Während Sally schlief, beobachtete Raimon seine Liebste. Er konnte es immer noch nicht glauben, was eben hier in der Schlafkammer seines Bruders geschehen war. Hatte er wirklich Sally seine Liebe zu ihr gestanden? Der Henker versuchte, sich zu erinnern. Immer wieder kam er zu dem gleichen Ergebnis. Vor seinem geistigen Auge sah er sich, wie er Sally die Worte ins Ohr flüsterte. Und dann, sehr zu seinem Erstaunen, wie Sally ihm ihre Gefühle gestand. Raimon konnte es kaum fassen. Seit sein geliebtes Weib vor Jahren starb und kurze Zeit später die Kinder folgten, hatte er noch nicht daran gedacht, jemals wieder eine Frau zu lieben. Nun das! Doch anstatt zu hadern, freute sich Raimon über die neue Liebe. Er hatte erkannt, das Leben ging weiter, auch ohne seine Frau. Seine Frau und seine Kinder waren tot. Er jedoch lebte und erfreute sich bester Gesundheit.
Über dem Nachdenken musste der Scharfrichter, wie vorhin Sally, eingeschlafen sein. Die ungewohnte körperliche Betätigung hatte ihn wohl doch mehr ermüdet, als er vermutet hatte. Trotz Schlummer schienen seine Sinne voll funktionstätig zu sein. Ein brenzliger Geruch irritierte seine Nase. Sofort war Raimon hellwach.
Er setzte sich auf und schnupperte. Wahrlich, es roch brenzlig. Woher das nur kam? Raimon konnte die Herkunft des Geruchs nicht orten. Um Sally nicht zu stören, stand Raimon so leise wie möglich auf. Er ging zum Fenster und schaute hinaus. In der Gasse war alles ruhig. Nicht einmal Passanten waren zu sehen. So schloss er das Fenster wieder und wollte in den Flur hinaus gehen. Als er an sich heruntersah, bemerkte er, dass er noch immer nackt war. Daher schlüpfte er schnell in seine Hose und zog das Hemd über. Dann ging er hinaus in den Flur. Dort sah er die Bescherung. Aus der Küchentür quoll Rauch, der langsam aufwärts waberte.
Erschrocken rannte Raimon zurück in die Kammer. „Sally, aufwachen!“, versuchte er die Schlafende zu wecken. Hastig riss er das Laken weg, das die junge Frau bis zu ihrer Nasenspitze hochgezogen hatte. „Sally, schnell! Unten brennt es!“ Aufgeregt rüttelte er seine Liebste, bis sie endlich die Augen öffnete.
„Was machst du für einen Lärm?“, knurrte Sally missmutig und verschlafen. Sie wollte das Laken wieder hochziehen und weiterschlafen.
„Hörst du! Es brennt!“, rief Raimon noch einmal.
Endlich reagierte Sally. Wie angestochen schoss sie hoch. „Was ist?“, fragte sie und sprang aus dem Bett.
„Unten brennt es!“, erwiderte Raimon und trieb sie zur Eile an. „Wenn wir uns nicht beeilen, brennt womöglich das ganze Haus ab.“
Sally bemerkte Raimons Blick auf ihren nackten Leib. Doch um beschämt zu sein, war jetzt keine Zeit. Sie griff nach ihrer Kleidung und warf sich etwas über. „Komm“, rief sie und rannte hinaus.
Inzwischen hatte sich der Rauch im oberen Flur ausgebreitet. Sally griff nach ihrem Rocksaum und hielt ihn vor Mund und Nase. Dann rannte sie, gefolgt von Raimon, die Treppe hinunter. Unten versuchte sie, sich zu orientieren. Immerhin befanden sie sich hier in einem fremden Haus, in dem sie sich nicht auskannten. Die Frau erkannte, dass der meiste Qualm aus der Küche kam. Da fiel ihr ein, was sie vor kurzem dort getan hatte.
