„Meine Herren, das Frühstück ist gleich bereit“, hörte Sir Selwyn es vor der Tür rufen. Darauf folgte ein energisches Klopfen.
Selwyn drehte sich zur Wand, zog die Decke über den Kopf und brummte verstimmt vor sich hin.
„Das Frühstück“, vernahm Selwyn nochmals die schrille Frauenstimme vor der Tür.
„Mister Moore“, knurrte Selwyn. „Macht, dass die da draußen endlich still ist! Die Stimme ist mir zu grauenhaft.“ Selwyn wälzte sich erneut herum und öffnete die Augen. Plötzlich war er hellwach. Er war allein! War der Detektiv bereits aufgestanden, ohne dass er es bemerkt hatte?
„Ich mahne nicht noch einmal“, sagte die Frau nochmals. „Wenn Ihr nicht rechtzeitig zum Frühmahl erscheint, ist das Euer Pech.“ Schritte entfernten sich.
Selwyn schwang endlich die Füße aus dem Bett und setzte sich auf. Alles um ihn herum drehte sich wie ein Karussell. Sein Kopf brummte, als würden tausende von Schmeißfliegen um ihn herumschwirren. Ihm wurde es übel. Er musste aufstoßen. Der Geschmack von abgestandenem Bier stieg ihm die Kehle hoch. Ein Zeichen, dass er sich bald übergeben musste.
Schwankend hielt sich Selwyn am Bettpfosten fest. Der Würgereiz wurde immer stärker. Er geriet in Panik. So schnell er konnte, lief er zum Fenster und riss es auf. Im letzten Moment schob er seinen Kopf durch die Öffnung.
„Hundsfott, elendiger! Kannst Du nicht woanders hin kotzen!“, hörte Selwyn auf der Straße unten jemanden wettern. Erschrocken zog er den Kopf ein. Vorsichtig spähte er dann hinaus und erblickte einen edel angezogenen Herrn, der sich eben Selwyns Hinterlassenschaften vom Umhang putzte und dabei schimpfte wie ein Rohrspatz.
Selwyn grinste. Was steht der Kerl auch gerade jetzt unter seinem Fenster. Selber schuld.
Sir Selwyn schloss das Fenster. Er fühlte sich besser. Sein Magen rumorte nicht mehr. Nur einen ekelerregenden Geschmack hatte er im Mund. Aus der kleinen Schüssel, die für die Morgentoilette bereitstand, warf er sich etwas Wasser ins Gesicht und spülte sich den Mund aus. Das kalte Nass belebte seine Sinne. Es ging ihm gleich noch besser. Der Mann zog sich an. Zum Glück hatte er sich vor dem zu Bett gehen noch entkleidet. So waren nun seine Hose, das Hemd und die Jacke fast faltenfrei. Kurz fuhr er sich noch mit feuchten Händen durch sein Haupthaar. Dann befand er sich bereit, sich zum Frühstück zu begeben.
In der Gaststube hatten sich bereits mehr oder weniger griesgrämig blickende Herren versammelt. Sie saßen vor ihren Tellern und schaufelten ihren Grießbrei in den Mund, den die Wirtin zubereitet hatte.
„Schweinefraß“, hörte Selwyn einen der Männer murren. Gut, Grießbrei war auch nicht gerade das, was er sich unter einem opulenten Frühstück vorstellte. Doch das war für´s Erste besser als gar nichts im Magen. Später konnte er ja noch irgendwo anders einkehren.
„Guten Morgen, der Herr“, begrüßte ihn die Wirtin, die eben mit einem Krug Most aus der Küche kam. „Habt Ihr gut geschlafen?“, wollte sie wissen.
„Hm“, knurrte Selwyn nur. Um die Uhrzeit war er nicht gerade zum Sprechen aufgelegt und nach einer durchzechten Nacht erst recht nicht. Selwyn schaute sich um und entdeckte Garrick Moore, der an einem der Ecktische saß.
„Da seid Ihr ja“, rief Garrick ihm durch die Gaststube entgegen. „Setzt Euch zu mir, hier ist noch Platz.“ Dabei wies er auf den leeren Stuhl neben sich.
Selwyn schlängelte sich durch die für diese Morgenstunde bereits gut besetzte Gaststube.
„Guten Morgen“, knurrte er dem Kundschafter entgegen.
„Ihr seht nicht gerade…“, Garrick kam nicht weiter. Er wurde unterbrochen.
„Könnt Ihr einfach mal Euer Maul halten!“, schnauzte Selwyn ihn an.
„Oh, oh. Der Herr hat üble Laune. Da bin ich lieber mal still“, frotzelte Garrick belustigt.
