„Schon gut“, erwiderte Sally, deren Gesicht vor Verlegenheit gerötet war.
Raimon tat einfach, als hätte er nichts bemerkt. „Etwas zum Essen haben wir auch.“ Er zeigte auf das Bündel mit den Lebensmitteln. „Machen wir es uns also bequem. Du bist bestimmt sehr erschöpft vom langen Gehen.“
Sally breitete die Decken aus und ließ sich seufzend auf ihrer nieder. Sie streckte die Beine aus und streifte sich die Schuhe von den brennenden Füßen. Sie fühlten sich an, als wäre sie durch Feuer gelaufen. Ein paar Blasen hatten sich gebildet. Sie hoffte, sie entzünden sich nicht, sonst wüsste sie nicht, wie sie Dover jemals zu Fuß erreichen sollte.
„Ich schaue mich lieber erst einmal um, ob ich hier einen Bach oder eine Quelle finde“, sagte Raimon und griff nach dem Wasserschlauch. Dann ließ er Sally allein, die nachdenklich in das dichte Blätterwerk über ihnen starrte. Da sie nicht antwortete, nahm er an, sie wolle ein wenig allein sein, um die Vorkommnisse des Tages zu verdauen. Raimon kannte Sally inzwischen gut genug, um ihre Emotionen erkennen zu können.
Vorsichtig schlich sich Raimon durch das dichte Unterholz des Wäldchens. Dabei schaute er aufmerksam den Waldboden an. Hoffentlich konnte er wenigstens eine Quelle finden, damit sie sich erfrischen und ihren Durst löschen konnten. So entfernte er sich immer mehr von ihrem Lagerplatz und drang noch tiefer in den Wald ein.
Während Raimon sich im Wald umsah, blickte auch Sally sich um. Das Knurren ihres Magens ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Außerdem quälte sie der Durst. Da Raimon den Wasserschlauch mitgenommen hatte, konnte sie diesen nicht stillen. Doch das fand sie nicht besonders schlimm. Für sie war es wichtig, aus der Reichweite des verhassten Rodneys entfliehen zu können. Sie ließ sich von einem Eichhörnchen ablenken, das flink einen Baumstamm hinauf flitzte und wild umhersprang. Sally musste bei dem Anblick lächeln. Aber dann erinnerte sie sich, wie sie als kleines Mädchen an der Hand ihres Vaters in der weitläufigen Parkanlage des Anwesens der Montgomerys in Trowbridge eben diese Tiere beobachtet hatte. Sie musste schniefen, unterdrückte dann aber tapfer die aufkommenden Tränen über den Verlust ihres geliebten Vaters. Die Zeit war vorbei und würde nie mehr wiederkommen. Ihr Vater war tot und sie auf sich selbst gestellt. Aber nein, da waren noch Sabrin und Raimon, auf die sie sich verlassen konnte. Sabrin hatten sie zwar in Exmouth zurücklassen müssen, aber Raimon war noch an ihrer Seite. Nur wie lange noch, das wusste sie nicht. Bald würde auch bei ihnen die Zeit der Trennung kommen. Ob sie ihn danach jemals wiedersehen würde?
Sally schrak hoch. Wo war Raimon? Sie konnte ihn nirgends entdecken. Hatte er sich zu weit von ihrem Lager entfernt und sie schutzlos zurückgelassen? Sie riss sich zusammen. Raimon würde bald zurück sein, dessen war sie sich sicher. Aber halt! Sie war ein Bursche und kein heulendes Weibsbild! Also Kopf hoch und nach vorn schauen!
Am selben Tag in Exmouth
Rodney und seine Kumpane zechten im Hurenhaus. Inzwischen hatten sie so viel getrunken, dass keiner von ihnen noch in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen. Die ersten lagen bereits mit dem Kopf auf der Tischplatte und schnarchten. Nur Rodney und zwei seiner Freunde waren noch wach, aber nicht mehr fähig, einen Schritt zu gehen ohne zu torkeln.
Rodney begann immer wieder auf die entflohene Sally zu schimpfen. Auch für Raimon, der in seinen Augen ein Hurenbock und Verräter war, hatte er kein gutes Wort übrig. Dabei war er von ihm abhängig. Als Henker war Raimon für alle Hurenhäuser in der Stadt verantwortlich. Von seiner Zusprache bei den Ratsherren der Stadt hing deren Fortbestehen ab. Mit ihm sollte er sich möglichst nicht schlecht stellen, sonst wäre er schneller abgesetzt als ihm recht wäre.
