Sabrin genoss das warme Bad und die fürsorgliche Aufmerksamkeit der Mägde. Mistress Genefa hatte sie beauftragt, sich um den Gast zu kümmern. Der jungen Frau sollte es an nichts fehlen, wurde den Mädchen befohlen. So wuselten diese um sie herum und lasen ihr jeden Wunsch von den Augen ab.
Genefa ließ es sich nicht nehmen, noch einmal bei Sabrin vorbeizuschauen, ehe sie sich selbst zur Nachtruhe begab. Sie musste sich persönlich davon überzeugen, dass es Sallys Freundin gut ging. Obwohl sie anfangs unsicher war und ihrem Mann zürnte, erkannte die Hausherrin, dass Sabrin aufrichtige Absichten hatte.
Als Sabrin später gesättigt und frisch gebadet im Bett lag, fühlte sie sich wie im siebten Himmel. Noch nie in ihrem Leben wurde sie so umsorgt, wie an diesem Abend. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, dass Leute wie Genefa und Rynard dies jeden Tag haben können, während andere täglich ums Überleben kämpfen mussten.
Wohlig streckte Sabrin ihre gepeinigten Glieder. Ihre Oberschenkel, aber auch ihr Hintern fühlten sich wund an. Doch das warme Wasser und die Salbe, die ihr Genefa zusteckte, hatten die Muskeln entspannt. Ein Glas wohlschmeckender Wein sorgte für die nötige Bettschwere. Wohlig kuschelte sie sich in ihre Decke. Die Laken rochen frisch gewaschen. Nur ganz schwach konnte sie einen Lavendelduft wahrnehmen. Sabrin fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr.
Die Gedanken der Dirne flogen zu Sally, die wahrscheinlich immer noch mit Raimon auf dem Weg nach Dover war. Aber vielleicht hatten die beiden, wie sie selbst, Glück und ein Händler nahm sie auf seinem Karren mit. Der Weg nach Dover war weit, sehr viel weiter als der von Exmouth nach Dilton Marsh.
Ein wenig fürchtete sich Sabrin davor, am nächsten Morgen Sallys anderen Freunden gegenüber zu treten und die ganze Geschichte nochmals erzählen zu müssen. Aber daran ging wohl kein Weg vorbei. Immerhin sorgten sich nicht nur ihre Gastgeber um die gemeinsame Freundin.
Die junge Frau stand auf, nahm ihre Bettdecke und ging zum Fenster. Sie zog einen Sessel heran, in den sie sich setzte, nachdem sie sich in die Decke gewickelt hatte. Obwohl sie sehr erschöpft war, wollte der Schlaf nicht kommen. Die Aufregung am Abend war wohl zu viel für Sabrin.
Nachdenklich schaute sie aus dem Fenster. Ihr Zimmer lag auf der anderen Seite des Hauses. Durch die bodenhohen Fenster konnte man bis in den weitläufigen Park sehen, der jetzt nur durch das bleiche Licht des Mondes erhellt wurde. Sie nahm sich vor, Rynard zu bitten, den Park erkunden zu dürfen. Sie liebte die Natur, Blumen, Bäume… Leider hatte es ihr Vater nie erlaubt, im Garten Blumen anzupflanzen. Das wäre unnütze Verschwendung, sagte er immer. Er baute lieber Gemüse an, von dem die Familie satt wurde. Später in Exmouth hatte sie nie die Gelegenheit und auch nicht die Zeit dazu, den kleinen Garten in direkter Nähe des Hurenhauses zu bewirtschaften. Dazu kam immer eine junge Frau aus der Stadt, die sich ein paar Pennies dazu verdienen musste, um ihre Kinder ernähren zu können. Nicht nur einmal hatte sich Sabrin heimlich hinausgeschlichen und hatte der Frau bei der Gartenarbeit geholfen.
Sabrin muss wohl eingeschlafen sein. In dem Sessel war es nicht gerade bequem. Ihr schmerzten erneut alle Glieder. Sie wurde wach und erschrak. Erst nachdem sie sich umgeschaut hatte, erinnerte sie sich, dass sie zu Gast im Haus von Rynard und Genefa Longbird war. Sie stand auf und streckte sich. Dann ging sie zum Bett und wollte sich zur Nachtruhe begeben.
Plötzlich hörte Sabrin Lärm im Flur. Neugierig öffnete sie die Tür und schaute hinaus. Einige Mägde liefen eilig den Flur entlang und verschwanden hinter einer Tür am anderen Ende. Wenig später hetzten sie wieder heraus und liefen schnurstracks die Treppe hinunter. Als Mistress Genefas Zofe Mary mit wirrem, vom Kopf abstehenden Haar an ihr vorbeilief, hielt sie diese auf.
