Während sich Sally erholte und ihre körperlichen Wunden langsam heilten, leitet in ihrem Heimatort Lord Cedric Kimberley die Suche nach ihr ein. Sein Kundschafter Garrick Moore, den er eigenhändig zu sich gebeten hatte, saß dem Lord in seinem Arbeitszimmer gegenüber. Außerdem hatten sich auch Miss Sallys Freunde zu dem Treffen dazu gesellt. Adelaide, die als Hauptaugenzeugin am Ort des mutmaßlichen Verbrechens galt, beantwortete die Fragen des Detektivs so gut es ging.
„Es ist schade, dass Ihr gerade in der Tatnacht bei Euren Eltern genächtigt habt“, sagte Garrick eben zu der Zofe, die wie ein Häufchen Elend auf ihrem Stuhl saß und vor Aufregung Mühe hatte, sich ordentlich auszudrücken.
„Wir konnten doch nicht ahnen, dass genau in dieser Nacht ein Anschlag auf meine Herrin verübt wird“, wehrte Adelaide verzweifelt ab. „Außerdem wollte es Miss Sally so.“
„Das sollte kein Vorwurf sein, Miss“, versuchte der Detektiv das Mädchen zu beruhigen. „Anscheinend wusste Sally, wie gefährlich ihre Stiefmutter ist und wollte Euch aus deren Reichweite wissen. Bitte denkt nicht, ich will Euch etwas anhängen. Es ist nicht Eure Schuld, dass es so gekommen ist. Aber jeder noch so kleine Hinweis könnte wichtig sein, auch wenn er in den Augen anderer nicht als wichtig erscheint.“
„Entschuldigt bitte, das hatte ich falsch aufgefasst. Ich fühle mich aber so schuldig“, entgegnete Adelaide errötend, als Garrick geendet hatte.
„Ihr müsst Euch nicht schuldig fühlen“, erwiderte dieser. „Doch nun erzählt bitte weiter.“
Adelaide versuchte, sich zu erinnern. So erfuhr Garrick vom angeblichen Unfalltod Adrians. Aber auch von Liliths Drohung, Sally ins Kloster zu schicken, falls sie nicht innerhalb einer bestimmten Zeit verheiratet sein sollte, oder wenigstens eine Eheschließung bevorstehen sollte.
Garrick machte sich Notizen, um keinen Hinweis zu vergessen. „Seit wann wusste Miss Sally von der Drohung mit dem Kloster und wann sollte sie dorthin?“, wollte er wissen, worauf Adelaide den Zeitpunkt auf etwa ein Jahr vorher datierte. Auf Garricks Frage, wann und unter welchen Umständen der Vater der Vermissten zu Tode kam, schwiegen erst einmal alle Betroffenen. Der Detektiv wusste, manchmal musste er seinen Klienten ein wenig Zeit geben, damit sie sich sammeln konnten. Vor allem, wenn vom einem schlimmen Ereignis zu berichten war. Deshalb schwieg er vorerst und wartete.
„Darf ich?“, fragte Sir Selwyn, als er bemerkte, Adelaide tat sich schwer, über Adrians Tod zu sprechen.
„Natürlich“, antwortete die Zofe. Sie war froh, nun nicht weiter sprechen zu müssen.
So erfuhr Garrick nun von Sir Selwyn genaueres über den Vorfall an Sallys Geburtstag und denen zu Adrians Beerdigung.
Wortlos dachte Garrick über Selwyns Bericht nach.
„Da fällt mir noch etwas ein“, durchbrach Sir Selwyn plötzlich die aufgekommene Stille.
„Bitte, erzählt, was Euch aufgefallen ist“, forderte Garrick den Mann auf. Auch alle anderen waren gespannt, was ihrem Freund noch einfallen war.
„Ich erinnere mich, wie Lilith am Tag von Adrians Beerdigung zwei zwielichtige Gestalten empfangen hat. Ich konnte die Unterredung aus nächster Nähe mitverfolgen. Die beiden verlangten den Rest des Geldes, das ihnen für einen Auftrag versprochen wurde. Sie hat ihnen dann Schmuck als Anzahlung für den Rest des Geldes angeboten, da sie nicht so viel Bargeld im Haus hatte. Über genug Geld würde sie erst nach der Testamentseröffnung verfügen. Am selben Abend hat sich Lilith wie ein Dieb aus dem Haus geschlichen, um den Schmuck zu übergeben. Ich bin ihr heimlich gefolgt und habe das Ganze beobachtet.“
„Das ist ja sehr interessant. Dem sollte ich nachgehen und herausfinden, was das für Kerle waren. Vielleicht gibt es da einen Zusammenhang zwischen Adrians Tod und Sallys Verschwinden“, gab Garrick zum besten, als Sir Selwyn geendet hatte. „Habt Ihr die dunklen Gesellen vorher schon einmal irgendwo gesehen?“
„Ich kannte die Männer nicht. Sie redeten nur etwas von ausgeführtem Auftrag“, erwiderte Selwyn. „Ob es einen Zusammenhang der beiden Ereignisse gibt, das kann ich nicht sagen. Ich traue es Lilith zu, ihren Gatten und die ungeliebte Stieftochter aus dem Weg geräumt zu haben. Sie ging schon immer über Leichen, wenn es für sie von Vorteil war.“ Selwyn berichtete noch kurz, wie es dazu kam, dass Adrian Lilith ehelichte. Als Jugendfreund des Verstorbenen kannte er die Zusammenhänge der Verbindung.
