Sally hatte alle Hände voll zu tun. Raimons und ihr Haushalt musste aufgelöst werden. Zum Glück wollten sie nicht alles mitnehmen. In Trowbridge würden sie in Sallys Elternhaus leben. Dort war alles vorhanden, was benötigt wurde. So entschlossen sie sich, Raimons Nachfolger Vince den übrigen Hausstand zu überlassen. Der junge Henker hatte noch nie einen eigenen Haushalt und konnte die vorhandenen Dinge eher gebrauchen als sie selbst.
Von dem Geld, das Sally aus dem Hurenhaus mitgenommen hatte, war noch ein wenig übrig. Außerdem hatte Raimon seinen gesamten Lohn ausbezahlt bekommen. Das Leben auf der Reise nach Dilton Marsh und darüber hinaus war aufs Erste gesichert.
„Ganz beruhigt bin ich nicht, so viel Geld mit uns zu führen“, sagte Sally, nachdem sie die Barschaft gezählt hatte. Über fünfzig Gulden waren zusammen gekommen. Ein Vermögen für arme Leute, die damit Jahre überleben konnten.
„Nähe es doch in die Kleidungsstücke ein“, meinte Raimon darauf. „Am besten verteilt auf mehrere.“
„Eine gute Idee“, erwiderte Sally und machte sich sogleich daran, das Geld einzunähen. Als sie damit fertig war, schaute sie sich noch einmal im ganzen Haus um. Ein wenig schwer wurde es ihr ums Herz, wenn sie daran dachte, Exmouth zu verlassen. Hier war sie frei und konnte tun und lassen, was sie wollte. In Trowbridge würde sie wieder der strengen Etikette unterliegen. In Exmouth war es nicht immer leicht, vor allem am Anfang. Sie hatte sich trotz allem in die kleine Stadt verliebt. Hier konnte sie, wann immer es ihr beliebte, zum Markt gehen oder auch einfach durch die Straßen und Gassen flanieren.
Andererseits freute sie sich auch auf Trowbridge, obwohl nichts mehr so sein würde wie früher. Ihr Vater mit seinem Frohsinn fehlte dort. Wie gern hätte sie ihm sein erstes Enkelkind auf den Schoß gesetzt, damit er mit ihm singen und es schunkeln konnte. Doch das Leben wollte es anders. Ihr Vater war tot. Dann war da noch ihre gehasste Stiefmutter, mit der sie sich auch noch auseinander setzen musste. Wenn sie wirklich ihre Hände bei Sallys Entführung im Spiel hatte, würde sie diese an die Obrigkeit ausliefern müssen. So sehr wie sie Lilith auch hasste, ob sie das wirklich übers Herz bringen würde, Sally wusste es noch nicht. Zum Glück hatte sie noch Raimon, der sich in solchen Dingen bestens auskannte.
Ihre Freundin Genefa lebte nicht weit entfernt von ihrem Anwesen. Ein Weg von etwa einer halben Stunde zu Fuß war es entfernt. Sie könnte den Kutscher bitten, sie zu fahren. Jedoch war sie es inzwischen gewohnt, zu Fuß zu gehen. Vielleicht würde sie dies nun auch in Trowbridge tun.
Am nächsten Morgen krochen alle noch weit vor Sonnenaufgang aus den Federn. Der Hahn krähte gerade ein erstes Mal, als Raimon sich bereits daran machte, das Pferd an den am Vorabend beladenen Wagen zu spannen. Faylynns geliebte Hühnchen, die sich inzwischen zu prächtigen eierlegenden Hennen gemausert hatten, mussten auch mit. Die Kleine bestand darauf. So wurde das gackernde Getier in einen großen Käfig gesperrt, in dem sie die Reise verbringen sollten. Raimon hatte mit den Jungen extra einen aus Weidenzweigen angefertigt.
Sehr viel war es nicht, was sie mitnehmen wollten. Aber Raimons Richtschwert, die Kiste mit den Folterinstrumenten, die Heilkräuter und Salben, sowie seine Bücher und handschriftlichen Aufzeichnungen über seltene Behandlungen, durften nicht fehlen. Von seinen verstorbenen Kindern und seiner ersten Gattin nahm er persönliche Erinnerungsstücke mit, darunter auch eine Haarsträhne seiner Frau. Den Rest ließ er zurück. Die zurückbleibenden Sachen konnte sein Nachfolger garantiert gebrauchen, wenn er irgendwann Frau und Kinder hatte.
