Aufgeregt eilte Sally zur Eingangstür. Ihre stetig wachsende Leibesfülle erlaubte es ihr nicht, noch schneller zu gehen. Sie konnte es nicht glauben, wen ihr der Butler Walter eben gemeldet hatte. Sabrin konnte keinesfalls bereits hier sein. Sallys Kind war noch nicht geboren und die Taufe des Säuglings stand genau so wenig an. Ihr Bediensteter musste den Namen der Besucherin nicht richtig verstanden haben.
„Sabrin!“, rief sie erfreut, als sie erkannte, der Butler hatte die Wahrheit gesprochen. „Ich dachte schon, unser Walter ist wirr oder hat dich missverstanden. Aber du bist es wirklich. Was machst du hier?“
Die junge Frau vor der Tür lächelte und drückte die Freundin an sich. „Mir kommt es so vor, als wärst du noch dicker geworden“, foppte Sabrin die Kameradin anstatt ihren Gruß zu erwidern. „Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Eine Woche, zehn Tage, oder sind es sogar zwei Monate?“
„Warte nur ab, nicht mehr lange und ich bin wieder rank und schlank wie früher und du kugelst dich durch die Gegend“, erwiderte Sally lachend. „Außerdem, wie sprichst du eigentlich mit mir? Ich bin eine Lady, der man Respekt zollen muss“, ging sie auf Sabrins Witz ein.
„Nun dann, Lady Sally und ich bin die Kaiserin von China“, witzelte Sabrin und hielt Sally eine Armlänge von sich entfernt. „Lass dich anschauen. Gut siehst du aus und so rund.“ Erneut grinste Sabrin.
„Es ist aber trotzdem ganz schön anstrengend mit solch einer Murmel herumlaufen zu müssen. Ich komme mir vor, als wäre ich aufgedunsen wie ein Ballon“, entgegnete Sally. Sie schaute ihre Busenfreundin interessiert an. „Hast du ein neues Kleid?“, fragte sie dann.
„Als ich in London ankam, schenkte es mir Garrick. Er meinte, eine zukünftige Missis Moore müsse gut ausgestattet sein mit Kleidern und schenkte mir gleich noch ein paar mehr“, erwiderte Sabrin.
„Es steht dir und passt ausgezeichnet zu deinem Teint.“
„Garrick hat einen wunderbaren Geschmack. Er trägt mich auf Händen und liest mir jeden Wunsch von den Augen ab“, schwärmte Sabrin, die sich bei Garrick zum ersten Mal in ihrem Leben geliebt fühlte. „Aber sag mal, wo ist dein Göttergatte? Ist er so hochnäsig geworden, dass er nicht einmal eine alte Freundin begrüßt?“
„Er ist nach Trowbridge geritten, um sich mit Richter Richardson und Doktor Armstrong zu treffen. Er wollte sich bei dem Richter nach den Ergebnissen der Recherche in London erkundigen.“
„Dann sei Raimon verziehen. Aufgrund der Nachforschungen sind wir nach Trowbridge gekommen. Nachdem der Bote beim Apotheker vorgesprochen und ihn befragt hatte, besuchte er uns. Mein Bräutigam konnte die letzten Rätsel lösen. Daher haben wir uns kurzerhand entschlossen, den Boten hierher zu begleiten und dem Richter Garricks Erkenntnisse persönlich zu überbringen.“ Sabrin grinste verschmitzt.
„Sag ja nicht, du hast deinen Garrick dazu überredet?“ Erneut grinste Sabrin.
„Also doch! Du bist ein ausgekochtes Mistvieh“, meinte Sally lachend. „Aber was stehen wir immer noch herum. Was bin ich für eine Hausherrin, meinen Gast einfach vor der Tür abzufertigen. Komme erst einmal herein. Hast du Gepäck dabei?“
„Mein Mädchen wird sich kümmern“, erwiderte Sabrin und rief ein zierliches Persönchen herbei, das unauffällig am Fuße der Treppe gewartet hatte. „Achte darauf, dass die Knechte mit meiner Kleidertruhe vorsichtig umgehen“, gab sie dem Fräulein Anweisung, das Hereintragen ihres Gepäcks zu überwachen.
„Das sieht fast so aus, als würdest du dich hier einnisten wollen“, tat Sally entsetzt. „Was ist da alles drin?“
„Ein paar Kleider, meine Hochzeitsrobe, Toilettenartikel, was eine Frau auf Reisen halt alles so braucht“, sagte Sabrin.
Erstaunt schaute Sally die Freundin an, aber dann besann sie sich. Sie watschelte vor ihr zum Salon, wo sie sich behäbig auf eines der Sofas setzte.
