Garrick ärgerte sich. Nicht über sich selbst, sondern mehr über die Äbtissin, der man jedes Wort aus der Nase ziehen musste. Er war sich sicher, diese Frau wusste mehr als sie zugab. Doch wenn sie nichts sagen wollte, konnte er sie auch nicht dazu zwingen.
Was sollte er jetzt nur tun? Garrick war nicht der Mann, der gleich nach der ersten Niederlage aufgab. Dabei war er sich sogar recht sicher, die vermisste Sally im Kloster in Canterbury zu finden. Liliths vorangehende Drohungen waren zu eindeutig. Allerdings, so überlegte er, ging die Stiefmutter wirklich über Leichen? War sie überhaupt in der Lage, jemanden aus dem Weg zu räumen? Gut, eine Leiche gab es bereits. Adrian Montgomery, Sallys Vater. War Lilith dessen Mörderin? Oder gab sie den Mord in Auftrag, um sich nicht selbst die Hände schmutzig zu machen? Sir Selwyn sah einen Zusammenhang zwischen Adrians Tod und den beiden zwielichtigen Gestalten, denen Lilith einen Teil ihres Schmuckes als Bezahlung gegeben hatte.
Der Detektiv stand vor dem imposant aussehenden Portal des Frauenklosters. Sein Pferd stand mit hängenden Ohren neben ihm, als hätte es ein schlechtes Gewissen oder wäre ein armer Sünder.
„Brauner, wir sollten uns einen Platz zum Übernachten suchen. Es wird bald dunkel“, sagte Garrick Moore zu seinem Reittier. „Um zurück zu reiten, ist es zu spät. Die Mistress wird uns bestimmt nicht gleich wegrennen.“ Garrick lachte heiser. „Komm, schauen wir uns hier noch ein wenig um.“
Garrick schwang sich in den Sattel und drückte seinem Pferd die Fersen in die Flanken. Im gemächlichen Schritt ging es in die Stadt.
Obwohl Garrick Trubel gewohnt war, immerhin war er in London aufgewachsen und wohnte auch jetzt noch dort. So war er recht erstaunt, dass in einem so kleinen Ort wie Canterbury trotz vorgerückter Stunde noch so viele Menschen unterwegs waren. Das Gedränge war groß, dass er beschloss, abzusitzen und sein Pferd lieber am Zügel zu führen. Nur mühsam kam er vorwärts. Nun begann es auch noch zu regnen. Garrick stellte seinen Kragen auf und zog seinen Hut tiefer ins Gesicht. Trotzdem war er im Nu nass und durchweicht. Der Mann schimpfte leise vor sich hin. Regen mochte er gar nicht. Aber hier auf der Insel war das Nass von oben alltäglich.
„Hey, Bursche, warte mal“, sprach er einen Jüngling an, der mit einer Kiepe auf dem Rücken an ihm vorbei eilen wollte.
Der Bursche stoppte. „Sir?“, fragte er neugierig und wunderte sich, was der Fremde von ihm wollen könnte.
„Gibt es im Ort ein Gasthaus, wo ich übernachten kann?“, wollte Garrick Moore wissen.
„Ihr seid wohl fremd hier?“ Der Junge schaute ihn interessiert an.
„Ja, das bin ich. Aber sag endlich, wo ich ein Gasthaus finden kann. Ich bin hungrig und müde vom langen Weg.“ Garrick griff in seinen Geldbeutel, in dem er einige kleine Geldstücke hatte. Er zeigte eines dem Jungen. „Das ist für dich, wenn du mir endlich Auskunft gibst. Ich habe keine Lust, mir hier die Beine in den Bauch zu stehen und dir jedes Wort aus der Nase herausziehen zu müssen.“
Der Bursche wollte nach dem Geld greifen. Garrick jedoch zog seine Hand zurück. „Erst die Antwort“, sagte er.
Genervt verdrehte der Junge die Augen. Da wollte er auf die Schnelle ein wenig Geld verdienen. Es war schon direkt vor seiner Nase. Er musste nur zugreifen. Doch er konnte es nicht erreichen.
„Da die Straße entlang, bis ihr einen Platz erreicht. Links neben der Apotheke seht Ihr eine Gasse. In dieser findet ihr das „Grüne Loch“. Es ist zwar nicht sonderlich komfortabel, aber das Essen ist gut“, gab er nun endlich Auskunft. „Einen Stall für Euren Gaul gibt es dort auch.“
„Ich danke dir“, sagte Garrick und überreichte dem Jungen das Geldstück.
Der Bursche bekam große Augen, als er den Wert des Geldes erkannt. Dafür musste er sonst eine ganze Woche arbeiten und nun hatte er soviel für nur eine einzige Auskunft an einen Fremden erhalten. Der Mann musste wahrscheinlich über ein immenses Vermögen verfügen. „Herzlichen Dank“, stieß der Junge aus und eilte davon.
