Sabrin erreichte Dilton Marsh in Rynards Begleitung schneller als sie angenommen hatte. Der Mann trieb sein Pferd an, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Schaumiger Schweiß des Tieres flog ihnen entgegen. Nicht nur einmal musste sich Sabrin diesen aus dem Gesicht wischen.
Die Frau war das Reiten nicht gewohnt. Daher fiel es ihr schwer, nicht herunter zu stürzen. Doch Rynard, ganz Gentleman, bewahrte sie davor. Seine kräftigen Arme umschlangen ihren schlanken Leib und hielten sie fest. Neben dem Pferdegeruch stieg ihr Rynards After Shave in die Nase. Ein Gemisch, das sehr männlich wirkte und sie sehr erregte. Doch der Mann war für sie tabu. Er war der Gatte einer anderen Frau und kein zahlender Freier.
Vom schnellen Ritt hatten sich Sabrins zu einem Zopf geflochtenen Haare gelöst. Nun flatterten sie wirr umher und nahmen Rynard die Sicht. Zum Glück roch sein treuer Hengst Artur den heimatlichen Stall, auf den er nun unhaltbar zustrebte. So konnte sich Rynard voll darauf konzentrieren, die vor ihm sitzende Frau vor einem Absturz zu bewahren. Nur einmal, als Artur über einen kleinen Bach sprang, wären sie beinahe beide vom Pferd gestürzt. Da es inzwischen stockdunkel war, sah Rynard das Hindernis nicht auf sich zu kommen. Sich in vollkommener Finsternis nur auf die Sinne des Hengstes verlassen zu müssen, war dem Mann nicht einerlei. Doch blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Tier und dessen Gespür zu vertrauen.
Schon bald konnte Sabrin in der Ferne Lichter erkennen. „Wir sind fast am Ziel“, wurde ihr von Rynard erklärt. „Dort hinten“, er zeigte auf die Lichter, „ist bereits Dilton Marsh. Das, was du siehst, ist das eigentliche Dorf. Mein Anwesen liegt ein wenig auswärts, nur eine Meile westlich vom Ort entfernt.“
Sabrin nickte nur. Ihr Herz begann wild zu schlagen. Wie mochte Mistress Genefa reagieren, wenn sie ihr von Sallys Schicksal berichtete? Erst von deren Arbeit als Dirne und dann als Gefährtin eines Henkers, eines als unehrenhaft geltenden Mannes. Ob die Madam die Ausrede, dass Sally dies nicht freiwillig tat, gelten ließ? Von Sally wusste sie, dass die Uhren in deren Kreisen ein wenig anders tickten als beim einfachen Volk. Es interessierte niemanden, warum man etwas tat, sondern dass man es tat oder getan hatte. Wer einmal durch das Raster gefallen war, blieb unten. Da gab es kein Zurück. Auf einmal war sich Sabrin nicht mehr so sicher. War es richtig, dass sie sich auf den Weg nach Dilton Marsh gemacht hatte, um Sallys Freunden von deren Schicksal zu berichten? Am liebsten wäre sie vom Pferd gesprungen und hätte das Weite gesucht. Doch jetzt war es zu spät dafür. Rynard ritt eben durch ein großes Tor, das von zwei Bediensteten bewacht und nach ihnen sofort wieder geschlossen wurde.
Kaum hielt das Pferd vor einer breiten Treppe, sprang Rynard schon ab. Er half Sabrin beim Absteigen. Ein Pferdeknecht eilte trotz später Stunde über den Hof und nahm das Tier entgegen, um es in den Stall zu führen und zu versorgen. Gemächlich ging Artur hinter dem Knecht her.
Sabrin stand mit wackligen Beinen vor dem Haus und schaute auf die Vorderfront, dessen Fenster im Untergeschoss hell erleuchtet waren. Sie wagte es nicht, auch nur einen winzigen Schritt zu gehen, aus Angst, sofort zu fallen. Sie fühlte sich schwach und verletzlich. Der schnelle Ritt hatte sie mehr mitgenommen, als der zweitägige Marsch. Jeder Knochen in ihrem Leib schmerzte. Vor allem die Muskeln in ihrem Oberschenkel zitterten. Ihre Schenkel und ihr Hintern fühlten sich wund an.
