Selwyn war voller Adrenalin. Unermüdlich trieb er seinen Hengst an, der bereits nach wenigen Meilen so erschöpft war, dass er eigentlich eine Pause benötigte. Erst als er nach einem Sprung über einen Graben beinahe zu Fall kam, besann sich Selwyn. Wollte er heil in Dover ankommen, musste er sein Pferd schonen. So ließ er es in ein gemächliches Schritttempo fallen, damit es sich erholen konnte.
Als der Weg an einem kleinen Weiher vorbeiführte, hielt Selwyn an und stieg ab. Er ließ seinen Rappen saufen. Gierig schlürfte er das kühle Nass. Nachdem sich das Pferd sattgetrunken hatte, band er die Zügel an einen Busch und lockerte den Bauchgurt des Sattels. Das Tier steckte sein Maul sofort in das saftige Gras, das hier so nah am Wasser reichlich wuchs.
Dann nahm Selwyn den mitgebrachten Proviant aus der Satteltasche und setzte sich in die Nähe des Pferdes. Wie aus heiterem Himmel verspürte er Hunger. Neugierig schaute er sich die Kostbarkeiten an, die Rynards Köchin für ihn eingepackt hatte. Mit seinem Messer schnitt er Brot und Käse ab. Während er versonnen auf den Weiher schaute, verspeiste er genüsslich sein Essen.
Er musste an Sally denken, die genau wie er auf dem Weg nach Dover war. Wenn er sich beeilte, konnte er sie vielleicht sogar noch einholen. Es sei denn, sie und ihr Begleiter hatten jemanden gefunden, der sie mitnahm. In diesem Fall musste er hoffen, den Bruder des Henkers Raimon in Dover zu finden. Wie gern wäre Selwyn sofort wieder aufgebrochen. Doch als er nach seinem Pferd sah, stellte er fest, dass dieses auch ein wenig Ruhe brauchte, um sich gänzlich zu erholen. Mit geschlossenen Augen döste es vor sich hin. Sein Schweif hing ganz entspannt nach unten, die Ohren waren abgeknickt. Sein Freund Rynard hatte recht mit seiner Annahme. Er kannte kein Erbarmen mit dem armen Tier. Wenn er es schon auf den ersten Meilen verausgabte, würde er nie heil in Dover ankommen. So nahm er sich vor, es auf seinem weiteren Weg eher verhalten anzutreiben.
Selwyn legte sich zurück und ließ sich von der Sonne bescheinen. Er war so still, dass er das Kauen des Pferdes hören konnte, wenn es den nächsten Bissen Gras verschlang. Die schnurpsenden Geräusche lullten ihn ein. Ihm fielen die Augen zu, ohne dass er etwas dagegen tun konnte.
Der Mann schlief sofort so fest, dass er das aufziehende Unwetter nicht bemerkte. Der Himmel verdunkelte sich. Tiefhängende schwarze Wolken kündigten Regen an. Von jetzt auf gleich fing es an zu schütten, als würden Eimer mit Wasser über ihm ausgeleert werden. Ungebremst klatschte das Nass auf ihn herunter. Erschrocken sprang Selwyn auf. Doch es war bereits zu spät, einen Unterstand aufzusuchen. Seine Kleidung klebte an ihm wie eine zweite Haut. Zu seinem Pech hatte er auch noch seinen Proviant offen neben sich liegen lassen. Vom Brot war nur noch ein klebriger und unförmiger Klumpen übrig, den man keinesfalls mehr verspeisen konnte. Angeekelt warf er ihn in den Weiher, wo sich sofort die Fische über das unverhoffte Festmahl hermachten. Nur dem Käse machte der Wolkenbruch nichts aus. Vor sich hin schimpfend verstaute Selwyn die Reste in seiner Satteltasche.
Leider vergaß Selwyn auch, dass er vorher den Bauchgurt des Sattels gelöst hatte. Als er aufsitzen wollte, machte der sich selbständig und Selwyn landete rücklings auf dem Boden mitten im Matsch. Anstatt sich festzuhalten, hatte er losgelassen und lag nun strampelnd wie ein Maikäfer auf dem Boden. Schimpfend rappelte er sich auf.
Sein treues Ross schaute ihn an. Sein Blick aus den braunen Augen mit dem dichten Wimpernkranz, auf den jede Dame neidisch wäre, schien ihm sagen zu wollen, was für ein Tollpatsch er ist. Verliebt wie ein Gockel in die Henne, achtete er nicht darauf, was er tat. Das hatte er nun davon. Alles nur wegen den Weibern, besser gesagt, wegen einem einzigen, das er zu allem Überfluss auch noch über alles liebte.