„Was ist hier los? Ist etwas geschehen?“, wollte sie von dem Mädchen wissen.
Mary blieb stehen. „Bei Mistress Genefa haben die Wehen eingesetzt. Das Kind kommt viel zu zeitig“, antwortete sie hastig.
Sabrin stieß einen erschrockenen Schrei aus. „Kann ich helfen?“, fragte sie. Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte sie in ihr Zimmer und nahm einen Morgenmantel von der Garderobe. Sie zog ihn über und folgte der Zofe in Mistress Genefas Zimmer. Gemeinsam traten sie ein.
Genefa lag mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Bett. Ihr Gesicht war von Schweiß bedeckt. Ab und an hechelte sie und versuchte, den Schmerz weg zu atmen.
Rynard saß neben seiner Gattin und hielt fürsorglich ihre Hand. Bei jeder Wehe, die seine Gemahlin quälte, wurde sein Gesicht blasser.
Mary wusste nicht, was sie tun sollte. Unschlüssig stand sie im Raum. Sabrin dagegen war bereits bei einer Geburt zugegen und hatte der Hebamme assistiert. „Wir brauchen heißes Wasser und viele Tücher“, sagte sie zu Rynard.
„Es wurde bereits alles in die Wege geleitet. Die Mägde kümmern sich darum. Nach der Hebamme habe ich geschickt. Sie müsste bald hier sein“, erklärte Rynard mit brüchig klingender Stimme.
„Sehr gut“, erwiderte Sabrin. „Ihr geht jetzt lieber. Das hier ist Frauensache“, sagte sie noch zu ihrem Gastgeber.
Rynard nickte ergeben und verabschiedete sich von seiner Frau mit einem Kuss. Als er das Zimmer verließ, kam gerade die Hebamme aus dem Dorf an. Mit der Hand wedelnd scheuchte sie den Hausherrn hinaus. Wie ein begossener Pudel schlich Rynard davon.
„Ah, ein neues Gesicht“, sagte die Hebamme zu Sabrin, als sie diese bemerkte. „Ich bin Rowena, die Hebamme.“
„Mein Name ist Sabrin. Ich bin Gast in diesem Haus und seit gestern Abend hier. Wenn Ihr Hilfe benötigt, ich bin gerne bereit, Euch zur Hand zu gehen.“
„Sag du zu mir, Mädel“, meinte die Hebamme und machte sich an die Arbeit. Eben kamen die Mägde herein und brachten Laken und heißes Wasser.
„Sehr gut“, kommentierte Rowena und schickte die Dienerinnen wieder hinaus. „Zu viel Unruhe ist nicht gut für die Gebärende“, meinte sie. Dann untersuchte sie Genefa, die alles ohne einen Mucks über sich ergehen ließ. Sie wusste, was sie erwartete und blieb zu Sabrins Erstaunen sehr ruhig. Nur Mary tigerte wie ein eingesperrtes Tier umher.
„Entweder du verhältst dich jetzt ruhig oder du gehst zu den Mägden hinaus“, fuhr die Hebamme sie an. „Du störst hier sonst nur, anstatt deiner Herrin in ihrer schweren Stunde beizustehen.“
„Ich bleibe!“, erwiderte das Mädchen trotzig. „Meine Herrin braucht mich jetzt mehr denn je.“
„Dann setze dich hinter sie und stütze sie“, befahl ihr die alte Frau.
Plötzlich stöhnte Genefa. Hastig kümmerte sich die Hebamme um sie. Sie tastete den hoch gewölbten Bauch ab und horchte daran. „Es scheint schneller zu gehen, als wir angenommen haben. Nicht mehr lange und du hältst dein Kindchen im Arm“, sagte die Hebamme mit warmer Stimme zu Genefa.
„Es ist viel zu zeitig“, presste Genefa zwischen zwei Wehen hervor.
„Dein Kindchen will aber schon jetzt kommen. Wir können es nicht stoppen. Aber keine Sorge, es wird kräftig genug sein.“ Die Stimme der Wehmutter wirkte beruhigend, nicht nur auf die Gebärende, sondern auch auf Sabrin, die wie betäubt neben der Frau stand und wachsam deren Tun beobachtete.
Genefa gab sich den erfahrenden Händen der Hebamme hin. Ganz gelassen und Ruhe ausstrahlend führte sie die Hausherrin durch die Geburt. Mit leiser Stimme gab sie kurze Anweisungen. Sabrin war aufgeregt und angespannt, erfüllte aber sofort alle Wünsche der Hebamme, die ihr immer wieder ermutigend zunickte. Nur Mary hatte Mühe, sich zu konzentrieren und ihrer Herrin beizustehen. Doch hinausgehen wollte sie trotzdem nicht.
