Während Selwyn im Wald übernachtete und Garrick Quartier in der Herberge bezogen hatte, standen Sally und Raimon vor dem halb verfallenen Haus in dem der Bruder des Henkers wohnen sollte.
„Das ist ja sehr eigenartig“, sagte Raimon zu Sally und schüttelte den Kopf. „Ich verstehe das nicht. Delmore hat doch immer sehr darauf geachtet, dass sein Haus in Ordnung ist.“ Immer wieder schaute der Henker an der Fassade entlang, der der nicht aufzuhaltende Verfall anzusehen war.
„Dein Bruder scheint nicht zu Hause zu sein“, erwiderte Sally. Sie ging zu dem kleinen Tor, das den Zugang zum Hof versperrte. „Schau mal, hier ist offen“, rief sie erfreut Raimon zu und zerrte an dem verrosteten Riegel.
„Lass mich das machen“, sagte Raimon und schob Sally beiseite. Er ruckelte am Riegel, bis er ihn endlich zurückziehen konnte. Laut quietschend schwang der Torflügel auf und gab den Blick in den Innenhof frei. Ein Bild des Grauens erschloss sich ihnen.
„Hier stimmt wirklich etwas nicht“, stieß Raimon fassungslos aus. Zögernd trat er in den Innenhof und blickte sich um. Überall stapelte sich Unrat, die Türen hingen schief in den Angeln, Fensterläden standen offen und gaben den Blick ins Innere des Hauses frei.
Vorsichtig schaute Sally ins Stallgebäude. Der Schweinekoben war leer, auch der Verschlag, in dem sonst Hühner eingesperrt waren.
Der Henker währenddessen ging ins Haus. Das sonst von Delmores Gattin gepflegte Haus sah nicht so aus, als wäre hier in der letzten Zeit regelmäßig geputzt worden. In der Küche stapelte sich schmutziges Geschirr. Eine Pfanne mit festgeklebten Essensresten stand auf der der erkalteten Feuerstelle. Als Raimon in einen Schrank schaute, sprangen Mäuse heraus und flüchteten vor dem Eindringling. Außer einen Topf, in dem wohl irgendwann einmal Mehl bevorratet wurde und der nun voller Mäuseköttel war, befand sich im Schrank nichts mehr. Wütend warf Raimon den Topf in die Ecke, wo er laut scheppernd zerschellte.
„Was machst du hier für einen Lärm?“, fragte Sally, die eben hereinkam. Mit der Hand wollte sie die Mehlstaubwolke verscheuchen.
„Schau dir doch mal diese Schweinerei an!“, schimpfte Raimon. „Hier kann man nicht mal mehr Vieh hausen lassen. Seit seine Alte das Weite mit dem Knecht gesucht hat, scheint Delmore hier nie aufgeräumt zu haben. Die armen Kinder, die so etwas mit ansehen müssen.“ Er machte eine weit ausladende Geste mit dem Arm.
„Was mag hier wohl geschehen sein?“, fragte Sally.
„Wenn ich das wüsste, würde ich es dir sagen können“, fuhr Raimon Sally gereizt an. „Entschuldige“, sagte er gleich darauf bestürzt zu ihr, als er sich seines Benehmens Sally gegenüber bewusst wurde. „Es macht mich einfach fertig, zu sehen, wie mein Bruder und dessen Kinder hier hausen. Mein Bruder mag ein komischer Kauz sein, aber er hätte doch wenigstens für die Kinder Ordnung halten können. Die können doch nichts dafür, dass ihre Mutter auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist. “
„Schon gut. Reg dich nicht auf. Mir ginge es bestimmt nicht anders. Doch da stimme ich dir zu, vom Kopf in den Sand stecken, wird es auch nicht besser“, erwiderte Sally. „Schauen wir oben. Vielleicht finden wir dort einen Hinweis, was hier geschehen sein könnte“, sagte sie dann und wandte sich der schmalen Treppe zu, die ins Obergeschoss führte. Vorsichtig stieg sie nach oben, immer darauf bedacht, beschädigte Stufen zu meiden.
„Hier ist alles leer“, rief sie Raimon zu, der wie versteinert unten im Flur stehengeblieben war. „Dafür ist es hier einigermaßen ordentlich. Zwei Kammern gibt es hier. Wahrscheinlich Schlafkammern. Hier sind Strohsäcke und Decken, in einer ist sogar ein richtiges Bett.“ Sie ging hin und rüttelte an der Bettunterlage. Staub wirbelte auf, besonders gut roch es auch nicht.
„Hm“, knurrte Raimon und kraxelte die enge Stiege hoch. Er schaute sich ebenfalls um, konnte wie Sally aber nichts Besonderes entdecken. „Wir sollten erst einmal hier hierbleiben“, sagte der Henker nach einer Weile.