Edwina wuselte ein letztes Mal durch das Haus. Ihr fiel es von allen am schwersten, Exmouth zu verlassen. Ihr ganzes Leben hatte sie hier verbracht. Sie schaute, ob alles verschlossen und gesichert war. Leise murmelte sie dabei vor sich hin, als würde sie sich von jeder Kammer, jedem Gegenstand, den sie zurück ließen, verabschieden.
Auch Sally blickte sich noch einmal um, ehe sie die letzte Glut im Ofen löschte und mit kalter Asche bedeckte.
Raimon hatte inzwischen das Pferdegespann nach draußen in die Gasse gebracht. Die Kinder saßen bereits auf dem Wagen und auch der Henker hatte auf dem Kutschbock Platz genommen. Das Pferd scharrte ungeduldig mit den Hufen. Es spürte wohl die Aufbruchstimmung der Menschen. Einige Nachbarn ließen es sich nicht nehmen, die kleine Henkersfamilie zu verabschieden und ihnen einen guten Weg zu wünschen.
Dem Henker wurde es nun doch wehmütig. Exmouth zu verlassen, fiel ihm nicht leicht. Die letzten dreißig Jahre hatte er hier verbracht. Es war ein großer Einschnitt in sein Leben, doch für Sally tat er alles, nur um sie glücklich zu machen. Er freute sich aber auch auf die gemeinsame Zeit mit seiner jungen Frau, den Kindern und Edwina. Die resolute alte Frau war ihnen eine große Hilfe geworden. Eins machte Raimon glücklicher als je zuvor. Er musste den verhassten Beruf eines Henkers, der sein ganzes Leben geprägt hatte, nicht weiter ausführen und konnte über sich selbst bestimmen. Er war seit seiner Entlassung aus den Diensten der Stadt ein freier Mann.
Da Raimons Nachfolger Vince noch nicht eingetroffen war, fuhren sie ein letztes Mal zum Rathaus. Dort gaben sie den Hausschlüssel ab. Später würde Vince ihn dort abholen.
Das Pferd, das Raimons Wagen zog, zuckelte gemächlich die holprige Straße entlang. Der Scharfrichter hatte die Zügel lang gelassen und ließ das Tier das Reisetempo bestimmen. Nur wenn ein Reiter vorbei preschte, ein anderer Wagen sie überholen oder ihnen entgegenkam, lenkte er es an den Wegesrand. An vielen Stellen war die Straße so eng, dass sie bei entgegenkommenden oder überholenden Gespannen weit nach rechts oder links ausweichen mussten. Einmal hatten sie das Pech, dass der schwere Wagen im versumpften Graben stecken blieb und sie ohne Hilfe nicht mehr herauskamen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten, bis jemand vorbei kam, der helfen konnte. Sie mussten glücklicherweise nicht sehr lange warten. Eine Gruppe von Tagelöhnern auf dem Weg zum nächsten Dorf kreuzte ihren Weg. Die Männer halfen ihnen, den Wagen auf dem Graben zu ziehen. So konnte es endlich weiter gehen.
Kurz vor Dilton Marsh kam ihnen ein einsamer Reiter entgegen. Der Mann hatte es scheinbar sehr eilig. Er trieb sein Pferd an, dass dies bereits schweißbedeckt war, als er sie erreichte. Als er heran war, erkannte Sally Sir Selwyn.
Auch Selwyn sah, wer ihm auswich, um ihn vorbei zu lassen. Er zügelte sein Pferd so heftig, dass das Tier wütend wieherte und stieg. Selwyn hatte Mühe, sich im Sattel zu halten.
„Ihr solltet das arme Tier nicht so sehr hetzen“, rief Raimon ihm zu. Ihm dauerte das Tier, das beinahe am Ende seiner Kräfte war.
„Was geht es Euch an?“, brauste Sir Selwyn auf. „Ich kann mit meinem Pferd tun und lassen, was ich will.“ Er warf dem Henker böse Blicke zu. Dann aber wandte er sich an Sally, die sich nach hinten zu den Kindern gesetzt hatte. Sie hatte ihnen von Trowbridge und ihrer Kindheit erzählt. Nun aber wurde sie unterbrochen. „Du bringst gleich die ganze Henkersbrut mit!“, giftete Selwyn Sally an. „Deine eigenen Bastarde können es ja nicht sein. Die können sich gleich in ganz Trowbridge breit machen. Die Leute dort werden sich ganz bestimmt freuen.“
Sally fuhr auf. „Was bildet Ihr Euch eigentlich ein?“, giftete sie zurück. „Lasst gefälligst die Kinder in Ruhe. Seid froh, dass ich Euch überhaupt noch anschaue, nach dem, was Ihr Euch in dieser Herberge geleistet habt! In Grund und Boden solltet Ihr Euch schämen!“
„So weit bist du schon gesunken, dich für solche Leute einzusetzen!“ Er zeigte mit dem Finger auf Raimon, der der Debatte bislang wortlos gefolgt war.