Rynard schien die Qual der Frau zu bemerken. Lächelnd reichte er ihr seinen Arm, damit sie sich stützen konnte. Dann führte er sie die breite Treppe hinauf. Gerade wollte er das Eingangsportal öffnen, als von innen schwungvoll die Tür aufgerissen wurde. Vor ihnen stand eine junge Frau in einem blauen Seidenkleid, deren weit fortgeschrittene Schwangerschaft nicht mehr zu übersehen war.
„Das muss Mistress Genefa sein“, fuhr es Sabrin durch den Kopf. Sie wusste von Sally, dass deren Freundin guter Hoffnung war. So wie sie sich bewegte, musste sie kurz vor der Niederkunft stehen. Sofort versank Sabrin in einem tiefen Knicks.
„Rynard, Liebster. Endlich bist du zu Hause“, sagte die Frau und fiel Rynard um den Hals, als wäre er wochenlang unterwegs gewesen. Der küsste seine Gemahlin zur Begrüßung auf die Lippen. Dann ließ er sie los, damit er Sabrin vorstellen konnte.
„Du bringst einen Gast mit“, kam Genefa ihm zuvor. Sie sah auf die Besucherin nieder, die immer noch in einem Knicks verharrte und es nicht wagte, sich zu rühren.
„So erhebt Euch doch, meine Liebe“, wandte sich die Hausherrin an Sabrin und reichte ihr die Hand. „Willkommen in unserem bescheidenen Heim“, sagte sie zu ihr. Sie machte die Tür frei, damit sie eintreten konnten.
Als Sabrin in den hell erleuchteten Vorsaal trat, bemerkte Genefa die gelben Bänder an deren Kleid. Sie wurde blass. „Was soll das? Rynard! Du wagst es, eine Dirne in unser Haus zu schleppen?“ Empört stellte sie ihren Gatten zur Rede.
„Liebling, so höre mir doch zu“, versuchte Rynard sie zu beschwichtigen.
„Was gibt es da zuzuhören?“ Genefas Stimme überschlug sich fast. „Meine Augen täuschen mich nicht! Du kommst mitten in der Nacht mit einem Freudenmädchen daher, als wäre es das normalste auf der Welt. Dabei hast du mir gesagt, du hättest mit einem Freund etwas zu besprechen! In Wahrheit warst du im Hurenhaus! Ich fasse es nicht! Was sollen unsere Freunde von uns denken, wenn sie davon erfahren?“
„Genefa! Jetzt höre mir endlich zu!“, verschaffte sich Rynard Gehör. Er sah seiner Gattin fest in die Augen. „Das Mädchen hier…“, er zeigte auf Sabrin, die sich zitternd zurückgezogen hatte. „… das Mädchen mag zwar eine Dirne sein. Aber sie hat uns eine sehr wichtige Nachricht zu überbringen, die uns bei unserer Suche nach Sally viele Schritte vorwärtsbringen wird.“
Als Genefa Sallys Namen hörte, riss sie erstaunt die Augen auf. Ihre Lippen begannen zu beben, dann flossen Tränen. „Du lügst mich auch nicht an?“, hakte sie nach. „Du bringst nicht einfach diese Frau in unser Haus, damit du dich mit ihr vergnügen kannst, während ich unser Kind austrage und unter Schmerzen zur Welt bringe?“ Die Schwangere schluchzte herzerweichend.
„Liebes! Nie und nimmer würde ich dir so etwas antun“, sagte Rynard und zog seine Gemahlin tröstend in seine Arme. „Lass uns in den Salon gehen. Dort wird Sabrin uns alles erzählen, was sie weiß.“
Genefa ließ sich von ihrem Gatten führen. Sie fühlte sich wie eine alte Frau, die kaum noch die Kraft hatte, auf eigenen Beinen zu gehen. Behäbig watschelte sie, ihren dicken Bauch vor sich hertragend, neben Rynard in Richtung Salon. Der drehte sich noch zu Sabrin um und bedeutete ihr, ihnen zu folgen.
Im Salon ließ sich Genefas auf eines der Sofas fallen. Ihr war es, als würde sie gleich ohnmächtig werden. Besorgt nahm Rynard neben ihr Platz. „Ist alles in Ordnung mit dir und dem Kind?“, fragte er besorgt. „Soll ich Selwyn holen lassen, damit er nach dir sieht?“ Zärtlich strich er über die blasse Wange seiner Frau, dann über deren Bauch, in dem sich ihr Nachwuchs munter bewegte. Er spürte, wie hart die Bauchdecke geworden war. „Es ist hoffentlich nur zu viel Aufregung für Genefa. Ich sollte sie mehr schonen“, versuchte er sich zu beruhigen. Daran konnte er nun auch nichts mehr ändern. Es blieb ihm nur noch zu hoffen, dass sie die nächsten vier Wochen bis zur Niederkunft gut überstand und das Baby gesund und munter zur Welt kam.