„Ja, schau du nur so treudoof“, knurrte Selwyn seinen Hengst an. Er machte sich daran, den Sattel zu richten und den Bauchgurt zu befestigen. Noch einmal sollte ihm so ein Dilemma nicht passieren. Seine Kleidung war ein für allemal dahin. Erst als er sich vergewissert hatte, dass alles richtig befestigt war, saß er auf.
Der Regen schien nicht enden zu wollen. Ein Blick zum Himmel und den tief hängenden Wolken bestätigten Selwyns Vermutung. Sein Pferd zu einer schnelleren Gangart anzutreiben, wagte er nicht. Der Boden der Straße war aufgeweicht, dass jeder Schritt bedacht werden musste. So zockelte er viel zu langsam, völlig durchnässt und mit vor Dreck strotzender Kleidung seinem Ziel entgegen.
Etwa zur gleichen Zeit waren Sally und Raimon auf dem Wagen des inkognito reisenden Garrick Moore. Sie waren schon bald in Dover.
„Wir sind fast da“, erklärte Garrick Moore alias Edward Windham und zeigte auf die Umrisse von Häusern, die man bereits in der Ferne erkennen konnte. „Eine Stunde noch, dann erreichen wir das westliche Stadttor.“ Edward blickte nach hinten, wo Sally alias Jamie zwischen den Kisten und Fässern hockte und versuchte, an ihm vorbei in die gezeigte Richtung zu schauen.
„Warren, hörst du“, rief sie erfreut aus und stupste den Henker an. Raimon alias Warren war vor zwei Stunden nach hinten gekommen, hatte sich gegen eine Seitenplanke des Wagens gelehnt und war sofort eingeschlafen. Seitdem zerrte sein Schnarchen an Jamies Nerven.
„Warren!“, rief Jamie erneut und schüttelte ihn.
Nur unwillig öffnete Warren die Augen. „Was machst du für einen Heidenlärm?“, fuhr er Jamie an. Er streckte sich und ließ ein unflätiges Geräusch aus seinem Hintern entfleuchen, das zu allem Unmut auch noch widerwärtig stank.
„Du bist unmöglich!“, schimpfte Jamie und hielt sich die Nase zu.
„Sag nicht, du musst nie furzen“, meinte Warren breit grinsend und ließ freudig noch einen fahren. „Oder stinken deine Gase nach Lavendel und Rosenöl?“ Er lachte schallend, dass Jamie sich die Ohren zuhalten musste.
„Er benimmt sich wie ein Mädchen“, frotzelte Edward, der das Wortgefecht seiner Weggefährten verfolgt hatte.
„Nicht, dass seine Mutter mir seine Zwillingsschwester Lizzy anstatt Jamie untergejubelt hat. Die beiden sind sich so ähnlich, dass man aufpassen muss, sie nicht zu verwechseln“, sagte Warren schmunzelnd. „Wir sollten wohl lieber mal nachschauen.“
„Untersteh dich!“, presste Jamie zwischen den Zähnen hervor. Er warf Warren einen giftigen Blick zu und verkroch sich in seiner Ecke.
„Ist ja schon gut“, knurrte Warren zurück. Er verkrümelte sich lieber nach vorn auf den Kutschbock, ehe Jamie ihm zur Strafe auch noch in die Eier trat.
Die restliche Fahrt ging es recht lustig zu. Edward und Warren hänselten Jamie, der vor Scham am liebsten im Erdboden versunken wäre. Aber kurz bevor sie das Stadttor erreichten, wurde Edward ernst.
„Kann ich euch noch zu deinem Bruder bringen“, fragte er Warren.
„Lass mal“, wehrte Warren ab. „Ich weiß selber nicht genau, wo mein Bruder seine Hütte hat. Es ist so lange her, als ich das letzte Mal hier war. Da habe ich viel vergessen und muss erst einmal suchen. Wir wollen dich auch nicht bei deinen Geschäften aufhalten.“
„Wie du meinst“, erwiderte Edward. „Wenn etwas sein sollte und du wider Erwarten deinen Verwandten nicht finden solltest, fragt den Hafenmeister nach Edward Windham. Er kennt mich und weiß, wo ich Quartier genommen habe.“
Sie näherten sich nun dem Stadttor. „Ich werde gleich die Wache nach meinem Bruder fragen“, erklärte Warren. „Wir werden uns jetzt verabschieden. Recht herzlichen Dank, dass wir mit dir reisen durften.“
„Nichts zu danken. Wir hatten doch alle etwas davon“, sagte Edward darauf und sprang vom Kutschbock. „Ihr musstet die lange Strecke nicht zu Fuß gehen und ich hatte Abwechslung und Weggefährten.“
„Du sprichst wahre Worte, Meister“, meinte Warren lachend. „Komm, Jamie, der Müßiggang hat ein Ende“, wandte er sich dann an den Burschen auf der Ladefläche.