„Raimon, die Eier und der Speck!“, stieß Sally entsetzt aus und stürmte wie von Hunden gehetzt, in die Küche. Dort konnte sie nicht einmal mehr die Hand vor Augen sehen. Vorsichtig tastete sie sich zur Feuerstelle, wo immer noch die Pfanne mit dem nun völlig verkohlten Essen auf der Platte stand. „Oh weh“, seufzte Sally, während sie nach dem Stiel der Pfanne griff, um das Behältnis nach draußen zu befördern. Schmerzgeplagt schrie sie auf. Sie hatte nicht daran gedacht, wie heiß dieser sein könnte. Prompt verbrannte sie sich die Finger.
Das Verarzten musste aber warten, wenn nicht noch mehr passieren sollte. Schnell griff sie nach dem Lappen, der in einem Eimer neben dem Ofen lag und wickelte ihn um den Pfannenstiel. Dann rannte sie, die qualmende Pfanne vor sich hertragend, nach draußen in den Hof. „Mach die Vordertür auf und das Fenster! Etwas Durchzug kann jetzt nicht schaden“, rief sie Raimon im Hinausrennen zu. Im Hof warf Sally die Pfanne samt Inhalt in eine Pfütze. Zischend verzog sich der Rauch. Jetzt sah sie das Dilemma. Vom Speck und den Eiern war nichts mehr übrig, außer schwarzen unförmigen Krusten.
„Das ist ja grad nochmal gut gegangen“, sprach die sichtlich erleichterte Sally zu Raimon, der ihr auf den Hof gefolgt war. „Hast du das Fenster und die Tür nach vorn zur Straße geöffnet?“, wollte sie von ihm wissen.
„Ja, habe ich“, erwiderte der Henker und zog Sally an sich. „Wir sollten noch ein wenig warten, bis wir hineingehen. Da drinnen stinkt es ganz fürchterlich.“
Sally grinste. „Hier draußen ist es auch schön, wenn auch nicht so bequem wie oben.“ Sie schmiegte sich an Raimon. „Wie konnte das nur passieren?“, fragte sie. „Nun haben wir keine Eier und keinen Speck mehr. Hungrig sind wir auch.“
„Brot und Butter ist aber noch da. Das ist besser als gar nichts“, erwiderte Raimon. „Außerdem haben wir vorerst einen ganz anderen Hunger gestillt.“ Verschmitzt feixte Raimon Sally an.
„Du schon wieder!“, tat Sally empört und boxte den Henker in die Seite, dann errötete sie abrupt. Erst jetzt wurde ihr bewusst, was sie getan hatten. „Aber schön war es“, musste sie zugeben.
Raimon blickte sie ernst an. „Ich liebe dich“, bestätigte er ihr und küsste sie zärtlich auf die Nasenspitze.
Sally errötete noch mehr. Sie erinnerte sich daran, wie sie damals in Exmouth in Todesangst aus dem Hurenhaus geflohen war und Raimon sie einfach aufgenommen und somit vor einem grausamen Schicksal bewahrt hatte. Das würde sie nie vergessen. „Ich liebe dich auch“, gestand sie ihm mit leisen Worten.
Raimons Herz machte einen Freudensprung. Sally war ihm genau so zugetan wie er ihr. Doch wie sollte es nun weitergehen mit ihnen. Irgendwann musste er zurück nach Exmouth. Sie hingegen musste hier in Dover bleiben.
Plötzlich machte sich Sallys Magen bemerkbar. Laut knurrte er, als hätte er auch etwas zu sagen. Der Scharfrichter lachte. „Wir sollten nun doch zusehen, dass wir etwas essen“, sagte er zu Sally, dabei immer noch lachend. Hand in Hand gingen sie ins Haus zurück.
„Puh, das stinkt hier“, stellte Sally fest, als sie die Küche betraten. Obwohl das Fenster und die Tür geöffnet waren, hatte sich der Geruch nach verbranntem Speck und Eiern noch nicht ganz verzogen. Zum Glück hatte sich aber der Rauch bereits verflüchtigt.
Geschäftig legte Sally Brot und Butter auf den Tisch. In einer Schublade fand sie ein großes Messer, mit dem sie das Brot schneiden konnten. Nachdem sie das Salzfass neben die Butter gestellt hatte, setzte sie sich an den Tisch. Einladend winkte sie Raimon herbei, der sie von der Tür aus beobachtet hatte. „Hast du keinen Hunger?“, fragte sie ihn, als er sich ihr gegenüber an den Tisch setzte.