Sabrin blieb an der Tür stehen und betrachtete überwältigt das edle Mobiliar, mit dem der Salon ausgestattet war. Dass Sally in solch einem Prunk gelebt haben könnte, überstieg ihre Vorstellungskraft. Sie selbst war in bitterer Armut aufgewachsen. Ihre Familie hatte oft nur so viel, dass sie den nächsten Tag überleben konnten. So hatte ihr Vater sie, kaum dass sie den Kinderschuhen entwachsen war, an den Hurenwirt verkauft. Seitdem war sie auf sich selbst gestellt, obwohl sie im Hurenhaus in einer Art Familie lebte, die aus bunt zusammengewürfelten Dirnen und den Bediensteten bestand.
Bisher nahm Sabrin an, ihre Freundin wollte Aelfric, und später auch Rodney, nur mit ihrer Herkunft einschüchtern. Doch wenn sie solche Freunde hatte wie Rynard Longbird und dessen Gattin, konnte sie doch nicht gelogen haben. Dabei war Sally ihr gegenüber nie überheblich wie viele andere Damen ihres Standes, die sie nur von oben herab ansahen und verabscheuten, dass sie ihren Körper für Geld verkauften. Warum sie dies taten oder tun mussten, interessierte sie nicht. Sie lebten in ihrer angeblich heilen Welt und hatten keine Sorgen. Sie mussten sich keine Gedanken machen, wie sie am nächsten Tag die hungrigen Mäuler ihrer Kinder stopfen konnten.
„Komm doch näher. Setz dich!“, hörte Sabrin Rynards Stimme. Er war aufgestanden und kam ihr entgegen. „Verzeih, meiner Gattin scheint die Aufregung nicht zu bekommen“, entschuldigte er sich.
„Red nicht so einen Unsinn“, fuhr Genefa dazwischen. „Sally hat jetzt Vorrang und nicht mein Befinden. Während wir hier im Trockenen sitzen, muss sie sich wer weiß wo herumtreiben.“ Sie angelte nach der Klingelkordel und zog daran. Gleich darauf trat ein junges Mädchen ein, dem sie einige Befehle erteilte. Nachdem das Mädchen den Salon verlassen hatte, wandte sich Genefa an Sabrin. „Setz dich endlich. Du nimmst mir die Ruhe“, sagte sie lächelnd zu ihr und wies auf einen der Sessel.
Sabrin nahm endlich Platz, wagte es sich aber nicht, das Wort zu ergreifen.
„Du kennst also unsere Sally?“, durchbrach Genefa als erste die aufkommende Stille.
Nickend bejahte Sabrin die Frage.
„Nun berichte endlich. Ich habe keine Lust, dir jedes Wort aus der Nase zu ziehen!“ Genefa wurde ungeduldig. Sie konnte es kaum erwarten, die Neuigkeiten zu erfahren. Endlich war jemand wie aus heiterem Himmel aufgetaucht, der etwas über den Verbleib der vermissten Freundin wusste. Dass dies gerade eine Dirne war, behagte ihr zwar nicht. Sie fand aber, das wäre immer noch besser als gar nichts. Was sollte sie machen? Wenn es bei der Suche half, war ihr jeder recht, der etwas beisteuern konnte. Auffordernd sah Genefa Sabrin an, sie sich endlich aufraffte, über Sally zu berichten.
Als sich Genefa bequem zurücklehnen wollte, zog ein stechender Schmerz durch ihren Unterleib. Hechelnd wartete sie ab, bis sich der Krampf verzogen hatte. Da sie bereits Kinder geboren hatte, wusste sie, was dies bedeuten könnte.
Rynard blickte sie an. Doch ehe er etwas sagen konnte, winkte sie nur ab. Erneut wandte sie sich an Sabrin, die darauf wartete, endlich preiszugeben, was sie wusste.
