Aufgeregt durchschritt Selwyn die kleine Kammer, die Garrick in Dover in einer kleinen Herberge am Hafen angemietet hatte. „Ihr wisst wirklich nicht, wo sich Sally und ihr Begleiter hingewendet haben könnten?“, fragte er zum wiederholten Male den verdattert dreinschauenden Detektiv.
„Wie ich es schon sagte, nein“, erwiderte Garrick, der sich über sich selbst ärgerte. „Hätte ich nur besser aufgepasst“, warf er sich immer wieder vor. „Diese einmalige Chance verpasst zu haben, ist fürchterlich.“
Selwyn winkte ab. „Ihr konntet doch nicht wissen, dass Sally gerade jetzt nach Dover unterwegs war. Etwas Gutes hat das Ganze trotzdem.“ Fragend wurde Selwyn von Garrick angeschaut. „Unser Suchradius ist kleiner geworden. Dover ist nicht so riesig, dass man hier niemanden finden kann.“
„Was wisst Ihr?“, warf Garrick ein. „Wer sich verstecken will, kann das hier in Dover genau so tun wie in London. Deshalb ärgere ich mich trotzdem. Als Detektiv müsste ich immer auf der Hut sein.“
„Ja, schon“, erwiderte Selwyn. „Aber sich im Nachhinein noch darüber aufregen, bringt uns auch nicht weiter. Überlegen wir lieber, was wir als nächstes tun sollten.“
„Eigentlich bin ich wegen einem anderen Auftrag hier“, sagte Garrick.
„Lord Kimberley lässt Euch ausrichten, Sally ginge nun vor. Den anderen Auftrag könnt Ihr auch später noch ausführen.“
Garrick schaute sein Gegenüber an. „Ihr meint…?“ Er konnte es kaum glauben.
„Ich meine es nicht nur so. Lord Kimberley besteht darauf, Sallys Angelegenheit vorzuziehen. Und nun überlegen wir, anstatt sinnlos über irgendwelche Aufträge zu palavern und wertvolle Zeit zu vergeuden.“
Selwyn ging ans Fenster und starrte hinaus. Das Wetter hatte sich nach seiner Ankunft in Dover verbessert. Jetzt schien sogar die Sonne und hatte die Wolken, die ihn bis hierher begleitet hatten, vertrieben. Unten auf der Straße eilten Menschen geschäftig entlang. Vor einem Haus gegenüber stand eine junge Frau. Ihr auffälliges Kleid mit dem fast übergroßen Ausschnitt zog unmissverständlich die Blicke der Männer auf sich. Ungeniert stellte sie ihre Reize zur Schau. Während die vorübergehenden Frauen ihren Unmut über die Dirne lautstark äußerten, zeigten die Männer Interesse. Vor allem Männer ohne weibliche Begleitung wandten sich ihr zu. Mit einem feilschte das Mädchen, bis er den Preis, den es für seine Dienste verlangte, akzeptierte. Mit diesem verschwand die Dirne hinter der nächsten Hausecke. Selwyn mochte am liebsten gar nicht daran denken, was nun dort geschah. Er dachte an Sally, die in Exmouth dazu gezwungen wurde, diesem unehrbaren Gewerbe nachzugehen. Wie leicht hätte sie jetzt an der Stelle des Mädchens sein können.
„Habt Ihr die Kleine dort gegenüber auch gesehen?“, wandte sich Selwyn fragend an den Detektiv, der zu ihm getreten war und ebenfalls aus dem Fenster schaute.
„Das scheint eine Dirne zu sein“, erwiderte Garrick. „Sie stand schon öfter dort drüben vor dem Haus.“
„Sie ist eben mit einem schmierigen Kerl im Schlepptau hinter der nächsten Ecke verschwunden. Vorher haben sie diskutiert. Dann hat der Mann ihr etwas in die Hand gedrückt“, berichtete Selwyn, was er eben beobachtet hatte.
Garrick grinste. „Stellt Euch nicht dümmer an, als Ihr seid“, meinte er dann. „Die Kleine braucht Geld, hat Hunger oder sonst was. Manche Männer bezahlen halt für gewisse Dienste. Was ist Besonderes daran?“
„Ich würde so etwas nie tun“, empörte sich Selwyn. Vor Scham lief sein Gesicht rot an.