„Doch, sehr sogar“, antwortete der Henker und griff nach dem Messer, um das Brot in Scheiben zu schneiden. Sally schaute ihm dabei zu.
Während die beiden aßen, hing jeder seinen Gedanken nach. Genau wie Raimon konnte es Sally immer noch nicht fassen, was zwischen ihnen geschehen war. Doch wenn sie tief in ihr Innerstes hineinhorchte, wusste sie, dass sie angekommen war. Obwohl Raimon nicht ihrem Stand entsprach und es sich für sie eigentlich nicht geziemte, die Bekanntschaft eines Henkers zu machen. Ihr war es aber egal, sie liebte ihn. Nur das zählte.
Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie wirklich verliebt. Auch wenn sie auf einem nicht gerade normalen Weg ihrem Liebsten begegnet war, sah sie sich für immer an Raimons Seite. Obwohl sie sich immer sehr erfolgreich gegen eine Vermählung gesträubt hatte, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als Raimons Frau zu werden. Selwyn war Vergangenheit. Er würde für sie niemals das sein, was der Henker für sie war.
„Woran denkst du? Du lächelst so geheimnisvoll“, fragte Raimon auf einmal. Ihm war es nicht entgangen, dass Sally mit ihren Gedanken ganz woanders war.
„Ach, nichts Besonderes“, erwiderte Sally, die sich ertappt fühlte und der prompt wieder die Röte ins Gesicht schoss.
„Nach nichts sieht das aber nicht aus“, erkannte Raimon und wies sie auf ihre geröteten Wangen hin. „Sag schon, an welchen schamlosen Haderlumpen denkst du?! Ich werde ihn auf der Stelle hängen!“, foppte er sie.
Sallys Gesicht wurde noch roter. Beschämt schaute sie auf die abgenutzte Tischplatte. Um nicht sofort antworten zu müssen, zog sie mit der Fingerspitze die Linien der Maserung nach.
„Sag schon“, drängte Raimon.
Sally gab sich einen Ruck. „Ich muss daran denken, dass du schon bald wieder zurück nach Exmouth gehst und ich hierbleiben muss. Das macht mich traurig.“
„Daran habe ich auch schon gedacht“, gab Raimon zu.
Erstaunt schaute Sally auf. „Du auch?!“, stieß sie aus.
„Ja, ich auch. Mir ist es gar nicht wohl, dich hier zurücklassen zu müssen“, sagte Raimon. „Auch wenn es mein Bruder ist, bei dem du fortan leben wirst, ich werde dich sehr vermissen. Aber zurück nach Exmouth kannst du auf keinen Fall. Hier bist du sicher vor Rodney, in Exmouth nicht.“
„Ich weiß. Das verstehe ich auch“, entgegnete Sally. „Du wirst so fern sein. Ich hoffe, ich werde hier genug zu tun habe, um nicht ständig an dich denken zu müssen. Es würde mir das Herz zerreißen.“
Raimon schnaufte.
„Ich will schon immer an dich denken“, beruhigte Sally ihn. „Es wird mich nur sehr schmerzen, nicht in deiner Nähe sein zu können.“ Sally schaute Raimon so intensiv an, als wolle sie sich seinen Anblick für immer in ihr Hirn einbrennen wollen. „Kannst du nicht einfach hierbleiben?“, platzte sie auf einmal heraus. „Dein Bruder wird bestimmt nichts dagegen haben.“
„Nichts täte ich lieber als das“, erwiderte Raimon. „Doch mein Vertrag mit der Stadt Exmouth ist auf Lebenszeit abgeschlossen. Ich kann nicht einfach fernbleiben.“
„Was ist mit deinem Nachfolger? Könnte der dich nicht vorzeitig ablösen?“, wollte Sally wissen.