„Gut, das ist schon ein Punkt, an dem ich ansetzen kann“, erwiderte Garrick. Er stand auf und ging zum Fenster. Nachdenklich schaute er hinaus in den Garten. „Nun aber noch einmal zu Sally“, sprach er weiter, nachdem er sich zu seinen Klienten umgedreht hatte. „In welches Kloster sollte Sally eintreten?“
„Das in Canterbury“, antwortete Adelaide sogleich. „Eine Woche nach ihrem Geburtstag sollte sie dorthin reisen. Doch dann kam die Entführung dazwischen. Vielleicht ist sie ja dort und wir wissen es nur noch nicht.“
„Das werde ich als Erstes recherchieren“, versprach der Detektiv. „Nur verstehe ich nicht, warum Eure Freundin dorthin entführt worden sein soll, wenn sie eine Woche später sowieso dorthin gehen musste.“
„Das wird Eure Aufgabe sein, auch das herauszufinden“, warf Lord Cedric ein.
„Auf alle Fälle werde ich dies tun“, meinte Garrick darauf. „Wenn Sally wider Erwarten nicht im Kloster angekommen sein sollte, muss ich nachdenken, welche Schritte ich als nächstes tun werde.“
„Tut das, Mister Moore“, sagte Lord Cedric. Er öffnete die Schublade seines Schreibtischs und holte einen prall gefüllten Lederbeutel heraus. „Das sollte für den Anfang genügen“, meinte er, während er diesen seinen Kundschafter überreichte.
„Das ist mehr als genug“, sagte Garrick lächelnd, als nach dem Inhalt geschaut hatte.
„Nehmt nur, Ihr werdet es brauchen“, wehrte Lord Cedric ab, als Garrick einen Teil des Geldes zurückgeben wollte.
„Herzlichen Dank“, erwiderte Mister Moore und verbeugte sich vor seinem Auftraggeber. „Das wäre für heute alles. Sollte ich noch Informationen benötigen, melde ich mich. Ladies, Gentleman. Sie hören von mir!“ Garrick verbeugte sich nochmals knapp und verließ die illustre Gesellschaft.
„Ob Mister Moore unsere Miss Sally findet?“, ließ Adelaide leise von sich hören, nachdem der Kundschafter die Tür hinter sich geschlossen hatte. Noch hatte die Zofe keine Hoffnung, ihre Herrin jemals wieder zu sehen.
„Aber meine Liebe! Ihr zweifelt? Nicht doch“, erwiderte Lady Ophelia. „Moore ist gewitzt und hat bisher immer zu unserer Zufriedenheit gearbeitet. Warum sollte er es dieses Mal nicht tun? Dazu gibt es keinen Grund. Kopf hoch und zweifelt nicht. Unsere Miss Sally wird bald wieder unter uns weilen. Wir müssen ganz fest daran glauben und beten.“ Aufmunternd und tröstend strich sie dabei über Adelaides Arm.
Nachdem Garrick sich verabschiedet hatte, beschloss er, zuerst nach Canterbury zu reiten, um dort die Suche nach der Vermissten aufzunehmen. Unter einem Vorwand wollte er sich ins Kloster einschleichen. Vielleicht hatte er Glück und Sally befand sich wirklich dort. Wenn nicht, bedeutete das viel Arbeit für ihn. Doch der prall gefüllte Beutel voller Geld entschädigte ihn schon jetzt für seinen Aufwand.
„Mein Pferd bitte“, rief Garrick einem Knecht zu, der eben über den Gutshof gelaufen kam und anscheinend nichts zu tun hatte.
„Sofort Sir“, antwortete der Mann und führte den Befehl sogleich aus. Wenig später ritt Garrick in Richtung Canterbury vom Hof.
Auf dem Weg zum Kloster überlegte Garrick seine weiteren Schritte, um Auskunft über den Verbleib der Vermissten zu erhalten. Eigentlich wollte er einen Vorwand benutzen, dachte dann aber, es wäre besser, sich als ein entfernter Verwandter auszugeben, der Sally gerne besuchen wollte. Umso mehr erstaunte es ihn, als er erfuhr, dass eine Elizabeth Susan Montgomery nie im Kloster angekommen war.