„Keine schlechte Laune, nur Kopfschmerzen“, erwiderte Selwyn und starrte in seine Schale mit Grießbrei. Erneut wurde es ihm übel. Der Geruch des Essens brachte ihn an seine Grenzen.
„Hier, trinkt erst einmal“, sagte Garrick und schob ihm einen Becher zu.
Gierig setzte Selwyn den Becher an die Lippen. Seine Kehle war wie ausgedörrt. Doch schon der erste Schluck stieß ihm erneut übel auf. Anstatt, wie erwartet Most, befand sich Bier im Becher. Schlimmer konnte es nicht kommen. Selwyn sprang auf und stürzte hinaus. Würgend übergab er sich erneut, bis nur noch Galle kam.
„Geht es besser?“, hörte er Garrick fragen, der ihm gefolgt war.
„Schon besser“, erwiderte Selwyn und wischte sich mit seinem Taschentuch den Mund ab. „Irgendetwas ist mir gewaltig auf den Magen geschlagen“, versuchte er sich zu entschuldigen.
„Ich würde sage, das Letzte gestern Abend war schlecht“, meinte Garrick und grinste. Gerade noch konnte er in Deckung gehen, sonst hätte ihn Selwyns Faust mitten ins Gesicht getroffen.
„Na, na, na“, sagte Garrick nur, dabei immer noch breit grinsend. Dann verzog er sich lieber wieder an den Frühstückstisch. Selwyn Wellington folgte ihm übelgelaunt.
„Nachher werde ich, wie wir es gestern besprochen haben, den Hafenmeister aufsuche und befragen“, begann Moore das Gespräch am Tisch.
Sir Selwyn saß wieder vor seiner Schüssel und schien zu überlegen, ob er essen sollte oder lieber doch nicht. Der Grießbrei sah nicht gerade appetitlich aus, so dass er sich dazu durchringen musste, überhaupt etwas zu essen.
„Ich komme mit“, knurrte Selwyn griesgrämig.
„Das dachte ich mir“, erwiderte Garrick und nahm einen großen Schluck von seinem Bier. „Ich hoffe, endlich Erfolg zu haben“, sprach er einfach weiter, als sein Gegenüber nicht darauf reagierte.
„Ich verstehe immer noch nicht“, sagte Selwyn nach einer Weile. „Da kennt man einen Menschen schon sein halbes Leben lang und irrt sich trotzdem so sehr in ihm. Adrian war von Kind an mein bester Freund. Hat er die ganze Zeit nicht bemerkt, was für eine Xanthippe diese Lilith ist?“
„Ich denke schon, dass Euer Freund darüber Bescheid wusste. Er war ein Gentleman und hätte nie etwas gegen eine Dame gesagt. Egal, was diese tat.“
„Ein Trost ist das aber nicht gerade“, sagte Selwyn nachdenklich.
„Das stimmt schon“, erwiderte der Detektiv. „Adrian wollte wohl immer nur das Beste für seine Gattin, und natürlich auch für seine Tochter.“
„Ja, und nun ist er tot“, knurrte Selwyn. Die Trauer um seinen besten Freund überrollte ihn wie eine Woge. Er winkte nach der Wirtin und bestellte einen Krug Most.
„Kein Bier?“, fragte sie erstaunt, als sie Selwyns Bestellung entgegennahm.
„Hätte ich sonst Most bestellt?“, motzte er die Frau an, die sich daraufhin lieber eilig entfernte, um den bestellten Most zu holen.
„Ich glaube, ein kleiner Spaziergang an der frischen Luft wird Euch heute Vormittag gut tun“, sagte der Kundschafter zu Sir Selwyn, nachdem dieser fast den ganzen Krug Most auf einmal geleert hatte.
„Dann gehen wir“, erwiderte Selwyn und erhob sich. Mit Garrick im Schlepptau verließ er die Gaststube in Richtung Hafenmeisterei.
Im Büro des Hafenmeisters war Hochbetrieb. Am Morgen waren einige Schiffe eingelaufen. Deren Kapitäne verhandelten nun mit dem Hafenmeister über die Zollgebühren. Es ging hoch her. Alle redeten durcheinander, dass ihm Kontor die dementsprechende Lautstärke herrschte.
„Warten wir lieber draußen, bis die da…“, Selwyn zeigte auf die Kapitäne, „… mit ihrem Geschrei fertig sind.“ Meinem lauten Knall warf er die Tür hinter sich zu, noch bevor der Detektiv ihm folgen konnte.
„Bei der Laune kann das heute ja noch lustig werden“, murrte Garrick und verließ ebenfalls das Kontor. Draußen sah er sich suchend nach Sir Selwyn um. Der stand am Kai und beobachtete das geschäftige Treiben, das beim Löschen der Ladung eines Schiffes herrschte.