„Jetzt reicht es aber, Sir Selwyn“, mischte er sich nun doch ein. „Wie könnt Ihr es wagen, sich so ungebührlich meiner Gattin gegenüber zu verhalten. So was wie Ihr nennt sich Adliger. Dass ich nicht lache! Schlimmer als jeder Halunke in den Gassen Londons seid Ihr. Eure Kinderstube lässt arg zu wünschen übrig!“
„Pfui Deibel! Was für ein ungehobelter Kerl“, meldete sich nun noch Edwina zu Wort und spuckte aus. Ein fetter Schleimbatzen flog in Selwyns Richtung und blieb an dessen blank geputztem Lederstiefel hängen.
Entsetzt schaute Selwyn auf seinen beschmutzten Stiefel. Er hob seine Reitpeitsche, um Edwina damit zu schlagen. „Du wagst es, du alte Hexe! Dir werde ich zeigen, wer den längeren Arm hat!“ Eben wollte er zuschlagen, als nach ihm gefasst und an ihm gezerrt wurde, dass er das Gleichgewicht verlor und aus dem Sattel rutschte. Unsanft landete er im Graben mitten im Schlamm. Als sich Selwyn von seinem Schrecken erholt hatte, blickte er direkt in die hämisch grinsenden Gesichter von Travis und Barnet. Die Jungen hatten sich ihm unbemerkt genähert und vom Pferd gezerrt. Schimpfend rappelte sich Selwyn auf und wollte sich auf die Kinder stürzen. Doch nun wurde er von Raimon am Kragen gepackt und mächtig durchgeschüttelt.
„Es ist besser, Ihr reitet jetzt weiter!“, sagte der Henker leicht drohend zu ihm. „Wie Ihr seht, ist mit meiner Familie nicht zu spaßen, wenn es um unsere Ehre geht. Also trollt Euch lieber, ehe ich mich auch noch vergesse.“
Als hätte er sich verbrannt, stieß Selwyn Raimons Hand weg. „Das werdet ihr mir alle büßen. Du und deine Henkersbrut“, spie er Raimon entgegen.
„Es ist wirklich besser, wenn Ihr uns aus dem Weg geht“, sagte Sally, die nun ebenfalls dazu gekommen war. „Gerade von Euch bin ich sehr enttäuscht. Dabei nahm ich immer an, Ihr wärt ein Freund. Wie gut, dass ich nun Euer wahres Gesicht erkennen konnte. Wenn mein Vater wüsste, wie sehr Ihr Euch nach seinem Tod geändert habt, er würde sich im Grabe umdrehen.“
„Halt´s Maul, du Henkershure! Wie ich eben sehe, trägst du nun auch noch seinen Balg aus. Aus dem Wanst treten müsste man es dir“, brüllte Selwyn Sally an. Er hob die Hand und schlug ihr mitten ins Gesicht. Alles ging so schnell, dass Raimon nicht mehr reagieren konnte. So traf Sally die Wucht des Schlages ungebremst. Sie taumelte und fiel hin.
Edwina schrie erschrocken auf, die kleine Faylynn begann zu weinen und hing sich an den Rockzipfel der alten Frau. Vorsichtig spähte sie hinter ihr auf den bösen Mann, der ihre geliebte Tante geschlagen hatte.
Travis und Barnet sahen die Familienehre verletzt und wollten sich auf Sir Selwyn stürzen. Raimon aber hielt die Buben zurück. „Lasst das! Dieser Kerl da“, er zeigte auf Selwyn, „ist es nicht wert, sich an ihm die Hände schmutzig zu machen. Steigt sofort auf den Wagen.“ Die Jungen gehorchten ohne Widerworte, steckten aber beim Aufsteigen Selwyn die Zunge heraus.
„Und du Bastard“, brüllte Raimon Selwyn an, „sieh mich an und sei Manns genug, mir Aug in Aug gegenüber zu treten. Frauen schlagen kannst du ja gut. Wollen wir mal sehen, ob du es auch mit mir aufnehmen kannst! Hast wohl schnell die Hosen voll, wenn du einem gestandenen Mann entgegen treten musst?“
Selwyn wollte etwas entgegnen. Raimon ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Wir wollen uns lieber nicht mit deinem abscheulichen Gelabere den Tag versauen lassen. Verschwinde am besten! Geh uns aus den Augen und belästige uns nie wieder!“
„Schon gut, ich bin gleich weg“, wehrte Selwyn Raimons Worte ab. Er zog sich seinen mit Schlamm verschmutzten Rock glatt und ging zu seinem Pferd, das die ungewollte Pause damit verbrachte, das karge Gras am Wegesrand zu knabbern. Selwyn stieg auf und gab dem Tier die Sporen. Während er wie von Teufeln gehetzt davon ritt, hörte er noch, wie Sally ihm etwas nachrief. Es hörte sich an wie „auf Nimmerwiedersehen“.