„Sagt ja nicht, Ihr wart noch nie in einem Hurenhaus?“ Garrick war erstaunt. „Jeder Mann tut so etwas. Immerhin haben wir auch gewisse Bedürfnisse, die uns eine Ehefrau vielleicht nicht erfüllt oder erfüllen möchte. Oder wir haben gar keine Gattin, mit der wir… na Ihr wisst schon, was tun.“
„Ich war wirklich noch nie in einem Hurenhaus“, gab Selwyn zu. „Aber so wie Ihr davon sprecht, klingt es so, als wäre es für Euch alltäglich, die Dienste einer Dirne in Anspruch zu nehmen. Ihr solltet Euch in Grund und Boden schämen!“
Garrick lachte laut. „Was ist schon dabei? Ich habe keine Gattin, der ich Rechenschaft schuldig bin. Hätte ich eine, würde ich natürlich kein Geld für solche Dienste ausgeben.“ Der Detektiv kratzte sich am Kopf. „Wo wir eben bei diesem heiklen Thema sind. Wir sollten vielleicht bei den Hurenhäusern der Stadt nachfragen. Ein Henker ist auch für die Dirnen zuständig. Ich denke, hier in Dover wird das nicht anders sein als in Exmouth. Wenn wir Glück haben, kann uns der ortsansässige Henker weiterhelfen. Die Scharfrichter kennen sich untereinander alle. Warum also nicht den hier fragen.“
„Das ist eine sehr gute Idee“, erwiderte Selwyn und griff nach seinem Hut. „Gehen wir“, rief er aus und stürmte voller Tatendrang zur Tür.
„Halt“, rief Garrick ihm hinterher. „Wartet unten auf mich. Wir sollten vorher frühstücken. Mit leerem Magen sucht es sich nicht gut. Ihr habt bestimmt auch Hunger, nachdem Ihr die Nacht unter freiem Himmel verbringen musstet.“
„Ich bestelle schon mal“, rief Selwyn ihm zu. Er drehte sich um und warf die Tür hinter sich zu.
Der Gastraum hatte sich inzwischen geleert. Trotz früher Morgenstunde hingen einige Männer an einem der Tische, den Kopf auf den Armen gebettet und schnarchten.
„Das sind noch einige Nachzügler, die gestern Abend zu viel gezecht und den Weg nach Hause oder ins Bett nicht gefunden haben“, erklärte die Wirtin unaufgefordert. Die Frau stand hinter dem Tresen und wischte mit einem speckigen Tuch über ihr gerötetes Gesicht.
„Wir möchten frühstücken“, sagte Selwyn, der nicht auf Konservation aus war. Als hätte er die vorangegangenen Worte der Frau nicht gehört, sah er sich nach einem etwas abgelegenen Platz um.
„Wer ist wir“, fragte die Wirtin. Sie tat, als wüsste sie nicht mehr, zu wessen Kammer sie Sir Selwyn vor gar nicht allzu langer Zeit geführt hatte.
„Mister Windham und ich natürlich. Oder seht Ihr hier noch mehr Leute, die wach sind?“, erwiderte Selwyn. „Bringt uns etwas. Wir haben Hunger.“
„Euer Freund ist doch noch gar nicht hier. Wie könnt Ihr wissen, ob er hungrig ist?“
„Diskutiert nicht mit mir, sondern macht einfach, was ich Euch sage!“, fuhr Selwyn die Frau ungehalten an. Dann ging er an einen der freien Tische am anderen Ende des Raumes. „Aber vorher macht hier sauber. Ein Schweinekoben ist viel sauberer als dieser Tisch hier!“ Der Mann zeigte angeekelt auf den verschmutzten Tisch. In einer Bierlache schwammen Reste eines undefinierbaren Essens. Daneben musste sich ein Gast ausgeschnäuzt haben. Ein klebrig aussehender Fleck prangte mitten auf der Tischplatte.
Die Wirtin kam herbeigeeilt. Sie wollte den Tisch mit dem Tuch abwischen, mit dem sie sich eben das Gesicht gereinigt hatte.