„Wir haben uns schon gewundert“, erklärte die Äbtissin, die sehr über den Besuch eines Detektivs erstaunt war. „Miss Sally wurde uns von ihrer Stiefmutter angekündigt. Sie gab an, das Mädchen würde sich nach dem Tod ihres Vaters eine Zeit lang hierher zurückziehen wollen, um zur Ruhe zu kommen. Die Aufregung und der Trubel hätten Mister Montgomerys Tochter zu sehr mitgenommen.“
„Nun ja, Aufregung gab es wirklich, die Sally zu verkraften hatte“, entgegnete Garrick nachdenklich.
„Ich habe sogar einen Boten geschickt und nachfragen lassen als Miss Sally nicht wie vereinbart hier eintraf. Man macht sich ja auch Sorgen um seine Schäfchen“, erzählte die Klostervorsteherin redselig. Dass Sally eher als vereinbart hierher verschleppt werden, dann aber an einen geheimen Ort gebracht werden sollte und sie selbst davon Kenntnis hatte, ließ die Frau lieber aus. Der Verwandte sollte keinesfalls Verdacht schöpfen.
„Wie war Mistress Liliths Antwort auf Eure Depesche?“, wollte Mister Moore wissen.
„Hier ist der Brief“, sagte die Äbtissin, nachdem sie aus ihrer Schublade einen zusammengefalteten Briefbogen genommen und diesen dem Detektiv gereicht hatte.
„Eigenartig, eigenartig“, murmelte Garrick verwirrt. „Hier steht, sie hätte ihre Stieftochter wie vereinbart losgeschickt. Aber eine junge Frau verschwindet doch nicht einfach, ohne jedwede Spur zu hinterlassen. Habt Ihr Kenntnis, ob Mistress Lilith wirklich nach ihrer Stieftochter suchen ließ?“
„Davon weiß ich nichts“, erwiderte sein Gegenüber diesmal wahrheitsgemäß. „Ich habe der Mistress später das Geld zurück geschickt, das sie im Voraus für Miss Sallys Aufenthalt hier gezahlt hatte. Seitdem habe ich nie wieder etwas von ihr gehört.“
„Das ist wirklich sehr eigenartig“, murmelte Garrick nochmals und schüttelte den Kopf. „Vielen Dank für Eure Auskünfte, auch wenn diese keine guten Erkenntnisse für mich waren“, sagte er dann und stand auf, um sich zu verabschieden.
„Was wollt Ihr nun tun?“, fragte die Äbtissin.
„Vielleicht treffe ich Sally irgendwo, wenn ich auf Geschäftsreise bin. Ich reise sehr oft durch das ganze Land“, log Garrick ohne rot zu werden. Er wollte der Frau, die er als sehr zwielichtig einschätzte, nicht zu viel verraten. Sie musste nicht wissen, dass er als nächstes Lilith aufsuchen und befragen wollte. Womöglich trug sie der Frau zu, dass es jemanden gab, der nach deren Stieftochter sucht. Dann war die Überraschung über sein Auftauchen dahin. Manchmal war es bei seiner Arbeit als Detektiv notwendig, nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Zu lügen eigentlich auch nicht. Ab und zu ließ sich das aber nicht vermeiden.
„Tut das. Ich wünsche Euch viel Glück“, erwiderte die Frau. „Doch nun muss ich mich verabschieden. Wir halten gleich eine Messe ab. Gott schütze Euch, junger Mann“, sagte sie noch und komplimentierte Garrick hinaus.
„Gott schütze Euch auch“, konnte er gerade noch sagen, ehe die Äbtissin ihm die Tür vor der Nase schloss.
Nachdenklich lief Garrick den langen Säulengang des Klosters entlang. Wie konnte es sein, dass die Gesuchte hier niemals angekommen sein sollte. Während er gedankenverloren in Richtung Klosterhof ging, wo er sein Pferd neben dem Brunnen angebunden hatte, achtete er nicht auf den Weg.
Plötzlich hörte er eine Frauenstimme. „Huch, fast hättet Ihr mich umgerannt. Könnt Ihr nicht aufpassen?“
Garrick erschrak und blickte hoch, direkt in die ihn anlächelnden Augen einer jungen Nonne.
„Entschuldigt, das war nicht meine Absicht. Ich war ganz woanders und habe nicht auf den Weg geachtet“, sagte Garrick, der wahrlich erschrocken war, beinahe mit der Nonne zusammen gestoßen zu sein. Aber so kannte er sich. War er in eine Arbeit vertieft war, konnte er alles um sich herum ausblenden.