Wie die Hebamme schon vermutete, ging die Geburt schneller als angenommen. Die Frau war gerade eine Stunde im Haus, als das Kind seinen ersten Schrei tat. „Es ist ein Junge“, verkündete sie erfreut, worauf Genefa anfing zu weinen. Das interpretierte die alte Frau falsch. „Aber Kindchen, warum die Tränen?“, redete sie auf die Wöchnerin ein. „Der Kleine ist gesund und munter. Es ist alles dran, was dran sein muss. Dein Gatte wird sich garantiert freuen.“
„Ich freue mich ja auch“, stieß Genefa schluchzend aus. „Ich bin erleichtert. Nach drei Mädchen endlich ein Junge!“
„Siehst du, Kindchen, alles ist gut“, erwiderte die Hebamme lächelnd. „Geh zum Hausherrn und bringe ihn her“, befahl sie dann Mary, die untätig herumstand und nichts mit sich anzufangen wusste. Als sie das Zimmer verlassen hatte, machten sich Rowena und Sabrin daran, die Wöchnerin zu waschen und neu einzukleiden. Auch das Neugeborene wurde versorgt. Gewickelt und in ein flauschiges Tuch gehüllt, wurde es der glücklichen Mutter in die Arme gelegt.
Kaum waren sie fertig, stürmte Rynard ins Zimmer. Hinter ihm drängten die Mägde herein, die aber sofort wieder hinausgeschickt wurden.
Andächtig stand Rynard vor dem Bett und betrachtete seine geliebte Gattin und sein Kind.
„Es ist ein Junge“, flüsterte Genefa, was Rynard ein breites Grinsen ins Gesicht zauberte. Er setzte sich neben seine Frau und küsste sie inbrünstig. Dann küsste er seinen Erben auf die Stirn und hieß ihn im Leben willkommen. „Es hätte auch ein Mädchen sein können“, sagte Rynard lächelnd. Sein Herz war voll Liebe für das kleine, noch runzlige Wesen, das sein Sohn sein sollte.
„Das könnte dir so passen, noch ein Mädchen. Wir werden pleitegehen, wenn wir die alle verheiraten müssen“, scherzte Genefa und knuffte ihren Gatten in die Seite.
Während die frisch gebackenen Eltern das kleine Wesen bestaunten, räumten Rowena und Sabrin das Zimmer auf. Die gebrauchten Laken wurden den wartenden Mägden gegeben, die immer vor der Tür ausharrten und darauf hofften, einen Blick auf den Familienzuwachs werfen zu können. Doch sie wurden erneut weggeschickt, um die Laken in die Waschküche zu bringen und das Wasser auszuschütten. Obwohl die Frauen am liebsten zu ihrer Herrin gestürzt wären, hielten sie sich diskret zurück. Die Hebamme wachte wie ein Bluthund über sie. Das junge Glück sollte erst einmal ungestört sein.
Nachdem die beiden Frauen mit Aufräumen fertig waren, begleitete Sabrin die Geburtshelferin zur Haustür. Den Lohn für ihre Arbeit würde Rynard ihr in den nächsten Tagen geben, wenn sie nach der Wöchnerin sah.
„Du bist neu hier?“, fragte die alte Frau Sabrin.
„Ich bin erst gestern Abend hier angekommen“, gab Sabrin Auskunft.
„Ich wunderte mich schon“, sagte die Hebamme. „Du hast gut geholfen. Vielen Dank. Mistress Genefas Mägde wollte ich auf keinen Fall dabeihaben. Das letzte Mal haben sie nur Unruhe verbreitet.“
„Na, ich war aber auch aufgeregt“, gab Sabrin zu. „Zum Glück durfte ich schon einmal einer Hebamme zur Hand gehen, damals in Exmouth.“ Sabrin durchzog ein Schmerz, als sie an die Freundin dachte, der sie geholfen hatte, ihr Kind auf die Welt zu bringen. Leider war diese später im Wochenbett verstorben. Tapfer unterdrückte sie die aufkommenden Tränen.
„Was ist passiert?“, fragte die Hebamme und streichelte Sabrin am Arm. Unbewusst schien sie zu spüren, dass die junge Frau etwas bedrückte.