Als Raimon sich Sally zuwandte, kümmerte sich bereits Edwina um seine Gattin. „Geht es dir gut, Liebling?“, fragte er fürsorglich. „Ist etwas mit dem Kind?“ Zärtlich strich er über Sallys gewölbten Bauch.
„Mir brennt nur meine Wange ein wenig. Ansonsten ist alles in Ordnung“, beruhigte Sally ihren Gemahl.
„Wirklich?“, fragte Raimon lieber noch einmal nach.
„Ja, wirklich. Es geht mir gut. Mach dir keine Sorgen“, erwiderte Sally. „Lass uns lieber weiter fahren. Es ist nicht mehr weit.“ Sie ließ sich von Raimon auf den Wagen helfen, wo sie es sich gleich hinter dem Kutschbock in der Ecke bequem machte. Erschöpft lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Planken. Als sie die Beine ausstreckte, durchzog ein heftiger Schmerz ihren Leib. Krampfhaft verkniff sie sich ein Stöhnen. Sie wollte auf keinen Fall Raimon auf ihren Schmerz aufmerksam machen, der sich sofort wieder um sie gesorgt hätte.
Faylynn aber hatte ihr Zusammenzucken bemerkt und schaute sie ängstlich an. „Alles gut, Liebes“, beruhigte Sally das Mädchen, das sich daraufhin zufrieden an sie kuschelte. Sally begann, Lieder aus ihrer Kindheit zu singen. Faylynn summte begeistert mit.
„Lernst du mir auch solche Lieder“, wollte die Kleine wissen, als Sally eine Verschnaufpause benötigte.
„Wenn du es möchtest, so viele wie du willst“, erwiderte Sally.
„Kennst du viele?“, fragte Faylynn begeistert.
„Sehr viele“, sagte Sally darauf und begann erneut zu singen. Das Mädchen stimmte so gut es ging ein. Sogar die Jungen ließen sich hinreißen.
Edwina und Raimon vorn auf dem Kutschbock kannten auch einige Texte und gaben diese zum Besten. Die Stimmung der kleinen Reisegesellschaft hellte sich auf und schon bald war ihr Gesang beinahe perfekt.
Während sie sich die Zeit mit Singen vertrieben, näherten sie sich Dilton Marsh schneller als sie angenommen hatten. Kurz vor Sonnenuntergang erblickte Raimon die ersten Häuser des Dorfes. „Schau mal“, wandte er sich an Sally, die sich daraufhin hinter ihn stellte und sich an der Lehne des Kutschbockes festhielt.
„Dilton Marsh! Endlich!“, seufzte sie erleichtert. Wie lange schon war sie nicht mehr hier? Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Sie war froh, die Strapazen der Fahrt bald hinter sich zu haben. Das heranwachsende Kind in ihrem Leib schien ihre Freude zu teilen. Es boxte kräftig von innen gegen ihre Bauchdecke, dass es schmerzte. Plötzlich stutzte Sally. Was war das? Es fühlte sich an, als ob nicht nur ein kleines Menschenkind in ihr heranwuchs. Könnte es sein, dass… Sally erschrak. Nein! Sie wollte sich lieber nicht verrückt machen.
„Welchen Weg müssen wir nehmen?“, riss Raimon seine Frau aus ihren Gedanken. Zu ihrem Glück hatte er in der aufkommenden Dämmerung ihre Gemütslage nicht bemerkt, sonst hätte er sich sofort wieder Sorgen gemacht.
„Den links. Etwa noch eine halbe Meile. Dann sind wir schon bei Genefas und Rynards Anwesen“, erklärte sie.
„Sind wir da?“, plapperten die Kinder aufgeregt durcheinander.
„Das sind wir, nur noch ein paar Minuten“, erwiderte Sally lächelnd und freute sich ganz plötzlich darauf, wieder in ihrer Welt zu sein. Nun war es an ihr, Raimon, den Kindern und auch Edwina den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Erst hatten Raimon und Edwina für sie gesorgt. Ab sofort lag diese Aufgabe bei ihr. Ob es ihr gelang?