Der Kundschafter schaute ihm nach. Als würde er verfolgt werden, rannte der Junge davon. Wahrscheinlich hatte er es wirklich sehr eilig. Aber das interessierte Garrick jetzt nicht mehr. Er sah sich nun nur noch in der gemütlichen und warmen Gaststube sitzen, ein leckeres Essen und guten Wein vor sich. „Komische Leute gibt es hier“, dachte Garrick doch noch und machte sich auf den Weg in das Gasthaus namens „Grünes Loch“. „Genau so ein eigenartiger Name wie die Leute hier“, ging es dem Mann durch den Kopf.
„Los, Brauner“, sagte er zu seinem Pferd. „Bald gibt es etwas zu fressen für dich.“ Als würde es das Tier verstehen, stupste es ihm mit seinen weichen Nüstern an die Hand und schnaubte leise.
Es begann stärker zu regnen. Garrick schritt schneller voran, um nicht noch vollends durchzuweichen. Endlich sah er die Apotheke und auch die Gasse. Dort entlang musste er, um zum „Grünen Loch“ zu kommen. Die Gasse war dunkel und unbeleuchtet. Ein wenig mulmig war es im schon, seinen Weg dort hinein fortzusetzen. Doch wenn er für die Nacht ein Dach über dem Kopf haben wollte und auch sein Pferd einen gefüllten Futtertrog und eine Raufe gutes Heu, musste er dort entlang. Unwillkürlich griff er an seinen Gürtel, um sich zu vergewissern, dass sein Dolch dort griffbereit in der Messerscheide hing. Zum Glück erkannte Garrick bald das Schild des Gasthauses. Daneben baumelte einladend eine Laterne. Obwohl die Fensterläden des Ausschankes bereits geschlossen waren, konnte er den Lärm der drinnen zechenden Gäste bis hinaus in die Gasse hören.
Eben wollte der Detektiv die Tür öffnen, als diese von drinnen aufgestoßen wurde und ein Betrunkener heraus torkelte. Im Schlepptau hatte er ein dralles Mädchen, das ihm kichernd folgte. „Komm endlich, Süße. Ich habe es sehr nötig“, lallte der Mann und zog die Dirne hinter sich her. Garrick schaute den beiden nur kopfschüttelnd hinterher.
„Da seid Ihr ja schon“, hörte er plötzlich eine bekannte Stimme. Garrick drehte sich um und sah den Burschen, den er nach einem Gasthaus gefragt hatte.
„Du!?“, stieß Garrick erstaunt aus. „Welch ein Zufall.“
„Ja, ich.“ Der Junge lachte. „Kommt herein, aber ohne Pferd“, sagte er und nahm ihm das Tier ab. „Ich kümmere mich drum“, sprach er und verschwand mit Garricks Reittier in der Dunkelheit.
„Hoffentlich nicht auf Nimmerwiedersehen“, dachte der zurückbleibende Mann noch, als er ihm hinterher sah.
„Wollt Ihr hier Wurzeln schlagen oder gänzlich vom Regen aufweichen? Mein Sohn kündigte Euch bereits an“, hörte Garrick hinter sich. Er drehte sich um und blickte direkt in die lachenden Augen einer Frau mittleren Alters, die im Türrahmen stand.
„Das war Euer Sohn?“, fragte er die Frau ganz verdattert. „Sehr clever, muss ich sagen.“ Er lachte und trat in die Gaststube.
„Sonst wäre es nicht mein Sohn“, erwiderte die Frau. „Ich bin übrigens die Wirtin“, stellte sie sich vor. „Ihr sucht für eine Nacht einen Schlafplatz?“, fragte sie ihn.
„Garrick Moore“, stellte auch Garrick sich vor. „Genau wegen einem Schlafplatz bin ich hier.“
„Die Zimmer oben sind leider alle belegt. Wenn Ihr mit einem Schlafplatz unten in der Gaststube vorliebnehmen möchtet, könnt Ihr gerne hierbleiben.“
„Das ist kein Problem. Hauptsache einen trockenen Schlafplatz. Bei dem Wetter jagt man ja nicht einmal einen Hund vor die Tür“, sagte Garrick. Der Detektiv schloss die Tür hinter sich. Ihm schlug ein Schwall Hitze entgegen, gemischt mit dem Geruch von Bier und Wein. Im Gasthaus war es voll. Fast alle Tische waren mit Zechern besetzt, die laut lachten, Scherze machten, oder auch nur stumm vor ihrem Krug Bier oder Wein saßen und vor sich hin starrten. Sofort richteten sich mehrere Augenpaare auf den Ankömmling, die ihn argwöhnisch betrachteten.