„Den gibt es“, antwortete Raimon. „Doch bis es soweit sein wird, dass er meine Nachfolge annehmen wird, werden noch einige Jahre vergehen.“
„Du kennst diesen Nachfolger bereits?“
„Noch nicht. Aber ich werde ihn bald kennenlernen“, gab Raimon zu. Sally sah ihn fragend an. „Mein Nachfolger ist Delmores zweitgeborener Sohn. Er ist jetzt gerade mal sechs Jahre alt. Also muss ich wohl oder übel noch mindestens sechs Jahre warten, bis er bei mir in die Lehre gehen kann. Bis er ein voll ausgebildeter Scharfrichter sein wird, vergehen ganz bestimmt auch noch einmal vier Jahre.“
„Bis dahin bist du ein alter Mann“, platzte Sally heraus.
„Der bin ich schon jetzt“, erwiderte Raimon lachend.
„Das war nicht so gemeint“, sagte Sally.
„Schon gut. Mit neununddreißig Jahren kann man schon sagen, man ist alt.“
Erstaunt sah Sally den Henker an. „Oh“, sage sie nur. „Ich dachte, du bist jünger.“
„Schön wäre es. Ich bin der älteste von vier Brüdern und fünf Schwestern“, erklärte er Sally. „Meine Geschwister sind alle sehr viel jünger als ich. Mein Vater ist kurz nach meiner Geburt ums Leben gekommen und meine Mutter heiratete erst acht Jahre später ihren zweiten Ehemann. Daher sind meine Geschwister alle so viele Jahre jünger als ich.“
„Das tut mir leid mit deinem Vater“, sagte Sally.
„Das muss es nicht“, erwiderte Raimon. „Ich habe meinen Vater nie kennengelernt. Für mich war mein Großvater wie mein Vater. Als meine Mutter erneut heiratete, folgte sie ihrem Gemahl hierher nach Dover. Sie war froh, mit der Heirat eines Schustermeisters aus unserer Henkersfamilie ausbrechen zu können. Ich blieb bei ihren Eltern in Exmouth, die mich von da an aufzogen. Immerhin war ich bereits acht Jahre alt und bald alt genug, bei meinem Großvater in die Lehre zu gehen. Obwohl es mein Großvater nie wollte, dass ich in seine Fußstapfen trete, blieb uns nichts anderes übrig. So wurde ich wie er, ebenfalls Scharfrichter.“
Ganz schlau wurde Sally aus Raimons Erzählung noch nicht. „Hatte dein Großvater keinen Sohn?“, fragte sie nach.
„Doch, den hatte er“, antwortete Raimon. „Mein Onkel ist irgendwann, ohne eine Spur zu hinterlassen, verschwunden. Er hatte sich immer dagegen gesträubt, der Nachfolger seines Vaters zu werden und hat wohl daher das Weite gesucht.“
„Jetzt ist es mir klar“, sagte Sally. „Eines möchte ich aber doch gerne noch wissen“, meinte sie dann. „Ich weiß nur nicht, ob es richtig ist, dich das zu fragen.“
„Nur Mut“, sagte Raimon darauf. „Es gibt nichts, was ich vor dir zu verbergen hätte. Du sollst alles über mich wissen.“
„Also gut“, meinte Sally darauf und holte nochmals tief Luft. „Die Kleidung, die ich auf dem Weg nach Dover trug, wem gehörte die? Deinem Neffen kann sie nicht gehören, dazu ist sie viel zu groß. Hast du sie vielleicht als junger Bursche getragen und wolltest sie nicht wegwerfen?“ Sally blickte über den Tisch hinweg zu Raimon. „Aber ich glaube kaum, dass du sie so lange aufbewahrt hast.“
Raimon hatte schon lange geahnt, dass diese Frage kommen würde. Schon, als sie auf dem Weg nach Dover waren, musste Sally die Frage auf den Lippen gelegen haben. Trotzdem traf es ihn vollkommen unvorbereitet. Trauer machte sich in ihm breit.
Sally erkannte Raimons Gemütszustand. „Du musst nicht darauf antworten, wenn es dich zu sehr schmerzt“, sagte sie zu dem Henker und griff nach dessen Händen, die er vor sich auf den Tisch gelegt hatte. Sie waren eisig kalt.
„Schon gut. Irgendwann hätte ich es dir sowieso sagen müssen. Warum also nicht schon jetzt“, sagte Raimon und begann zu erzählen.