„Schön hast du es hier“, meinte Sabrin staunend über die vielen kleinen Details des Raumes. Kleine Statuen, Nippes und Vasen standen überall verteilt herum. Dann setzte sie sich Sally gegenüber und begann von den Plänen der nächsten Wochen zu berichten. „Aber nur, wenn es dir nicht zu viel wird“, endete sie nach ein paar Minuten Monolog.
„Du machst mich glücklich“, erwiderte Sally strahlend. „Ich freue mich so sehr auf die Hochzeit. Du wirst eine wunderschöne Braut sein“, schwärmte sie. „Meine Hochzeitsrobe war leider nur meine Alltagskleidung“, erzählte sie. „Aber das ist mir egal. Auf eine besonders teure Robe kommt es nicht an.“
„Du hast Recht“, sagte Sabrin. Dann hielt sie inne, als würde sie ihre nächsten Worte abwägen. „Hast du etwas dagegen, wenn auch Garrick hier ein Zimmer bezieht. Immerhin sind wir noch nicht verheiratet“, fragte sie. „Außerdem können Adelaide oder Edwina Anstandsdame spielen, falls wir doch einmal allein sein sollten. Wo sind die beiden eigentlich?“
„Ihr dürft gerne beide hier wohnen. Ich denke aber, eine Anstandsdame brauchen wir nicht. Ihr seid alt genug, um zu wissen, was Ihr tut. Raimon und ich waren anfangs auch nicht verheiratet und wohnten trotzdem unter einem Dach. Sogar noch, als Raimons Neffen und seine Nichte zu uns kamen“, entgegnete Sally. „Solltet ihr euch trotzdem unzüchtig benehmen, werdet ihr es mit mir zu tun bekommen“, drohte Sally und hob schulmeisterhaft den Zeigefinger. Aber dann begann sie schallend zu lachen. Sabrin fiel erleichtert ein.
Drei Stunden später kam Raimon nach Hause, Garrick Moore im Schlepptau. „Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn unser Freund hier ein Zimmer bezieht“, überfiel der Scharfrichter seine Gattin. Die lachte und meinte, das wäre bereits alles geregelt. Raimon zuckte nur mit den Schultern. „Tja, die Frauen“, sagte er in Garricks Richtung.
Gerade kamen auch Edwina und Adelaide hinzu. Sally hatte sie rufen lassen. Adelaide sträubte sich erst ein wenig dagegen. Sie müsse auf die Kinder aufpassen. Aber Sally ließ nicht locker. So musste sich die Zofe wohl oder übel dem Willen ihrer Herrin beugen.
Raimon und Garrick hatten sich zufällig bei Richter Richardson getroffen. Der Detektiv, der mit dem Boten direkt nach Trowbridge geritten war, während seine Braut zu Sally fuhr, berichtete sofort vom Besuch des Boten. Der erzählte ohne Umschweife, was er beim Apotheker in London erfahren hatte. Die Einwürfe des Agenten rundeten das Ganze ab.
Nun waren die Herren dabei, den Damen zu berichten, was sich im Dienstzimmer des Richters zugetragen hatte.
„Ich weiß, wer diese Typen sind, die der Apotheker mit Mistress Lilith zusammen gesehen hat“, sagte Garrick, nachdem der Bote mit seinem Report geendet hatte. Alle sahen ihn neugierig an. „Das sind die Kerle, die erst Adrian Montgomery getötet und dann Sally entführt haben“, gab er sein Wissen zum Besten.
„Wie kommst du darauf?“, fragte Raimon. Er und Garrick hatten sich inzwischen auf eine persönlichere Anrede geeinigt.
„Die Beschreibung gleicht der von Mutter Oberin Christdora aus Canterbury und der des Hafenmeisters in Dover. Das können nur Franklin und Henry Simmons sein. Wo die nun anzutreffen sein könnten, darüber müssen wir wohl nicht groß sprechen. Sie wurden zuletzt auf einem Auswandererschiff gesichtet, das im Hafen von Dover lag und zum Auslaufen bereit war.“
„Dann macht es auch keinen Sinn, nach ihnen zu suchen“, sagte Henri Richardson nach einer Weile. „Sollten sie wirklich nach Amerika geflohen sein, finden wir sie niemals.“
„Und nun?“, fragte Raimon, der damit auch die Bestrafung der Handlanger in weite Ferne rücken sah.
