Raimon wollte sich eben der Torwache zuwenden, um sich nach dem Weg zum Haus seines Bruders zu erkundigen. Aber Sally ihn hielt auf. „Warte!“ rief sie dem Henker nach und hielt ihn am Ärmel seines Hemdes fest.
Raimon blieb stehen und blickte sich zu Sally um. „Was ist?“, fragte er stirnrunzelnd.
Sally war es nicht ganz wohl, schon bald am Ziel ihrer Reise zu sein. Sie hatte den schweigsamen Mann an ihrer Seite ins Herz geschlossen und wäre am liebsten bei ihm geblieben. Doch in Exmouth war das keinesfalls möglich. Dort warteten Rodney und seine Kumpane auf sie und würden ihr lieber heute als morgen den Garaus machen. Am liebsten würde sie die Episode Exmouth ganz aus ihrem Gedächtnis verbannen, wenn da der liebenswürdige Henker nicht wäre.
„Hat es dir die Sprache verschlagen?“, wollte Raimon wissen. Er wurde etwas ungeduldig, da Sally immer noch keine Worte fand und ihm somit eine Erklärung schuldig blieb. Er wollte Sally schnellstmöglich bei seinem Bruder abliefern und dann nach Exmouth zurückkehren. Obwohl auch er sie am liebsten bei sich behalten hätte. Doch auch da sah er es wie Sally, dass dies nicht möglich war. Er konnte es der jungen Frau keineswegs zumuten, mit einem Mann zusammen zu leben, der einen unehrbaren Beruf ausübte.
„Nein, nein, es ist nur…“, brachte Sally stotternd hervor. Verlegen zupfte sie sich am Ohrläppchen.
„Ja, was nun? Lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Seit wann bist du so schüchtern?“ Der Henker war nun vollends aufgebracht über Sallys eigenartiges Benehmen.
Die junge Frau wurde feuerrot. Ihr Herz klopfte vor Aufregung fast schmerzhaft in ihrer Brust. „Bist du dir sicher, dass dein Bruder hier in Dover zu Hause ist? Ich hörte vorhin, wie du zu Edward sagtest, du wüsstest es nicht genau. Zu mir aber sagtest du etwas anderes.“
„Das stimmt so nicht. Mein Bruder ist Schuhmacher und seit vielen Jahren hier zu Hause. Nachdem er sich vermählt hatte, hat er sich hier mit seiner Frau niedergelassen. Sie stammt aus dieser Gegend“, gab Raimon zu. „Er und ich haben uns schon sehr lange nicht gesehen. Ich habe Edward nur auf die falsche Fährte leiten wollen, falls uns durch einen dummen Zufall jemand erkannt haben sollte. Man weiß ja nie, wer nach uns suchen könnte. Es ist besser, wir sind mit unserer Identität etwas vorsichtiger.“
„Hätte ich einen Bruder oder eine Schwester, hätte ich immer gewollt, mit ihnen Kontakt zu haben“, meinte Sally darauf. „Es würde mir im Herzen wehtun, liebe Verwandte jahrelang nicht zu sehen.“
„Es gibt einen Grund dafür“, erklärte Raimon. Sein Gesicht zeigte den Kummer, den er wegen seines Bruders hatte. „Seine Gattin wollte nicht ins schlechte Licht gerückt werden, da ich als Scharfrichter arbeite. Sie wollte mit einem Unehrbaren nichts zu tun haben. Dabei ist sie viel unehrenhafter als ich... na ja, aber das mit ihr ist wieder eine andere Sache.“
„… und dein Bruder hat den Kontakt mit dir abgebrochen“, erkannte Sally die Lage richtig. „Dass er sich das von ihr gefallen lassen hat, verstehe ich nicht.“
„Ich verstehe es auch nicht, warum er sich das von ihr hat gefallen lassen. Sie hatte wohl die Hosen an und nicht er“, entgegnete Raimon. „Aber vor ein paar Wochen kam von Delmore eine Nachricht, seine Frau hätte ihn mit dem Knecht betrogen und wäre mit diesem durchgebrannt. Die Kinder hätte sie bei ihm zurückgelassen. Es täte ihm leid, mit mir gebrochen zu haben. Er bat mich im gleichen Atemzug, ihn sobald wie möglich zu besuchen.“
Sally hörte sich Raimons Beichte sehr genau an. Einerseits fühlte sie sich ein wenig betrogen, da ihr der Henker nicht von Anfang an die Wahrheit gesagt hatte. Andererseits war sie auch glücklich darüber, Exmouth hinter sich lassen zu können. Auch wenn dies die Trennung von Raimon bedeutete.
„Du nimmst nun an, dass ich deinem Bruder im Haushalt und bei den Kindern behilflich sein könnte“, sagte sie zum Henker. Raimon nickte daraufhin nur.