Jamie sprang sogleich herunter. Auch er bedankte sich wie es sich gehörte. Dabei musste er darauf achten, seine Stimme tief klingen zu lassen. Zu weibisch wollte er nicht wirken, damit es nicht auffiel, was er in Wirklichkeit war.
Nachdem sie sich wortreich und mit vielen Umarmungen und Schulterklopfen verabschiedet hatten, schwang sich Edward auf seinen Kutschbock. Er schnalzte mit der Zunge und ließ die Peitsche über die Kruppen seiner Zugpferde schwirren. „Hü, ihr Faulpelze“, trieb er sie an. Gemächlich setzten sich die Zugtiere in Bewegung.
Warren und Jamie sahen dem Fuhrwerk hinterher, bis es durch das Tor in die Stadt hineinfuhr. Dann wandte sich der Henker an Jamie, der ihn wütend ansah.
„Musste das vorhin sein?“, fragte er knurrig. „Da willst du mich in Sicherheit bringen und dann bringst du mich auch noch in Verlegenheit! Was wäre gewesen, wenn Edward darauf bestanden hätte, einen Beweis zu erbringen? Meine Maskerade hätte sich in Luft aufgelöst wie dein erbärmlich stinkender Furz!“ Jamie starrt Warren böse an.
„Ich habe es ja verstanden“, versuchte Warren sich zu verteidigen. „Es war gefährlich. Da hast du recht. Aber nun lass uns am Tor nach meinem Bruder fragen“, wich er aus. Schnurstracks lief er los, ohne weiter auf Jamie zu achten. Dem blieb nichts anderes übrig, als dem Henker zu folgen, wollte er ihn nicht aus den Augen verlieren.
Warren ging mit weit ausholenden Schritten voran. Er ärgerte sich. Nicht über Jamie, sondern über sich selbst. Wie konnte er nur so unvorsichtig sein? Er verstand sich selbst nicht mehr. War es, weil ihm das Herz schmerzte, wenn er an den baldigen Abschied denken musste? Er musste sich wohl oder übel eingestehen, er liebte Sally, die nun verkleidet als Bursche die nächste Zeit überleben musste. Warren machte sich große Sorgen. Würde sie allein zurechtkommen? Wie meisterte sie die vielen Herausforderungen, die auf sie zukamen? Dabei war Sally nicht die Frau, die bei jeder Schwierigkeit schreiend davonrannte und sich hinter den Rockschößen ihrer Mutter versteckte, oder sogar in Ohnmacht fiel. Sie verstand den Ernst der Sache. In der schlimmen Zeit bei Aelfric, dem Hurenwirt in Exmouth, hatte sie sich auch behauptet. Sie konnte entfliehen. Zwar mit Blessuren, aber sie hatte es geschafft. Doch in Exmouth hatte sie ihn und ihre beste Freundin Sabrin. In Dover wäre sie ganz auf sich allein gestellt. Hier hatte sie niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. Nicht einmal seinem Bruder Delmore wollte er die wahre Identität Sallys verraten. Er war zwar sein Bruder, aber er konnte ihm nicht trauen. Bei jeder kleinsten Gefahr zog er den Schwanz ein oder schiss sich in die Hosen wie ein kleines, ängstliches Kind. Kein Wunder, dass seine Frau mit dem Knecht durchgebrannt war und ihn mitsamt seiner Brut seinem Schicksal überlassen hatte.
„Warren, nun renne doch nicht so!“, rief Jamie dem Henker hinterher. So sehr er sich auch bemühte, er konnte ihm nicht folgen. Dann endlich blieb der Henker stehen und wartete, bis Jamie aufgeschlossen hatte.
„Man könnte meinen, der Höllenfürst wäre hinter dir her“, meinte Jamie keuchend und nach Atem ringend. Er schaute Warren an und bemerkte dessen blasses Gesicht. „Ist was? Du bist so bleich.“
„Was soll sein?“, kam von Warren anstatt einer Antwort eine Gegenfrage.
„Du bist auf einmal so komisch“, sagte Jamie kopfschüttelnd. „Vorhin hast du dich noch über mich lustig gemacht und nun schaust du drein, als hättest du in einen sauren Apfel gebissen.“
„Du siehst Gespenster“, wehrte Warren ab. Er drehte sich um und marschierte ohne weitere Worte auf die Wache zu, die am Tor stand und den Disput der beiden interessiert beobachtet hatte.