„Der Fall ist damit abgeschlossen, leider“, antwortete der Richter und zuckte ratlos mit den Schultern. Für ihn war die Angelegenheit vorerst beendet, auch wenn es ihn sehr ärgerte, den Fall nicht vollends beenden zu können. „Mistress Lilith hat sich eindeutig selbst das Leben genommen. Sie können wir nicht mehr wegen Anstiftung zum Mord und zur Entführung belangen. Die Dame wird sich vor dem himmlischen Richter verantworten. Wie wir wissen, sind Handlanger längst über alle Berge. Ich werde aber vorsichtshalber eine Fahndung nach ihnen herausgeben, die zeitlich unbegrenzt ist. Sollten sie durch einen dummen Zufall doch zurück kommen, erkannt und verhaftet werden, kann ich immer noch Anklage gegen sie erheben.“ Richardson stand auf. „Meine Herren, ich denke, damit ist unsere Mission vorerst beendet.“ Er erhob sich. „Ich muss mich leider verabschieden. Der Stadtrat tagt in ein paar Minuten. Dabei muss ich anwesend sein“, sagte er noch und reichte den Freunden zum Abschied die Hand.
„Das macht meinen Vater zwar auch nicht mehr lebendig“, sagte Sally, nachdem alle einige Zeit geschwiegen hatten. „Es macht mich aber ein wenig zufriedener. Auch wenn es keine Strafe für die Missetäter geben wird, steht uns wenigstens Lilith mit ihrer Missgunst und ihrer Eifersucht nicht mehr im Wege. Ich mag gar nicht dran denken, wie es gewesen wäre, sie weiterhin hier im Haus zu beherbergen. Sie hätte uns das Leben hier zur Hölle gemacht. Als rechtmäßige Gattin meines Vaters hätte ich sie nicht der Tür verweisen können. Nun ist sie begraben. Zum Glück nicht direkt neben meinem Vater, obwohl ihr es zustände.“ Sally holte kurz Luft. „Ich habe mir gedacht, eine kleine Gedenktafel für meine leibliche Mutter, an die ich mich leider nicht mehr erinnern kann, direkt neben dem Grab meines Vaters anbringen zu lassen. Auch wenn es nicht ihre letzte Ruhestätte ist, habe ich einen Ort, an dem ich mit ihr Zwiesprache halten kann. Ich denke, meinem Vater würde es gefallen, endlich mit der Liebe seines Lebens vereint zu sein.“ Sally schluchzte leise, zu sehr schmerzte sie immer noch der Verlust ihres Vaters. Auch wenn es in ihrem Gedächtnis gar keine Erinnerung an ihre Mutter vorhanden war, sie war sich sicher, sie hätte sie sehr geliebt.
„Das ist eine wunderbare Idee von dir“, stimmten alle Sallys Einfall zu. Sabrin stand auf und umarmte ihre Freundin. Sie spürte instinktiv, sie brauchte genau jetzt jemanden, der sie einfach nur in den Arm nahm und tröstete. Edwina und Adelaide, die ebenfalls sehr ergriffen waren über Sallys Rede, stießen zu den beiden Frauen.
Ausnahmsweise mussten die Kinder heute noch nicht ins Bett. Auch sie sollten den Besuch kennenlernen. Sabrin kannten sie zwar von Dilton Marsh, aber deren Bräutigam noch nicht. Sie schauten nun von ihrem Spielzeug auf und wunderten sich über die seltsame Stimmung, die plötzlich eingetreten war.
Raimon und Garrick blieben sitzen. Lächelnd blickten sie zu den Frauen. Intuitiv wussten sie, jedes Wort wäre zu diesem Zeitpunkt fehl am Platze.
„Es ist wunderschön, wie gut sich die Frauen verstehen“, sagte Raimon ergriffen und wischte sich heimlich eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Das meine ich auch“, erwiderte Garrick, der Raimons Gefühlsausbruch beflissentlich übersah. Er wollte dem neu gewonnenen Freund nicht beschämen. „Jetzt fehlt nur noch ein Mann für Edwina und einer für Adelaide“, sagte er leise zu Raimon und nippte an seinem Whiskey.
„Für Edwina wüsste ich schon einen“, erwiderte Raimon genau so leise. Er beugte sich zu Garrick hinüber und flüsterte ihm den Namen des Butlers ins Ohr.
Der Detektiv grinste. Auch er hatte am Abend die heimliche Liebelei zwischen Edwina und Walter bemerkt. Er gönnte der alten Dame das Glück.
„Adelaide lassen wir Zeit, bis sie selbst bereit ist“, sagte Garrick dann noch.
„Das denke ich auch. Sie soll sich genug Zeit lassen und mit Bedacht den Mann an ihrer Seite wählen. Sie ist noch so jung“, stimmte Raimon zu.
Erneut sahen sie zu den Frauen hinüber. Die standen immer noch eng umschlungen mitten im Raum und schienen stumm Zwiesprache zu halten.
„Schleichen wir uns hinaus, wir stören nur“, sagte Raimon zu Garrick. „Kommt Kinder. Gehen wir in die Küche. Aber ganz leise“, er hielt seinen Zeigefinger vor die Lippen. „Die Köchin hat ganz bestimmt noch etwas Leckeres zum Naschen für euch.“