„Hier?“, Sally riss entsetzt die Augen auf. „In diesem Saustall? Wie stellst du dir das vor?“
„Was bleibt uns anderes übrig? Wir können es uns nicht leisten, Quartier in einer Herberge zu nehmen. Mein Bruder wird bestimmt nichts dagegen haben, wenn wir hier übernachten. Ruhen wir uns eine Weile aus und morgen machen wir uns auf die Suche nach Delmore und seinen Kindern. Vielleicht sind sie ja auch nur außer Haus, sind bald zurück und wir machen uns umsonst Sorgen um sie.“
„Wenn du es so sagst, hast du recht. Also gut, bleiben wir hier“, stimmte Sally nach einer Weile zu. „Schlafen können wir hier oben, denke ich. Der Anstand bleibt auch bewahrt.“
Raimon musste lächeln, dass Sally sogar in dieser von der Normalität abweichenden Situation an den Anstand denken musste. Ihre gute Erziehung hatte sich wohl so in ihr Unterbewusstsein eingebrannt, dass sie diese nicht einmal in solchen Situationen unterdrücken konnte. Das hier war in Raimons Sinne ein wahrlich außergewöhnlicher Zustand. Sie beide allein in einer fremden Stadt, auf der Suche nach seinem Bruder und dessen Kindern. Dabei hatten sie in Exmouth schon fast wie Mann und Frau unter einem Dach gelebt. „Räumen wir die Küche ein wenig auf, damit wir uns nachher etwas zu essen machen können“, bestimmte er einfach.
„Anderer Vorschlag“, sagte Sally darauf. „Geh du in die Stadt und treibe ein paar Vorräte auf. Das, was noch vorhanden ist, ist nicht mehr genießbar.“
Raimon wollte widersprechen, doch Sally hielt ihn davon ab. Sie griff in ihren Beutel und drückte dann Raimon etwas in die Hand. Der staunte nicht schlecht, als er sah, welchen Wert die Münzen hatten.
„Das müsste erst einmal für den Anfang reichen“, sagte Sally und schob den Henker zur Treppe. „Frag nicht, ich erkläre dir das später. Geh nur. Ich kümmere mich inzwischen um die Küche.“ Als der Henker erneut abwehren wollte, tippte sie ihm mit einem Finger auf die Lippen. „Ich sagte, ich erkläre dir später, woher das Geld ist“, wehrte sie ab.
Raimon gab sich geschlagen. Er polterte die Stiege hinunter und verschwand durch die Vordertür nach draußen.
Sally begab sich in die Kammer, in der wohl die Kinder geschlafen hatten. Sie zog die Männerkleidung aus und ihr Kleid an. Kurz wuschelte sie ihre nun kurzen Haare durch. Dann setzte sie ihre Haube auf und band sie fest. Froh, endlich wieder Frauenkleider tragen zu könnten, schnürte die Hemd und Hose zu einem handlichen Bündel. „Ich muss Raimon noch fragen, wer vor mir die Kleidung getragen hat“, nahm sie sich vor. Das wollte sie schon längst wissen, hatte es sich bisher aber nicht gewagt, danach zu fragen.
Sally huschte wenig später die Treppe hinunter und begab sich in die Küche. Suchend blickte sie sich um. Nirgendwo konnte sie einen Eimer entdecken, auch Holz war keines vorhanden. So ging sie erst einmal hinaus auf den Hof. Dort hatte sie vorhin einen Stapel gespaltenes Holz entdeckt. Sie nahm einige Scheite und raspelte ein paar Späne zum Anzünden ab. All das trug sie in die Küche, wo sie als erstes ein Feuer entzündete. Nachdem sie mit einem großen Topf mangels Eimer, Wasser geholt hatte, begann sie zu putzen. Schnell war der Herd gesäubert, das noch vorhandene Geschirr abgewaschen und die Stube ausgekehrt. Zum Lüften öffnete sie eines der Fenster, das zur Gasse hinausging. Sofort strömte frische, klare Luft herein und vertrieb den abgestandenen Gestank.
Nachdem Sally fertig war, schaute sie sich ein wenig im Haus um. Weiter hinten im Flur fand sie noch eine Tür, die zu Delmores Schusterwerkstatt führte. Ganz im Gegensatz zum restlichen Haus war diese penibel aufgeräumt. Nur die Staubschicht auf dem in Reih und Glied sortierten Werkzeug und liegengebliebenen unfertigen Schuhen zeugte davon, dass der Meister schon lange nicht mehr in der Werkstatt tätig gewesen sein musste.
„Was mag hier nur vorgefallen sein?“, fragte sich Sally. Dabei sprach sie laut zu sich selbst, dass sie vor ihrer eigenen Stimme erschrak. Sie blickte sich um und suchte nach Hinweisen über den Verbleib der Hausbewohner. Auch hier konnte sie nichts finden. So verließ sie die Werkstatt und verschloss sorgfältig die Tür hinter sich. Dann ging sie hinaus auf den Hof. Das Hoftor stand immer noch offen. Daher verschloss sie es und legte den Riegel von innen vor. Es musste nicht gleich jeder vorbeigehende Fußgänger sehen, dass in der Schusterwerkstatt Besucher weilten. Dasselbe tat sie mit dem Küchenfenster.
Inzwischen kam Raimon aus der Stadt zurück. Er war bepackt mit allerlei Vorräten, die er in der Küche auf den Tisch legte. „Sally, ich bin wieder da“, rief er laut. „Sally“, rief er nochmals, als sich auf sein Rufen niemand meldete. Eben wollte er erneut rufen, als die junge Frau zur Tür hereinkam.