„Ihr besoffenen Hundsfötte, auf mit euch!“, schimpfte Rodney zum wiederholten Male mit seinen Kameraden. „Wir müssen zum Henkerhaus, die verflixte Hure holen.“ Er versuchte, aufzustehen. Allerdings war er so betrunken, dass er sich nicht auf den Beinen halten konnte und wie ein nasser Sack umfiel. Mühsam richtete er sich wieder auf, nicht ohne unflätige Schimpfworte auszustoßen. So sehr er auch wetterte, seine schnarchenden Gefährten konnte er nicht aufwecken. Er selbst fühlte sich auch wie erschlagen, dass er am liebsten sofort schlafen wollte. Krampfhaft hielt er sich wach.
Edwina, die wie sonst auch, über alles im Haus Bescheid wusste, erschien in der Küche.
„Ihr versoffenen Schweine“, wetterte nun auch sie wie ein Waschweib. „Wehe ihr kotzt mir alles voll. Da kriegt ihr es mit mir zu tun!“
„Halte dein Maul, du alte Schindmähre“, fuhr Rodney sie an. „Bring lieber mehr von dem guten Branntwein. Ich habe Durst.“
„Sauf lieber Wasser“, knurrte die Alte ihn an. „Bist schon besoffen genug.“
„Bin ich ein Pferd?“, schrie Rodney empört. Mühsam taumelte er auf die Frau zu. Drohend hob er die Hand.
Edwina lächelte nur über die Unbeholfenheit, trat aber vorsichtshalber ein paar Schritte zurück, um aus Rodneys Reichweite zu gelangen. Sie wusste genau, wie gefährlich der Mann in diesem Zustand war. Nicht nur einmal hatte sie eine der Dirnen nach Rodneys Übergriffen verarzten müssen. Blaue Flecke und Veilchen waren die kleinsten Verletzungen, die sie dabei hatte sehen müssen.
„Wo bleibt der Branntwein?“, lallte Rodney immer wieder.
„Hol dir dein Gesöff doch selber“, spie ihm Edwina entgegen und warf die Tür hinter sich zu. Sie hörte, wie es noch einmal polterte. Rodney schimpfte wie ein Rohrspatz. Er schien erneut gestürzt zu sein. Nach einer Weile wurde es ruhig, dann hörte sie nur noch Schnarchen. Vorsichtig spähte sie in die Küche. Der Hurenwirt lag am Boden und schlief tief und fest, genau wie seine Freunde am Tisch. Edwina lächelte nur wissend…
Edwina wollte eben in ihre Kammer gehen, als die Haustür aufging. Die Alte drehte sich um und sah, wie Sabrin hereinschlich.
„Da bist du ja“, sagte Edwina zu ihr und zog das Mädchen in ihre Kammer. Schnell schloss sie die Tür hinter sich. „Ist Sally weg?“, fragte sie.
„Warum willst du das wissen?“ Sabrin war vorsichtig. So lange sie nicht wusste, wem sie trauen konnte, sagte sie lieber nicht zu viel.
„Ich weiß doch, dass Raimon und du sie versteckt habt. Lani hat es mir brühwarm erzählt.“ Edwina hielt nicht mit ihrem Wissen hinter dem Berg. „So eine Verräterin. Gerade von ihr hätte ich das nie erwartet“, spie Edwina angeekelt aus.
„Es ist besser, nur ganz wenige wissen davon“, erwiderte Sabrin, immer noch vorsichtig. Edwina war immer auf Aelfrics Seite und hat nicht nur einmal die Dirnen an den alten Hurenwirt verraten. Ob sie nun auf der Seite der Mädchen stand, konnte sie noch nicht einschätzen.
„Du kannst mir trauen“, sagte Edwina zu Sabrin. „Ich bin auf eurer Seite, nicht auf Rodneys.“ Sie schien zu bemerken, wie das Mädchen mit sich rang, ihr zu glauben.
„Wo ist der eigentlich?“, fragte Sabrin.
„Der liegt mit seinen Kumpanen sturzbesoffen und schnarchend in der Küche.“ Edwina grinste schelmisch. „So schnell werden die auch nicht wach.“ Sie griff in ihre Schürzentasche und holte eine kleine Flasche heraus. Sabrin sah sie fragend an.
„Da ist Mohnsaft drin“, erklärte die Alte. Als Sabrin immer noch nicht begriff, klärte Edwina sie auf. „Ich habe denen das Zeugs in den Branntwein geschüttet und die haben es gesoffen wie durstige Gäule Wasser.“ Edwina grinste noch mehr.