Entsetzt blickte Selwyn sie an. „Ihr wisst, was Ihr hier tut?“, fragte er konfus, worauf die Wirtin nickte und mit ihrer Arbeit beginnen wollte. „Haltet ein!“, rief Selwyn. „Holt sofort einen Eimer heißes und sauberes Wasser, Seife, Bürste und einen frischen Lappen. Damit putzt Ihr den Tisch und nicht mit diesem Drecklappen!“
„Auch noch Sonderwünsche, der feine Herr“, knurrte die Frau. Sie trollte sich dann aber doch, nachdem Selwyn nochmals auf sauberem Handwerkszeug bestanden hatte.
„Was ist denn hier los? Die rennt ja, als wäre der Teufel leibhaftig hinter ihr her“, wollte Garrick wissen, der nach eben dazu kam und sah, dass Selwyn die Arbeiten der Wirtin überwachte wie ein Bluthund einen Gefangenen.
„Die impertinente Person dachte“, Selwyn zeigte auf die Wirtin, „wir nehmen unser Frühmahl an einem völlig verdreckten Tisch ein. Es ist unmöglich, zahlenden Gästen so etwas zu zumuten.“ Er sah den breit grinsenden Garrick an. „Euch scheint das wohl nicht zu stören!“, knurrte er ihn an.
„Ach, wisst Ihr“, meinte Garrick darauf schulterzuckend. „Wenn man so oft unterwegs ist wie ich, gewöhnt man sich an einiges. Da sind unsaubere Tische das geringste Übel.“
Selwyn schüttelte verständnislos den Kopf. Er als Arzt konnte sich nicht vorstellen, in solch einem Schmutz zu leben. Er dachte in diesem Fall ganz gegenteilig als andere Ärzte, die er kannte. Sauberkeit war für ihn wichtig. Schmutz musste bekämpft werden.
„Nun bringt endlich unser Frühmahl“, befahl er der Wirtin, nachdem er den Tisch als sauber genug befunden hatte. „Ich will aber vorher das Geschirr sehen“, rief er der sich entfernenden Frau nach.
„Ihr seid wirklich sehr pingelig“, sagte Garrick lachend, nachdem die Wirtin lauthals schimpfend das Terrain verlassen hatte.
„Mich wundert es, dass hier überhaupt noch jemand einkehrt“, erwiderte Selwyn. „Ich hoffe, die Betten sind sauberer als die Tische hier unten. Ich habe keine Lust, mir die Krätze zu holen, oder massenweise Läuse und Flöhe zu vernichten.“
„Nun macht mal halblang“, knurrte Garrick ihn an. „Das Essen ist gut, wir haben nachts ein Dach über dem Kopf, haben es trocken und warm. Was wollen wir mehr?“ Er sah den Arzt argwöhnisch an, ob dieser etwas einzuwenden hatte. „Wir sollten uns nun den wichtigen Dingen zuwenden, anstatt mit der Wirtin über Sauberkeit zu diskutieren. Glaubt mir, sobald wir hier weg sind, wird sie jedes Wort vergessen haben. Bei der ist Hopfen und Malz verloren. Sally und ihr Begleiter, dieser Henker Raimon, sind nun wichtiger.“
„Wird auch Zeit! Davon haben wir bereits genug vergeudet. Also, wo fangen wir an mit der Suche?“
„Am besten gleich gegenüber“, entgegnete Garrick.
Fragend blickte Selwyn den Detektiv an. Ehe der Arzt aber etwas sagen konnte, sprach Garrick weiter. „Gegenüber befindet sich das beste Hurenhaus der Stadt. Was spricht dagegen, gleich dort mit unserer Suche zu beginnen?“
Kauend hörte Selwyn dem Spion zu. Für ihn war es einleuchtend, den kürzesten Weg zu nehmen. Er musste an das leicht bekleidete, barbusige Mädchen denken, das er von Garricks Kammerfenster aus beobachtet hatte. Nun hatte er auch eine Erklärung über dessen Verhalten.
„Dann sollten wir gleich nach dem Frühmahl aufbrechen“, sagte er zu seinem Tischnachbarn, der eben mit einem Stück Braten kämpfte. „Der Tag ist noch jung und lang. Das sollten wir auf jeden Fall ausnutzen.“
Nachdem die beiden Männer gegessen hatten, machten sie sich auf den Weg. Die kurze Strecke bis zum gegenüberliegenden Hurenhaus war schnell überwunden. Während Garrick resolut an die Tür klopfte und um Einlass begehrte, hielt sich Selwyn mehr im Hintergrund. Ganz einerlei war es ihm nicht, solch ein Etablissement betreten zu müssen. Doch um Sally zu finden, ging kein Weg daran vorbei.
