Ganz einerlei war es Sally nicht, einem Menschen das Leben genommen zu haben. Aelfric war in ihren Augen zwar ein Arschloch, doch den Tod hatte sie ihm nie gewünscht. Wenn sie Pech hatte, hing sie bald am Galgen und hauchte in unwürdiger Weise ihr Leben aus. Das ihr aber noch lieber war, als dass sie Rodney vorher in die Hände fiele. Aelfrics Handlanger würde ihr weitaus Schlimmeres antun. Er würde sie vorher genüsslich quälen, eher er ihrem Leiden ein Ende setzen würde.
Immer wieder blickte sich Sally ängstlich um. Hinter jeder Ecke vermutete sie einen ihrer Häscher. Zu ihrer Freude war aber niemand auf der Suche nach ihr. Trotzdem wollte sie sich nicht allzu sehr in Sicherheit wiegen.
Besonders gut kannte sich Sally nicht aus in der Stadt. Sie wusste nur, sie befand sich in Exmouth. Obwohl sie schon öfter mit ihrem Vater in der Stadt gewesen war, kannte sie sich nicht gut aus. Aelfric hatte sie anfangs in Begleitung losgeschickt, um im Ort nach Freiern Ausschau zu halten. Ab und an war sie allein unterwegs. Doch die örtlichen Begebenheiten interessierten sie nicht. So war sie jedes Mal froh, wenn sie heil zurück zum Hurenhaus kam, ohne sich verlaufen zu haben.
Vor ihrer Entführung war sie nur mehrmals mit ihrem Vater in London gewesen. Tapfer schluckte sie die aufkommenden Tränen hinunter, die ihr bei dem Gedanken an ihren Vater hochkamen. Er wüsste nun einen Ausweg aus ihrer verzwickten Lage.
Sally erreichte den Markt. Die meisten Händler begannen bereits, ihre Stände abzubauen. Krampfhaft überlegte die junge Frau, was sie nun tun sollte. Sie wusste, sie musste baldigst aus der Stadt verschwinden, wenn sie nicht Rodney und dessen Kumpanen in die Hände fallen wollte. Womöglich war Aelfrics Leiche bereits entdeckt worden und alle waren auf der Suche nach ihr.
„Sally, was tust du hier?“ Sally erschrak sich mächtig, als plötzlich wie aus heiterem Himmel Sabrin vor ihr auftauchte. Ihre Freundin lachte sie erfreut an, was Sally ein wenig beruhigte. Sie kannte Sabrin inzwischen gut genug. Sie würde sich nicht verstellen, wenn sie von Aelfrics Tod wüsste.
„Sabrin, du hier!“, rief Sally erfreut aus. „Bist du schon lange unterwegs? Ich habe dich heute den ganzen Tag nicht zu Gesicht bekommen.“
„Na du hast gut reden.“ Sabrin lachte laut. „Du warst doch die ganze Zeit mit Aelfric zugange. Er hat wohl mal wieder nicht genug bekommen können?“ Erneut lachte Sabrin, als sie Sallys gerötetes Gesicht sah. „Das muss dir doch nicht peinlich sein“, sagte sie kichernd zu ihr.
„Mir ist das nicht peinlich“, behauptete Sally. „Aelfric ist ein Arsch“, stieß sie dann angewidert hervor.
„Sally! Was ist los? Mit dir stimmt doch etwas nicht“, fuhr Sabrin die Freundin an, die daraufhin erneut die Gesichtsfarbe wechselte. Dieses Mal wurde sie bleich.
„Komm, gehen wir woanders hin“, sagte sie zu Sabrin und zog sie in eine menschenleere Gasse. Sally schaute sich suchend um, doch sie waren allein.
„Kann ich dir vertrauen?“, fragte sie Sabrin, die ihr widerwillig gefolgt war.
„Das weißt du doch“, erwiderte Sabrin und schaute ihre Freundin freundlich lächelnd an. „Du bist meine beste Freundin geworden. Ich vertraue dir. Das wünsche ich mir auch von dir. Also erzähl schon. Sonst platze ich vor Neugier.“
„Gut. Es darf niemand etwas davon erfahren, was ich dir nun berichte.“
„Ich schwöre, bei allem, was mir heilig ist“, versprach Sabrin daraufhin.