„Aber da müsste ich mich wieder in eine Frau verwandeln“, argumentierte Sally entrüstet. „Ist das nicht zu gefährlich? Rodney könnte mich finden. Außerdem kann ich als unverheiratete Jungfer nicht mit einem Mann unter einem Dach leben, der nicht mein Ehemann ist. Das geziemt sich nicht.“
„Mit mir hast du doch auch unter einem Dach gelebt“, warf Raimon ein.
„In Exmouth war ich eine Dirne, eine Unehrbare“, erklärte Sally. „Hier in Dover werde ich eine ehrbare, keusch lebende Frau sein. Wenn auch alleinstehend. Mich irgendwo als Magd zu verdingen, ist eine Sache, der Leumund wieder eine andere.“
„Noch trittst du als Bursche auf“, berichtigte Raimon sie. „Wenn du als Frau auftreten willst, kannst du das erst bei meinem Bruder tun. Er wird bestimmt nichts gegen eine Magd haben, die sich um seine mutterlosen Kinder kümmert.“
„Ich würde schon gerne wieder als Frau gelten“, gab Sally kleinlaut zu, die sich in der Kleidung des unbekannten Mannes immer noch sichtlich unwohl fühlte.
„Wenn du das möchtest, werde ich meinen Bruder über die Umstände aufklären müssen. Ich denke, er wird verstehen, warum wir diese Wandlung tun mussten. Er ist ja auch nicht gerade auf den Kopf gefallen und von Dummheit beseelt.“
„Tu, was du für richtig hältst, so lange ich danach wieder Frau sein kann.“ Sally schmunzelte. „So übel ist das nämlich gar nicht. Vor allem, wenn man ein gut aussehendes Mannsbild an seiner Seite hat.“
Raimon stutzte bei Sallys Worten. Ernst schaute er sie an und versuchte in ihrer Mimik zu lesen. Das tat er so lange, bis sie betreten zu Boden schaute und zu guter Letzt auch noch errötete. Sollte er sich so sehr in der jungen Frau geirrt haben? Erwiderte sie womöglich seine Gefühle? Sein Herz hüpfte vor Freude. Wollte sie ihm damit durch die Blume hindurch sagen, wie sehr sie ihn mochte? Raimon hätte am liebsten die ganze Welt umarmt.
„Wir sollten uns nun auf die Suche nach deinem Bruder machen“, riss Sally den Henker aus seinen Gedanken.
„Dann los“, erwiderte Raimon, obwohl er viel lieber umgedreht hätte und mit Sally zurück nach Exmouth gegangen wäre. Sally trottete wortlos hinter ihm her.
Am Stadttor wurden sie von der Wache aufgehalten. Einer der Wächter versperrte ihnen den Weg. Er zeigte mit der Spitze seiner Hellebarde* auf sie. „Wer seid Ihr und was ist Euer Begehr?“, wurden sie gefragt und neugierig beäugt.
„Mein Name ist Warren“, erwiderte Raimon, der sich vom überheblichen Gehabe des Wachmannes nicht einschüchtern ließ. „Der junge Bursche an meiner Seite ist mein Sohn Jamie. Mein Bruder ist schwer erkrankt. Wir wollen ihm einen Besuch abstatten und Gott um sein Wohlergehen bitten“, log er, dass sich die Balken bogen. Der Henker mochte ein frommer Mann sein, doch Sally hatte noch nie gesehen, dass er Gott anbetete.
„An was ist Euer Bruder erkrankt, dass Ihr es so eilig habt, zu ihm zu gelangen?“
„Er hat einen schweren Schlagfluss* erlitten. Sein liebendes Weib ließ mich holen, damit ich mich von meinem Bruder verabschieden kann. Er wird wohl die nächsten Tage nicht überleben. Daher die Eile.“ Raimon machte ein trauriges Gesicht, dass Sally an sich halten musste, um nicht laut zu lachen.
„Wenn es so ist“, erwiderte der Wachmann und machte den Weg frei. „Dann eilt schnell zu Eurem Bruder und betet für ihn, ehe es zu spät ist.“
„Vielen Dank, Herr Wachmann“, sagte Raimon und gab Sally einen Wink, ihm zu folgen. „Trinkt einen Krug Wein auf meinen Bruder“, sagte er zur Wache und drückte dem Mann ein paar kleine Münzen in die Hand.
„Ich habe zu danken“, katzbuckelte der Wachmann, klopfte seinem Kumpan auf die Schulter und verschwand mit diesem im Wachhäuschen.
„Das ging ja gut“, sagte Sally, nachdem sie eine Weile wortlos neben Raimon durch die Stadt gelaufen war.