„Du bist ja schon zurück. Ich habe dich gar nicht bemerkt“, sagte sie zu Raimon und schaute nach den mitgebrachten Vorräten. Der Scharfrichter hatte Eier, geräucherten Speck, Mehl, Milch, Brot, auch etwas Butter und Salz ergattert. „Ich mache schnell Eier und kross gebratenen Speck. Für den Anfang muss das reichen. Du hast bestimmt Hunger. Mir knurrt nämlich auch der Magen“, sagte sie und machte sich an die Arbeit. Geschäftig hantierte sie am Herd und schon bald verbreitete sich der Duft von gebratenem Speck im Haus.
Raimon lief das Wasser im Mund zusammen. Prompt begann sein Magen laut zu knurren. „Das riecht lecker“, sagte er zu Sally und stellte sich hinter die Frau. Begehrlich sog er deren feinen Duft ein und musste sich beherrschen, sie nicht an sich zu ziehen und zu küssen. Wie sehr er Sally begehrte. Aber da war nicht nur das Begehren, sondern das süße Gefühl der Liebe, die er für sie empfand. Doch das musste er unterdrücken, so sehr er Sally auch für sich haben wollte.
Die Frau spürte die Stimmung, die Raimon befallen hatte. Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn an. Ihr fiel sein bleiches Gesicht auf, aus dem sie zwei große, leuchtende Augen anblickten. „Was hast du?“, fragte sie so leise, dass es Raimon kaum verstehen konnte.
„Sally, ich…“, flüsterte der Scharfrichter. Schweiß stand auf der Stirn, sein Körper zitterte wie bei einem Fieberschub.
„Raimon“, keuchte Sally. Sie verstand nicht, warum ihr Herz plötzlich so aufgeregt in ihrer Brust schlug, dass es beinahe schon schmerzte. Sie blickte in Raimons Augen, sah auf seine Lippen, die er mit der Zunge befeuchtete, als würde er an Durst leiden.
Auch Raimons Herz pochte hart, sein Puls ging schneller als sonst, als hätte er körperliche Anstrengung hinter sich. Er nahm Sallys Hand, bewunderte die zarten Finger und küsste deren Spitzen.
Sally war es, als würden tausende von Ameisen über ihren Körper krabbeln. Ein zartes Kribbeln machte sich in ihrer Magengrube breit. Sie lächelte Raimon an und wusste auf einmal, wie es um ihn stand. Aber nicht nur um ihn, sondern auch um sie. Erstaunt erkannte sie, sie liebte Raimon, den unehrenhaften Scharfrichter aus Exmouth. Sie, die adlige Elizabeth Montgomery liebte einen Henker. Erst wollte sie sich zurückziehen, das Gefühl verstecken, es verscheuchen wie ein Huhn. Aber dann dachte sie sich, Liebe nahm keine Rücksicht auf den Stand. Was machte es aus, dass sie einen Henker liebte, der seinen unehrenhaften Beruf nur ausübte, weil auch der getan werden musste. War sie selbst inzwischen nicht auch nur eine unehrenhafte Dirne?
„Raimon“, flüsterte sie erneut mit bebenden Lippen und sah den vor ihr stehenden Mann mit klopfendem Herzen und großen Augen an. Ein zarter Hauch von Röte zog über ihr Gesicht, hinunter zu ihrem Hals, dann zu ihrem Dekolletee. Ihr Busen hob und senkte sich hektisch im Takt ihrer Atemzüge.
„Sally“, schrie Raimon fast, als er die Frau endlich an sich riss. Er zog ihr die Haube vom Kopf, griff in ihr kurzes, dichtes Haar. Wie gebannt starrte er auf ihre vollen Lippen, die sich ihm anboten wie reife, süße Kirschen. Dann zog er sie erneut an sich.
Sally klammerte sich an Raimon wie eine Ertrinkende ein rettendes Seil. Sie fühlte sich plötzlich so schwach, dass ihr die Beine versagten.
Sofort fing Raimon sie auf. Als wäre sie leicht wie eine Feder hob er sie hoch und nahm sie auf seine Arme. Die Frau schmiegte sich vertrauensvoll an ihn. Er ging mit ihr die enge Stiege hinauf ins Obergeschoss und betrat dort die Kammer mit dem Bett. Staub wirbelte auf und schwebte im Licht, das durch das winzige Fenster eindrang, zu Boden. Doch sie achteten nicht auf den Staub, sondern nur auf sich.
Vorsichtig legte Raimon Sally auf dem Bett ab. Das tat er so, als wäre sie ein zartes, zerbrechliches Schmuckstück. Raimon legte sich neben sie. Dabei sah er sie verliebt an. Zärtlich strich er über ihre Wange, als würde er es nicht begreifen, was er hier tat. Aber dann besann er sich und beugte sich über die Frau, bis er ihren heißen Atem auf seiner Wange spüren konnte. Ihre Münder näherten sich. Dann endlich trafen sich auch ihre Lippen zu einem ersten, noch scheuen Kuss.