„Aelfric ist tot“, brachte es Sally endlich fertig, mit der Wahrheit herauszurücken.
Entsetzt sah Sabrin sie an. „Aelfric, tot? Das kann nicht sein! Wann, wo? Ich will alles wissen.“
„Ich bin daran schuld“, gestand Sally mit ängstlich klopfendem Herzen.
„Aber, Liebes, was redest du für Unsinn?“, versuchte Sabrin sie zu trösten.
„Nein, es ist kein Unsinn. Ich war es. Ich habe ihn abgestochen wie ein Mastschwein. Alles ist voller Blut, du weißt schon wo…“ Die Worte kamen aus Sallys Mund wie ein Wasserfall, als sie Sabrin den Tatvorgang schilderte.
„Oh mein Gott“, schluchzte Sabrin entsetzt, als Sally geendet hatte. „Du kannst unmöglich zurück ins Hurenhaus. Jeder wird dich als Schuldige sehen. Du warst zuletzt mit Aelfric zusammen. Wenn Rodney dich in seine Hände bekommt, dann gnade dir Gott. Am besten, du verschwindest für eine Weile von der Bildfläche.“
„Du siehst es genau wie ich. Was soll ich nur tun?“ Sally war verzweifelt. Sie kannte niemanden in der Stadt, dem sie vertrauen konnte, nur Sabrin. Lani könnte ihr vielleicht auch helfen, doch konnte sie ihr trauen?
„Wir brauchen jemanden, dem wir trauen können. Aber nicht Lani. Die plappert zu viel. Wenn sie etwas weiß, dann plaudert sie es sofort in jeder Spelunke aus“, sagte Sally darauf, als hätte sie Sallys Gedanken lesen können.
„Du kennst hier mehr Menschen als ich“, sagte Sally darauf. „Ich aber kenne außer euch im Hurenhaus und einigen Freiern niemanden. Bei Lani sehe ich das so wie du. Wir können wir nicht trauen. Es ist besser, wenn sie von nichts weiß.“
„Als erstes sollten wir dich hier wegbringen. Ich weiß auch schon, wohin ich dich bringen werde“, erkannte Sabrin den Ernst der Lage. Sie griff nach Sallys Hand und lief voran.
„Wo willst du hin?“, fragte Sally, während sie der Freundin folgte.
„Ich habe eine Idee“, erwiderte Sabrin nur und schritt so schnell voran, dass Sally Mühe hatte, ihr zu folgen. Sabrin lief schnurstracks über den Marktplatz, bog in eine Gasse ab und entfernte sich immer mehr vom Zentrum. Als sie endlich anhielt, standen die Frauen vor einem kleinen Häuschen am Stadtrand.
„Wer wohnt hier?“, fragte Sally und besah sich das Haus. Es sah nicht sonderlich schön aus, aber es war von außen gepflegt.
Ehe Sabrin antwortete, klopfte sie an die Tür des Hauses. „Der Henker“, sagte sie nur und klopfte noch einmal. „Raimon, mach auf. Ich bin es, Sabrin“, rief sie, während sie weiter gegen die Tür hämmerte.
Sally erschrak. „Da bin ich ja genau richtig und brauche meinen Kopf nur in die Schlinge legen“, brachte sie stotternd hervor. Sie konnte es nicht glauben. Gerade beim Henker sollte sie unterkommen!
„Du kannst ihm blind trauen“, erwiderte Sabrin.
Endlich hörten sie hinter der Tür ein Schlurfen. „Wer, zum Henker noch einmal, hat es denn so eilig, dass er mir gleich die Tür einschlägt“, vernahmen sie aus dem Inneren des Hauses. Die Tür wurde aufgerissen.
Entgeistert starrte Sally auf den riesigen Mann, der vor ihnen stand und auf sie herabblickte. Ein Lächeln flog in sein Gesicht, als er Sabrin erkannte. „Meine kleine Sabrin“, sagte er anstatt einer Begrüßung. „Sag ja nicht, die Sehnsucht treibt dich zu mir.“ Sein Grinsen wurde noch breiter. „Welch verletztes Vögelchen bringst du mir heut ins Haus“, sagte er dann noch, als er sah, die Dirne kam nicht allein.