„Hier ist noch Platz“, sagte die Wirtin zu Garrick und wies auf einen Tisch in der Nähe des Ofens.
Garrick war es recht, nicht mit zu vielen Menschen an einem Tisch sitzen zu müssen. Der eine, der an dem Tisch saß, auf den die Wirtin ihn aufmerksam gemacht hatte, hatte einen Kopf auf seine Arme gelegt und schnarchte.
„Wein oder Bier?“, wollte die Wirtin wissen, als sich Garrick gesetzt hatte.
„Wein bitte, vom Roten“, erwiderte er, „und etwas zu essen.“
„Braten oder Eintopf?“
„Beides. Und Brot. Ich bin sehr hungrig“, gab Garrick an. Seit er am Vormittag bei den Kimberleys einen Imbiss bekam, hatte er nichts wieder gegessen. Sein Magen knurrte.
Während Garrick auf sein Essen wartete, beobachtete er die Leute. Er hatte es sich angewöhnt, die Mimik und Gestik zu studieren, wenn sich Menschen miteinander unterhielten. Dabei hatte er festgestellt, dass man dabei oft sehr viel mehr über denjenigen erfahren konnte, als in einem Gespräch. Dieses Wissen war ihm als Kundschafter oft sehr vom Vorteil.
Als Garrick sein Essen vor sich stehen hatte und sich gütlich daran tat, betraten zwei Männer die Gaststube. Der Spion sah nur kurz auf, aß dann aber weiter, ohne die Neuankömmlinge zu beachten. Die beiden sahen recht abgerissen aus und schienen jemanden zu suchen. Als sie den von ihnen Gesuchten anscheinend gefunden hatte, setzten sie sich an den Nebentisch zu einem allein sitzenden Mann. Die Drei begrüßten sich recht lautstark.
Garrick nahm an, es handelte sich bei den Männern um Kumpane, die wieder einmal ihren Tageslohn versoffen, anstatt für die Horde Kinder zu sorgen, die zu Hause mit knurrenden Magen auf sie warteten. Anfangs lachten und prosteten sie sich zu. Sogar Erfahrungen mit einschlägigen Dirnen, die einsamen Herren die Zeit versüßten, wurden zu Besten gegeben. Es wurde geprahlt, gelacht und gesoffen. Der speisende Mann am Nebentisch wurde nicht beachtet. Der fand die Gespräche der Saufkumpane uninteressant für einen Kundschafter und wandte sich wieder seiner Mahlzeit zu.
Genüsslich ließ sich Garrick das Essen schmecken. Der Braten war köstlich, der Eintopf sehr schmackhaft, das Brot knusprig und frisch. Sogar der Wein war süffig. Nicht sauer wie Essig, wie er Wein öfter in herunter gekommenen Spelunken kredenzt bekam. Gesättigt und zufrieden lehnte sich Garrick nach dem Essen zurück. Der Abend war fortgeschritten. Nur noch wenige Gäste waren anwesend. Wahrscheinlich waren es die, die über Nacht im Gasthaus schliefen. Sein Tischnachbar schlief immer noch den Schlaf der Gerechten. Nur am Nachbartisch machten die drei Spießgesellen mächtig Lärm.
„Habt ihr gehört, dass Franklin und Henry letztens wieder einen guten Auftrag an Land gezogen haben?“, fragte der Erste die anderen beiden.
„Franklin und Henry? Die beiden Tollpatsche?“, wollte einer wissen.
„Genau die“, antwortete der Erste. „Das muss wirklich eine sehr heikle Sache gewesen sein“, flüsterte er.
„Ach, binde uns doch keinen Bären auf“, meinte einer lachend und schlug ihm auf die Schulter, dass er gequält das Gesicht zu einer Grimasse verzog.
„Doch, doch“, behauptete er dann. „Zuerst haben die so einen reichen adligen Gockel im Auftrag seiner Alten bei einem Jagdausflug von seinem Gaul geholt und dann seine Bastardtochter bei Nacht und Nebel aus ihrem Bett“, behauptete er. „Die haben das Gör so tief schlafen gelegt, dass es keinen Mucks von sich gegeben hat, als sie es rausgeschleppt haben.“
„Wie? Wirklich? Das gibt es gar nicht, dass die beiden Hasenfüße sich an so ein gewagtes Unternehmen heran trauen“, meinte der Zweite.
„Die müssen sich fast die Hosen vollgemacht haben vor Angst, als sie sich in das Haus der Lady geschlichen haben, das voll von wachsamen Bediensteten war. Die muss denen ein Vermögen gezahlt haben, dass sie das Risiko eingegangen sind“, ließ der Erste wissen.
„Was du nicht sagst“, entgegneten seine Kumpane wie aus einem Mund.