Schniefend zog Sabrin die Nase hoch. „Ich vermisse meine Freundin so sehr“, gab sie nach einer Weile zu. „Sie wird ihr Kind niemals aufwachsen sehen und das Kind ist jetzt wer weiß wo. Ganz allein als Waise.“
Fragend schaute Rowena die junge Frau an.
„Sie ist gestorben. Im Wochenbett. Unser Herr, der Hurenwirt, hat das Kind einfach ins Waisenhaus gegeben. Dabei wollten wir es aufziehen. Aelfric aber wollte keinen unnützen Fresser großziehen. So waren seine Worte!“ Die letzten Sätze stieß Sabrin voller Hass aus.
„Ach, Kindchen“, sagte die Hebamme und nahm Sabrin in den Arm. Sie streichelte ihren Rücken, bis sie sich beruhigt hatte. „Das Leben geht weiter, so wie Gott es will. Wir alle haben oft viele Schicksalsschläge zu erleiden. Jeder macht uns stärker.“ Lächelnd blickte sie Sabrin an. Sie hatte erkannt, dass ihr Gegenüber als Hure gearbeitet hatte, sah dies aber nicht als Makel. „Ich muss jetzt gehen“, meinte sie einige Zeit später. „Wenn du irgendwann jemanden zum Reden brauchst, ich wohne im Dorf, ganz hinten am Weiher. Es ist einfach zu finden.“
„Danke“, flüsterte Sabrin ergriffen, ehe sie die Tür hinter der Frau schloss. Sie stand noch etwas unschlüssig im Vorsaal. Aber dann besann sie sich und stieg die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Sie schaute noch einmal in Genefas Zimmer. Rynard saß auf dem Bett und betrachtete seine schlafende Frau und seinen neugeborenen Erben. Als er Sabrin bemerkte, stand er auf und folgte ihr nach draußen.
„Herzlichen Glückwunsch. Einen strammen Knaben hat Euch Eure Gattin geschenkt.“ Sabrin war nicht neidisch auf das Glück der Eheleute. Im Gegenteil. Sie war stolz darauf, bei der Geburt geholfen zu haben, auch wenn es nur kleine Hilfeleistungen waren.
„Vielen Dank“, erwiderte Rynard. „Der Kleine ist wirklich putzig. Die Runzeln im Gesicht, die kleinen Finger und Zehen. Ich könnte ihn Tag und Nacht betrachten, mir wäre nie langweilig. Genauso fühlte ich mich nach der Geburt meiner Töchter.“
Sabrin musste lächeln, so viel Liebe, wie Rynard für seine Familie verspürte, hatte sie noch nie erlebt. Doch dann kam sie auf den Grund ihres nächtlichen Besuches. „Wisst Ihr bereits, wann Eure Freunde morgen hier eintreffen werden?“, fragte sie. „Es ist vielleicht zu anstrengend für Eure Gemahlin, so kurz nach der Geburt Gäste zu empfangen.“ Besorgt sah sie den Hausherrn an.
„Da kennst du meine Gattin schlecht. Sie ist ein Energiebündel. Sie empfängt die Gäste trotzdem. Ich bestand aber darauf, dass sie das Bett nicht verlässt und sich schont. Auch wenn es sich nicht geziemt, andere Männer im Schafgemach zu empfangen, unser Treffpunkt wird dort sein. Meine Gemahlin meinte, für ihre beste Freundin Sally täte sie alles, was für sie möglich ist.“ Rynard lächelte. „So ist sie nun mal, meine Genefa.“
„Genau wie ich sie eingeschätzt habe“, erwiderte Sabrin und schaute zu Rynard hoch. „Wann werden Eure Freunde hier eintreffen?“, fragte sie nochmals, nachdem der Hausherr ihr alle möglichen Auskünfte gegeben hatte, aber nicht die Ankunft seiner Freunde.
„Gegen neun Uhr“, entgegnete Rynard.
„Dann sollten wir noch ein wenig schlafen“, sagte Sabrin und gähnte. „Ihr solltet auch zu Bett gehen, es war eine lange, aufregende Nacht!“, befahl sie dem Hausherrn.
„Zu Befehl, junge Frau!“, scherzte er. „Ich wünsche gut zu ruhen.“
„Ihr auch“, antwortete Sabrin. „Ach ja, Eure Gattin war sehr tapfer.“
„Ich weiß, sie ist immer so tapfer“, meinte Rynard. Er sah der jungen Frau nach, bis sie die Tür ihres Schlafzimmers hinter sich geschlossen hatte. Dann legte auch er sich hin. Bevor er einschlief, schaute er verliebt zu seiner Gemahlin, die mit dem Kind im Arm selig schlummerte und sich von den Strapazen der letzten Stunden erholte.