„Red keinen Schwachsinn. Lass uns lieber rein. Es eilt“, knurrte Sabrin den Riesen an und drängte sich an ihm vorbei ins Haus. Sally musste ihr folgen, ob sie wollte oder nicht.
„Verstehe einer das Weibervolk“, knurrte Raimon zurück und schloss die Haustür hinter sich. Sofort war es dunkel im Flur, nur aus einem Raum am Ende des langen Ganges kam Licht. Der Henker schien sich dort aufgehalten zu haben, ehe er von Sabrins Klopfen aufgescheucht wurde.
„Geh schon. Du kennst den Weg“, drängte er die Frau voran. Sofort ging sie weiter und zerrte dabei ihre sich sträubende Freundin hinter sich her.
Sally blieb erstaunt stehen, als sie hinter Sabrin den Raum betrat, der scheinbar als Wohnraum, Schlafstube, aber auch als Küche diente. In einer offenen Feuerstelle brannte ein kleines Feuer, über dem auf einem Gestell ein Kessel hing. Aus diesem roch es köstlich. Sally knurrte sofort lauthals der Magen.
„Setzt euch doch“, bot Raimon den beiden Frauen einen Platz an. An einem Tisch standen an der langen Seite jeweils eine Bank, an den Stirnseiten jeweils ein hochlehniger Stuhl.
Sabrin ging zu einer Bank und setzte sich. Sally folgte ihr und nahm neben ihr Platz. Ihr Blick ging wieder zu dem Kessel, aus dem es so köstlich roch. Doch sie zwang sich, jetzt nicht an das Essen zu denken, nach dem ihr Magen so lauthals verlangte.
Ehe sich Raimon auf einen der Stühle setzte, nahm er drei Becher aus der Anrichte, stellte sie auf den Tisch und goss aus einem Krug Wein aus. Dann setzte auch er sich und schaute die Frauen fragend an.
Sally sah sich nun weiter um. Sie bekam große Augen, als sie das Richtschwert sah, das in einer Ecke hing. Sie kannte einen Degen, mit dem ihr Vater ihr das Fechten beigebracht hatte. Aber ein Richtschwert hatte sie noch nie gesehen. Sie griff sich an den Hals, als würde sie dort bereits die scharfe Klinge spüren.
Raimon ließ Sally Zeit, sich in Ruhe umzublicken. Doch dann konnte er seine Neugier nicht weiter beherrschen.
„Du hast es aber arg eilig gehabt“, wandte er sich an Sabrin. „Nun erzähle schon, wo brennt es?“
„Wir brauchen deine Hilfe“, erwiderte Sabrin. „Oder besser gesagt, Sally braucht deine Hilfe.“
„Was ist denn geschehen?“, wollte Raimon nun von Sally wissen. „Keine Angst, ich tue dir nichts“, redete er beschwichtigend auf die junge Frau ein, die ihn völlig verängstigt anstarrte. „Ich bin zwar der Henker, aber bei weitem nicht so schlimm, wie du vielleicht annimmst“, ermutigte er Sally, ihre Geschichte zu erzählen.
Endlich raffte sich Sally auf, ihr Herz auszuschütten. Sabrin hatte sie ebenfalls nochmals ermutigt und ihr bestätigt, Raimon wäre der Richtige, um ihr zu helfen.
Sally ließ nichts aus, dem Henker über jedes noch so kleine Detail zu berichten. Je mehr sie von sich gab, desto freier fühlte sie sich. Sie begann bei ihrer Entführung und den schlimmen Dingen, die die Entführer ihr antaten. Auch von ihrem Verdacht sprach sie, dass ihre Stiefmutter die Hände im Spiel hatte, um an das Erbe von Sallys Vater zu kommen. Als sie ihm bei ihrem ersten Mal als Dirne mit Blake ankam, brach sie in Tränen aus. Sie erinnerte sich an die Schmerzen, die sie durch ihn erleiden musste und die lange Zeit der Genesung danach. Sie war körperlich noch längst nicht hergestellt, als sie den ersten Freier danach empfing. Doch sie musste schnell zurück, da Aelfric sie sonst weggeschickt, oder vielleicht noch schlimmer, an einen anderen Hurenwirt verkauft hätte. Zuletzt erzählte sie von Aelfric und dem, was heute vorgefallen war. Mehrmals schüttelte es sie, als sie an Aelfrics leblosen und blutüberströmten Körper dachte, den sie in der Kammer zurückgelassen hatte.