Endlich verstand Sabrin. „Du meinst, du hast sie schlafen geschickt! Das ist ja genial!“ Das Mädchen umarmte die Alte erfreut. „Danke“, flüsterte sie ergriffen und gab ihr einen Kuss auf die runzlige Wange.
„Ich sagte doch, ich bin auf eurer Seite“, sagte Edwina.
„Und wo ist Lani, die Verräterin?“
Edwina hielt erneut die Flasche hoch. Sabrin lachte daraufhin nur, so sehr freute sie sich über die neue Verbündete und deren Einfälle. Gerade von Edwina hätte sie den Sinneswandel nicht erwartet.
„Was machen wir nun?“, fragte Sabrin. Sie wusste, spätestens wenn Rodney und seine Kumpane wach wurden, würde die Suche nach Sally beginnen.
„Das wird noch ein Weilchen dauern, bis die wieder klar denken können. Und wenn sie es können, werden sie erst einmal einen mächtigen Kater haben“, erwiderte Edwina grinsend. „Bis dahin solltest auch du von hier verschwunden sein. Rodney prügelt dich sonst windelweich. Er hat es bereits angekündigt.“
„Du meinst...?“, Sabrin wurde blass. An diese Möglichkeit hatte sie noch gar nicht gedacht. Bisher war sie nur um Sallys Sicherheit besorgt.
„Ich meine nicht nur. Ich weiß es“, sagte Edwina beherrscht. „Je schneller du hier weg bist, desto besser.“
„Wo soll ich nur hin?“ Vor Schreck wusste Sabrin nicht, wohin sie fliehen könnte.
„Hast du keine Familie? Eltern? Geschwister? Freunde?“
„Meine Eltern und Geschwister sind alle tot. Freunde…“, Sabrin überlegt. „Nein, Freunde habe ich keine mehr. Seit ich hier als Dirne arbeite, haben sich alle von mir abgewendet und wollen nichts mehr mit mir zu tun haben. Eine Hure passt nicht in ihre angeblich so heile Welt.“
Gemeinsam überlegten die Frauen. Dabei gingen sie in das obere Stockwerk, wo Sabrins Besitz in einer Truhe im Gemeinschaftsraum verstaut war. Dort lag auch Lani auf ihrem Strohsack und schlief ihren Rausch aus. Leise packte Sabrin ihre Habseligkeiten ein, ohne auf die Schlafende zu achten.
Edwina stand daneben. Ihr wurde das Herz schwer. Sabrin war nun schon die zweite der Dirnen, von der sie innerhalb kurzer Zeit Abschied nehmen musste.
„Ich weiß nun, wohin ich gehen werde“, sagte Sabrin zu Edwina, nachdem sie die Kammer verlassen hatten und die Treppe hinuntergingen.
„Sag schon, wohin?“ Edwina war erfreut, dass Sabrin nun doch eine Lösung gefunden hatte.
„Wenn ich dort angekommen bin, lasse ich dir eine Nachricht schicken“, erwiderte das Mädchen. „Es ist besser, du weißt es nicht. Da kann es Rodney auch nicht aus dir heraus prügeln.“ Sie schaute Edwina an. „Es ist für deine Sicherheit“, sagte sie noch, als sie deren betrübtes Gesicht sah.
„Du hast recht. Besser ich weiß es nicht.“ Edwina weinte fast. „Aber ich kann doch gar nicht lesen, wie soll ich da deine Botschaft lesen“, meinte sie daraufhin noch.
„Dann bekommst du meine Nachricht eben mündlich“, entgegnete Sabrin, während sie noch etwas Wegzehrung in ihr Bündel packte. „Kommst du an die Geldkassette?“, wollte sie dann wissen.
„Klar, die steht doch immer unter meinem Strohsack versteckt“, sagte Edwina und ging in ihre Kammer. Sie kam mit einem kleinen Säckchen voller Münzen zurück und überreichte ihn Sabrin.
„Aber das ist doch viel zu viel“, wehrte die junge Frau ab. „So viel habe ich doch gar nicht verdient.“
„Nimm nur. Du wirst es gebrauchen können“, sagte Edwina. „Und nun geh schon, ehe ich noch melancholisch werde.“
„Leb wohl. Vielen Dank für alles. Ich werde dich nie vergessen“, sagte Sabrin und drückte die Alte ein letztes Mal. Dann drehte sie sich um und verließ das verhasste Hurenhaus, in dem sie so lange um das Überleben kämpfen musste.
Trübselig sah Edwina ihr nach. Die aufkommenden Tränen musste sie gewaltsam unterdrücken.