Genefa und Rynard hörten Sabrin gespannt zu. Diese begann ohne Umschweife mit der Entführung Sallys. Was ihr dabei zugestoßen war, verschwieg sie lieber. Sie wusste nicht, ob es Sally recht war, dass ihre Freunde von der Vergewaltigung erfuhren. Doch bei allem danach ließ sie nichts aus. So erfuhren die Freunde von ihrem unglücklichen Beginn als Dirne und den schweren Verletzungen, die ihr von Blake zugefügt wurden. Sie ließ nichts aus. Auch nicht, dass der Hurenwirt Aelfric durch Sallys Hand sein Leben lassen und sie danach fliehen musste.
Genefa hielt sich die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu ersticken. „Sie hat wirklich…?“, stieß sie stotternd aus. Sabrin nickte darauf nur zustimmend.
„Geschieht dem Kerl recht“, sagte Rynard kaltschnäuzig und ohne eine Miene zu verziehen. Dann forderte er Sabrin auf, weiter zu sprechen.
Es wurde ein langer Abend. Sabrin hatte viele Fragen zu beantworten. Gerne gab sie Sallys Freunden Auskunft. Als sie hinter vorgehaltener Hand zu gähnen begann, besann sich Genefa auf ihre Hausfrauenpflichten.
„Entschuldige“, rief sie aus. „Ich vergaß, du warst zwei Tage zu Fuß unterwegs, um zu uns zu gelangen. Du musst sehr müde und erschöpft sein. Was bin ich für eine nachlässige und unaufmerksame Gastgeberin.“ Sie stemmte sich vom Sofa hoch und klingelte erneut nach dem Mädchen.
„Bringe Miss Sabrin auf ihr Zimmer“, befahl sie dem Mädchen. „Ist alles für ein Bad bereit? Sind neue Kleider für Miss Sabrin gebracht worden?“, wollte sie wissen.
„Jawohl, Madam“, erwiderte das Mädchen und knickste. „Wenn Ihr mir folgen würdet“, wandte es sich dann an Sabrin. Dass es ihr nicht gefiel, eine Dirne wie eine Hochwohlgeborene zu behandeln, konnte Genefa nicht entgehen.
„Wenn ich höre, dass sich jemand über die Herkunft unseres Gastes das Maul zerreißt, der wird sofort entlassen!“, fuhr Genefa die Bedienstete an. „Miss Sabrin ist in unserem Haus eine willkommene Person, an der uns sehr viel liegt!“
„Sehr wohl, Mistress. Wie Ihr befehlt“, erwiderte das Mädchen errötend. Es war peinlich berührt, dass ihre Herrin genauestens ihre Gedanken lesen konnte und es ihr sogleich auf den Kopf zu sagte.
„Gleich zum Morgenmahl werden unsere Freunde hier sein“, sagte Rynard noch zu Sabrin, ehe sie den Salon verließ. „Ich hoffe, es ist dir recht, alles noch einmal zu erzählen.“
„Natürlich, das tue ich gerne“, erwiderte Sabrin und folgte nun dem Mädchen ins Obergeschoss des Hauses, wo Genefa ein Zimmer für sie hatte herrichten lassen. Erfreut jauchzte sie auf, als sie auch noch einen Badezuber mit heißem Wasser und ein Tablett mit einem Imbiss vorfand. Die auf sie wartenden Mädchen konnten ihr gar nicht schnell genug behilflich sein, so flugs war sie aus ihren Kleidern geschlüpft und in das nach Rosen duftende Wasser gestiegen. Hungrig griff sie nach den Häppchen, die eines der Mädchen neben ihren Zuber gestellt hatte, damit sie das Essen bequem erreichen konnte.
Während es sich Sabrin eine Etage höher gut gehen und sich verwöhnen ließ, saßen Rynard und seine Gattin noch einige Zeit im Salon. Sie konnte es immer noch nicht glauben, dass ihr liebe Freundin lebte und in Sicherheit war. Rynard hatte bereits einen Boten zu Sir Selwyn und Lord Kimberley geschickt, damit die von der freudigen Neuigkeit erfuhren. Nur eines machte ihm nun noch große Sorgen: Sally wollte laut Sabrins Aussage keinesfalls zurück zu ihren Freunden. Nicht, nachdem sie unehrenhaft als Dirne arbeiten musste.
Schluchzend saß Genefa auf dem Sofa. Wie konnte ihre Freundin nur annehmen, dass nach allem, was ihr angetan worden war, ihre engsten Freunde nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten? Genefa verstand die Welt nicht mehr und Rynard tat alles, seine Gattin zu beruhigen und ins Bett zu bringen.