„Und nun bin ich hier und bin auf Eure Güte angewiesen“, beendete Sally ihre Geschichte.
„Als erstes, Mädchen, ich bin Raimon und nicht Ihr! Sag du zu mir, ich bin kein hoher Herr“, sagte Raimon zu Sally, als er eine Weile über deren Worte nachgedacht hatte.
Sally sah den Mann entsetzt an. Zu einem Henker sollte sie eine vertraute Anrede benutzen. Sie war als Dirne inzwischen auch keine ehrbare Frau mehr. „Aber…“, versuchte sie zu widersprechen.
„Kein aber. Ich bin Raimon für dich. Auch wenn ich in deinen Augen wahrscheinlich kein ehrbarer Mann bin…“, weiter kam Raimon nicht, denn nun unterbrach in Sabrin.
„Raimon ist ehrbarer als jeder andere Hochwohlgeborene. Auf ihn kann man sich verlassen.“
„Ist ja schon gut. Ich glaube Euch.“ Sally sah Raimon an. „Ich glaube dir“, verbesserte sie sich, worauf Raimon sie anlächelte.
„Das Einfachste wäre es, wenn du nach Hause zurückkehren könntest“, schlug Raimon vor.
„Zurück zu meiner Stiefmutter?“, Sally fuhr hoch. „Niemals! Dass sie mich dann auch noch umbringen lässt wie meinen Vater?“
„Hm“, Raimon dachte nach. „Freunde? Du hast doch welche?“, wollte er wissen.
„Die habe ich“, erwiderte Sally und berichtete nun von Genefa, ihrem Gatten, Sir Selwyn, von den Kimberleys, aber auch von ihrer Zofe Adelaide.
„Du könntest vielleicht bei einem deiner Freunde unterkommen“, erwiderte Raimon. „Ich würde jemanden hinschicken und eine Botschaft überbringen lassen.“
„Keinesfalls! Nicht nach allem, was geschehen ist“, antwortete Sally. „Sie würden keine Hure und Mörderin bei sich aufnehmen.“
„Auch nicht, wenn wir ihnen erklären, wie alles geschehen konnte?“, warf Sabrin ein.
„Die Hure würden sie mir vielleicht noch durchgehen lassen, aber nicht den Mord.“ Trauer übermannte Sally, als sie an ihre Freunde dachte. Vor allem der Gedanke Sir Selwyn machte sie traurig, der sie bei ihrem letzten Treffen so verliebt angesehen hatte. Warum nur hatte sie innerhalb kürzester Zeit alles, was sie liebte, verlieren müssen. Erst ihren Vater, dann auch noch ihre Freunde.
„Du bleibst erst einmal hier“, schlug Raimon vor. „Bei mir bist du sicher. Niemand vermutet dich hier.“
Obwohl Sally am liebsten sofort das Weite gesucht hätte, sah sie ein, Raimons Vorschlag ist besser als sich auf der Straße verstecken zu müssen, wo an jeder Ecke Gefahr lauerte.
„Komm, sag ja“, sprach Sabrin auf Sally ein, als sie nicht antwortete. „Hier findet dich keiner. Bei Raimon bist du sicher wie in Abrahams Schoß.“
„Mir bleibt ja vorerst nichts anderes übrig“, stimmte Sally endlich zu. Sie fühlte sich in Raimons Nähe zwar nicht sonderlich wohl. Doch laut Sabrin war sie hier sicher und Raimon selbst war verschwiegen wie ein Grab.
„Raimon, mach auf du Hurensohn“, hörten die drei Verbündeten plötzlich draußen rufen. Dann donnerten Fäuste gegen die Tür, dass sie beinahe aus den Angeln fiel.