Die beiden Männer wurden von einer etwas älteren, stark geschminkten Frau empfangen. Genau wie am Morgen das Mädchen, trug sie ein weit ausgeschnittenes Kleid. Ihr großer Busen sprang beinahe aus dem Mieder. Wenn man genau hinschaute, konnte man sogar die Brustwarzen erahnen.
„Kommt herein. Ich hole sofort die Mädchen“, plapperte die Frau los. „Was mögen die Herren? Blond, brünett oder lieber eine heißblütige Rothaarige? Mager oder schön griffig mit Rundungen, in denen man versinken kann?“
„Nichts von alledem“, unterbrach Garrick den Redefluss der Frau. „Wir wollen nur eine Auskunft.“
„Wie komme ich dazu, Euch eine Auskunft zu erteilen?“, konterte die Frau, die bei den Männern ein lohnendes Geschäft erwartet hatte. Dass die nur eine Auskunft haben wollten, behagte ihr gar nicht.
Garrick kramte in seiner Tasche und holte ein paar Münzen hervor, die er der Dirne reichte. „Ist das ein Argument für eine Auskunft?“, fragte er lächelnd.
Beim Anblick der glänzenden Münzen änderte sich sofort das Mienenspiel der Frau. „Natürlich helfe ich gerne“, flötete sie verführerisch. „Womit kann ich behilflich sein?“, wollte sie dann wissen.
„Wer ist hier in der Stadt für die Dirnen verantwortlich?“, fragte Garrick geradeaus.
„Hat eins von meinen Mädchen etwas angestellt? Sagt, wer? Ich werde mich sofort darum kümmern.“ Die Frau schaute erschrocken.
„Nein, alles bestens. Es geht nicht um Eure Mädchen, sondern um ein Mädchen, nach dem wir auf der Suche sind“, sagte Garrick nur so viel, dass die Frau keinen Verdacht schöpfte. „Das Mädchen arbeitete in unserem Heimatort als Freudenmädchen. Nun ist es auf einmal verschwunden. Von unseren Freunden wurde es zuletzt hier in Dover gesichtet. Wir nehmen an, dass es sich irgendwo in der Stadt versteckt.“
Interessiert hörte die Frau zu. Es ging also um eine geflohene Dirne. Vielleicht arbeitete diese sogar auf eigene Kosten und machte den einheimischen Mädchen die Freier streitig. Was musste das für ein Hurenwirt sein, der nicht einmal auf seine Mädchen aufpassen konnte.
„Hier in der Stadt ist der Scharfrichter für die Mädchen verantwortlich“, gab die Frau dann bereitwillig Auskunft. „Einmal in der Woche kommt er hierher und holt die Abgaben an die Stadt ab. Das wäre bei uns hier morgen. Wenn Ihr warten würdet, könntet Ihr Euch den Weg zu ihm sparen. Bis dahin hätte ich Euch viel zum Zeitvertreib zu bieten.“ Augenklimpernd blickte sie Garrick an. Vielleicht würde sich doch noch mit einem der gutaussehenden Herren ein Geschäft anbahnen.
„So lange können wir keinesfalls warten. Sagt uns, wo wir den Henker finden können“, wehrte Garrick ab.
Die Frau streckte ihm eine ihrer Hände mit nach oben gestreckter Handfläche entgegen. Der Mann verstand und übergab ihr noch eine Münze. Erst dann bekamen sie die gewünschte Wegbeschreibung.
Kaum hatte die Frau geendet, stürmte Selwyn los. Die Warterei und die Spannung konnte er nicht mehr aushalten.
„Herzlichen Dank“, rief Garrick der Dirne noch zu und folgte seinem Gefährten.
Selwyn schritt so schnell er konnte voran, dass der Detektiv Mühe hatte, ihm nachzueilen. „So wartet doch!“, rief Garrick ihm nach. Doch Selwyn wollte nicht hören. In seinem Kopf schwirrte Sally umher, die er so bald wie möglich in seinen Armen halten wollte.