„Das habe ich bemerkt.“ Die junge Nonne lachte glockenhell. „Ihr seid sehr in Eure Gedanken versunken. Dabei gibt es hier so viele Stolperfallen.“ Sie sah Garrick mit ihren grünen Augen freundlich lächelnd an.
Garrick räusperte sich verlegen. Da kam ihm die Idee, sich bei der unbekannten Nonne nach Sally zu erkundigen. „Darf ich Euch etwas fragen?“, wollte er wissen, worauf die Nonne nickte. „Gab es in der letzten Zeit etwas Besonderes hier in diesem Kloster? Eine neue Novizin, oder ein Fräulein aus gutem Hause zum Beispiel?“
Die Nonne überlegte. „Nein, da gab es nichts“, sagte sie dann. „Oder, wartet! Doch! Die Äbtissin teilte uns mit, eine Elizabeth Susan Montgomery würde für einige Zeit hier Zuflucht suchen, um nach einem schweren Schicksalsschlag zu Ruhe kommen zu können.“
Garrick nickte. Die Aussage glich der der Äbtissin. „Lebt diese junge Frau nun hier?“, fragte er nach.
„Nein. Mich wunderte es schon“, erwiderte die Nonne.
„Sagte die Äbtissin, warum Miss Montgomery nicht wie vereinbart hier eintraf?“
„Sie sagte, sie wisse es nicht“, gab die Nonne Auskunft.
„Hat die Äbtissin Erkundungen veranlasst?“
„Davon weiß ich nichts“, erwiderte die Nonne.
„Würdet Ihr mir einen Gefallen tun?“, fragte Garrick vorsichtig an. Er wusste, es war ein hohes Risiko, eine völlig fremde Person einzuweihen. „Es bedarf aber absoluter Geheimhaltung“, flüsterte der Detektiv.
Die Nonne war sofort Feuer und Flamme. Ihre Wangen röteten sich, so sehr schoss ihr Puls in die Höhe.
„Es darf niemand davon erfahren“, drang Garrick nochmals auf die Frau ein. „Das ist ganz wichtig.“
„Ja, ja, darauf gebe ich mein Ehrenwort. Auf Geheimnisse bin ich spezialisiert“, meinte die Nonne lächelnd. „Aber nun sagt, was soll ich tun?“
„Gut. Ich danke Euch. Hört Euch ein wenig um, ob die Äbtissin über eine vermisste Person spricht, vor allem mit wem sie darüber spricht. Ob sie Besuch bekommt, der vorher noch nie hier im Kloster war. Beobachtet einfach alles, was Euch verdächtig vorkommt. Aber bitte, lasst Vorsicht walten. Bringt Euch nicht unnötig in Gefahr“, erklärte er ihr. Dann gab er ihr noch die Beschreibung von Sallys Stiefmutter.
„Wie kann ich Euch erreichen, falls ich etwas in Erfahrung bringen sollte“, wollte die Nonne wissen.
„Dürft Ihr das Kloster verlassen?“, fragte Garrick nach.
„Ja, aber nur zu bestimmten Anlässen. Einmal in der Woche verteile ich auf dem Marktplatz die Armenspeisung“, erwiderte sie. „Ich bin immer mittwochs an der Reihe. An den anderen Tagen teilen immer andere Nonnen die Suppe aus.“
„Das sind ja gute Aussichten“, erwiderte Garrick erfreut. „Ich werde mich immer am Mittwoch unter die Armen mischen und um eine milde Spende bitten. Gebt mir ein Zeichen, wenn Ihr etwas erreicht haben solltet. Ich werde dann in der Kirche auf Euch warten.“
„Gerne, gerne“, rief die Nonne erfreut aus. Ihre Wangen hatten sich vor Aufregung noch mehr gerötet.
„Schwester Magdalena! Die Messe beginnt gleich. Eile, eile“, hörten sie plötzlich die schroffe Stimme der Äbtissin vom anderen Ende des Säulenganges.
„Oh“, stieß Magdalena erschrocken aus. „Ich muss mich beeilen. Die Äbtissin bestraft uns hart, wenn wir zu spät zur Messe kommen.“
„Dann geht schnell. Ich möchte nicht, dass Ihr meinetwegen bestraft werdet. Wir sehen uns dann am nächsten Mittwoch“, sagte Garrick und verabschiedete sich.
„Gott schütze Euch“, rief Magdalena ihm noch nach und lief dann so schnell sie konnte in die Kapelle zur Messe.
Garrick schaute ihr nach, bis sie um die nächste Ecke bog und aus seinem Blick entschwand. Dass ihn dabei die Äbtissin argwöhnisch beobachtete, bemerkte er nicht.