„Ich schwöre, es stimmt. Ich habe den Schmuck mit eigenen Augen gesehen. Davon könnten die bis an ihr Lebensende in Wohlstand leben.“
Plötzlich war Garrick hellwach. Hatte er richtig gehört? Sprachen seine Tischnachbarn von Sally und ihrer Stiefmutter? Der Agent spitzte die Ohren.
„Wer war denn die Lady, die den Hasenfüßen diesen ominösen Auftrag gegeben hat?“, wollte einer wissen.
„Ich weiß nur, dass die Alte Montgomery heißt“, erwiderte der Erste. „Das ist so eine reiche Witwe, gut, ganz frisch ist sie Witwe. Henry und Franklin haben der ihren Alten zur Hölle geschickt. Die haben damit geprahlt, dass sie den Alten einfach abgeknallt haben, als ein wilder Keiler aus dem Gebüsch gerannt kam, mit einer Meute laut bellender und geifernder Hunde im Schlepptau. Das Schwein hat so laut gequiekt, dass die anderen nicht mal den Schuss gehört haben.“
„Wahnsinn“, sagte einer. „Die haben es drauf. Das hätte ich denen nie zugetraut.“
„Da siehst du mal, wie man sich täuschen kann“, erwiderte der Erzähler. „Wenn ich den Schmuck nicht gesehen hätte, dann hätte ich das auch nicht geglaubt.“
„Aber sag mal, was ist mit dem Gör geworden, die sie entführt haben?“
„Die mussten die Kleine hierher ins Kloster bringen. Die Äbtissin soll sogar eingeweiht gewesen sein.“
Garrick wäre am liebsten aufgesprungen und hätte die Welt umarmt. Was er hier vom Nachbartisch hören konnte, hätte er sich nie erträumt. Sollte er wirklich so schnell Erfolg haben? Er konnte es nicht glauben.
„Die Äbtissin wusste also davon? So eine scheinheilige Nonne. Wenn die durch die Stadt geht, kann man denken, sie wäre die Güte in Person“, ließ einer der beiden vernehmen.
„Was denkst du, was das für eine Xanthippe ist. Die hat mich mal mit der Rute schlagen lassen. Nur weil ich es gewagt habe, mich bei der Armenspeisung vorzudrängeln“, wusste der andere zu berichten. „Natürlich habe ich an dem Tag nichts bekommen“, schimpfte er noch.
„Die Äbtissin hat sich nach Henry und Franklin in der Stadt erkundigt“, erzählte der Erste nun weiter.
„Warum das?“
„Die sollten mit der Göre nie hier aufgetaucht sein“, kam es als Antwort.
„Woher weißt du eigentlich davon? Henry und Franklin waren doch schon ewig nicht hier in der Stadt.“
„Ganz einfach. Ich bin den beiden begegnet“, meinte der Kamerad grinsend.
Fragend blickten die Kumpane den Mann an.
„Ich war letztens mal in Dover. Da habe ich sie getroffen. Wir haben vor Freude uns zu sehen, zusammen einen getrunken. Im Suff haben sie damit geprahlt. Sie wäre weg, erzählten sie. Verkauft! Vorher aber hätten sie die noch richtig rangenommen. Da war´s aus mit der Jungfräulichkeit.“ Er lachte laut.
„Verkauft!?“, stieß einer entsetzt aus.
„Die haben sogar noch eine Menge Kohle rausgeschlagen für die angebliche Jungfer. Aber nun sind sie weg, alle beide.“
Garrick wurde blass. Geschändet, dann verkauft! Keine guten Neuigkeiten, dachte er und spitzte weiter die Ohren. Wenn das stimmte, was er eben gehört hatte, käme eine Menge schwierige Arbeit auf ihn zu. Doch aufgeben wollte er nicht. Er musste Sally finden.
„Wo sind Henry und Franklin hin?“, fragte einer.
„Nach Amerika wollten die. Weit genug weg“, antwortete der Erste.
„Und die Kleine?“
„Weiß ich nicht, wohin die sie verkauft haben. Am selben Tag ankerte im Hafen von Dover auch ein Sklavenschiff. Vielleicht dorthin. Die suchen doch immer irgendwelche junge Mädchen. Ich kann es nicht sagen.“
„Oh nein!“ Garrick wäre am liebsten aufgesprungen und hätte den Erzähler geschüttelt und ihm die Informationen herausgeprügelt. Er musste sich jedoch beherrschen und seine nächsten Schritte genau überlegen. Alles war möglich. Sally könnte sich auf dem Sklavenschiff befinden, aber auch noch auf der Insel sein. Alles konnte er dem betrunkenen Kerl am Nebentisch nicht glauben. Die junge Frau zu finden, war nun sein größtes Ziel. Dafür würde er nun alle anderen Aufträge abweisen. Sally war wichtiger.