„Die Wachen müssen nicht alles wissen. Es ist aber gut, wenn sie sich an einen Vater mit seinem Sohn erinnern, die den totkranken Bruder des Vaters besuchen wollen. Der kleine Obolus wird dazu beitragen.“ Raimon lächelte verschmitzt.
Sally grinste ebenfalls. „Also werden wir später nicht auffallen, wenn ich wieder als Frau auftrete“, erkannte sie richtig.
„So ist es“, erwiderte Raimon. „Du könntest ja schon ewig als Magd bei meinem Bruder dienen. Wer weiß das schon so genau.“
Nachdem sie eine Weile durch die Stadt gegangen waren, erreichten sie einen Platz. Der Henker blieb stehen. Suchend blickte er sich um. „Diese Gasse müsste es sein“, murmelte er vor sich hin.
„Kannst du dich nicht erinnern?“, fragte Sally.
„Hm, ganz sicher bin ich mir nicht. Als ich vor vielen Jahren das letzte Mal hier war, standen diese Häuser noch nicht. Es sieht alles so anders aus, als es sich in mein Gedächtnis eingegraben hat“, erwiderte Raimon und zeigte auf ein paar kleine Häuschen, die den Platz säumten. Immer wieder blickte er sich um. Doch seine Erinnerung schien ihm ein Schnippchen schlagen zu wollen.
„Gevatterin, gute Frau. Wartet bitte, nicht so eilig. Ich habe eine Frage“, sprach er eine Frau an, die mit einem Korb voll Gemüse an ihm vorbei hasten wollte.
Die Frau, wahrscheinlich eine Magd, blieb stehen. Ihr Gesicht glühte rot vor Anstrengung. Vermutlich war der Korb, den sie bei sich trug, sehr schwer. „Wie kann ich Euch helfen?“, wollte sie wissen und sah den Henker neugierig an.
„Wir sind fremd hier“, erklärte Raimon. „Wir suchen die Schustergasse. Ich bin vor vielen Jahren zwar schon einmal hier in der Stadt gewesen. Allerdings kann ich mich bei bestem Willen nicht erinnern, wo genau die Schustergasse liegt.“
„Oh guter Mann. Als Ihr das letzte Mal hier wart, muss wirklich sehr lange her sein. Die Schustergasse liegt jetzt am anderen Ende der Stadt. Das hier sind alles neu erbaute Häuser“, plapperte die Magd ohne Punkt und Komma. Dann folgte eine Wegbeschreibung bei der man Gelehrter sein müsste, um sie zu verstehen.
Als die Frau endlich mit ihrer Litanei ein Ende fand, bedankte sich Raimon höflich. Dann ging er einfach weiter, ohne darauf zu achten, dass Sally ihm folgte.
Sally musste sehr schnell laufen, um den Henker einholen zu können. „Hast du etwas verstanden?“, fragte sie Raimon, nachdem sie ihn eingeholt hatte. Ihr selbst war dieser eigenartige Dialekt, den die Frau sprach, fremd. Von den Worten hatte sie höchstens die Hälfte verstanden.
Statt zu antworten, lief Raimon schweigsam vor ihr her. Sally konnte sich gut vorstellen, wie er sich so kurz vor dem Ziel fühlte. Bald würde er seinem Bruder gegenüberstehen und dann auch noch erklären müssen, warum sie als Bursche verkleidet mit ihm nach Dover reiste. Ganz wohl war ihr deswegen auch nicht. Doch daran ändern konnte sie nun auch nichts mehr.
„Hier muss die Schustergasse sein“, sagte Raimon laut und blieb abrupt stehen.
Sally, die ihm gedankenverloren gefolgt war, prallte beinahe auf ihm auf. „Bist du dir sicher?“, fragte sie. Dabei schaute sie sich um.
„Ja, ganz sicher“, erwiderte Raimon und zeigte auf ein schmuckes Häuschen, an dessen Giebel ein aus Eisen geschmiedeter Stiefel hing. Zielstrebig ging der Henker voran, doch an keines der Häuser konnte er sich richtig erinnern. Aber dann blieb er stehen und starrte auf eine windschiefe Hütte, die so gar nicht in die Gegend passen wollte.
„Das kann nicht sein“, murmelte er immer wieder und blickte auf das kleine Schild, das neben der Tür angebracht war. „Als ich das letzte Mal hier war, da war das ein sehr schmuckes Häuschen. Was ist nur geschehen?“ Kopfschüttelnd stand Raimon da und wusste nicht weiter.
„Wohnt hier dein Bruder?“, fragte Sally schüchtern. Raimons Bruder sollte in solch einer heruntergekommenen Hütte hausen? Nein, daran glaubte sie nicht.
„Ich glaube schon“, erwiderte Raimon und trat entschlossen an die Tür, um laut anzuklopfen.