„Hoffentlich sind die da drinnen bald fertig“, sagte Selwyn zu Garrick, als er neben ihn trat und ebenfalls zu dem Schiff hinüberschaute. „Wie mag so eine Seereise wohl sein?“, fragte Selwyn. „Ich bin noch nie über das Meer gereist.“
„Ich auch nicht“, erwiderte Garrick. „Ich denke aber, es wird arg schaukeln.“
„Ob sich Sally auf solch einem Schiff befindet und sich mit jeder Minute weiter von uns entfernt?“ Selwyns Herz schmerzte, als er an seine Liebste denken musste.
„Hoffentlich nicht. Denn wo in aller Welt sollten wir sie dann noch suchen?“
„Was weiß ich. Ihr seid der Spezialist, nicht ich“, sagte Selwyn darauf. „Aber, wartet! Schaut! Die Herren Kapitäne sind endlich fertig.“ Selwyn ließ den Detektiv einfach stehen und strebte mit langen Schritten dem Kontor des Hafenmeisters zu.
„Was kann ich für Euch tun?“, wandte sich der Mann an die beiden Besucher, als diese ihm gegenüber an den Schreibtisch Platz genommen hatten.
„Mein Name ist Sir Wellington. Das da ist Mister Moore. Wir sind auf der Suche nach einer Dame“, übernahm Selwyn einfach die Führung.
„Da seid Ihr bei mir aber an falscher Stelle. Die Hurenhäuser befinden sich nicht am Hafen“, erwiderte Mister Francis, nachdem er seinen Namen genannt hatte.
„Wir suchen keine Dirne, sondern eine Lady“, empörte sich Selwyn. „Mister Moore ist Detektiv und ich bin ihm bei seiner Suche behilflich.“
„Auch für Ladies ist der Hafen nicht gerade ein Ort, an dem sie sich aufhalten sollten“, bemerkte der Hafenmeister.
„Das wissen wir auch“, mischte sich nun Garrick ein. „Die Gesuchte wurde vor ein paar Tagen entführt und wurde von ihren Entführern wahrscheinlich hier am Hafen oder in der Nähe verkauft. Womöglich an einen Sklavenhändler oder an einen Hurenwirt.“ Garrick beschrieb dem Hafenmeister die beiden Ganoven. Außerdem berichtete er ihm, dass die Männer zuletzt hier in Dover am Hafen gesichtet wurden, allerdings ohne die Entführte und zu Fuß. „Es könnte auch möglich sein, dass sie versucht haben, Pferde und Fuhrwagen zu verkaufen“, erklärte Garrick noch.
„Wann genau soll das gewesen sein?“, wollte der Hafenmeister wissen.
„Verschwunden ist die Lady in der Nacht zum letzten Sonntag. Wenn die Entführer ohne Umweg nach Dover gekommen sein sollten, müssten sie spätestens am Montag gegen Mittag hier gewesen sein.“
Der Hafenmeister überlegte. Nach einer Weile sagte er: „Ich erinnere mich, dass ich hier zwei Männer gesehen habe, die Pferd samt Wagen verkaufen wollten. Die habe ich am Nachmittag ein Schiff besteigen sehen, ohne Gepäck.“
„War eine Lady in der Nähe?“, sprudelte es aus Selwyn heraus. „Redet doch endlich, Mann!“
„Da war keine Frau dabei“, gab der Mister Francis Auskunft.
„Wohin fuhr das Schiff?“, fragte Garrick.
Der Mann blätterte in seinen Unterlagen. „Hier ist es!“, sagte er nach einer Weile. „Das Schiff fuhr nach Amerika. Es war ein Handelsschiff, das auch Passagiere mitnahm. Allerdings steht nichts in meinen Aufzeichnungen, dass auch Pferde mitgeführt wurden. Am selben Abend lief noch ein Sklavenschiff nach Konstantinopel aus. Doch darauf befanden sich nur Kinder.“
„Also müssten die Ganoven die Tiere und den Wagen hier veräußert haben“, zog Selwyn daraus Schlüsse. „Schreibt Ihr auf die Namen der Passagiere auf, die auf Handelsschiffen das Land verlassen?“, wollte er noch wissen.
„Natürlich. Unsere Behörden müssen doch wissen, wer das Land verlässt oder wer einreist.“ Der Hafenmeister schaute in die Passagierliste des Schiffes. „Hier sind zwei Männer aufgeführt, die ohne weibliche Begleitung reisten. Ihre Namen waren Henry und Franklin Simmons. Brüder laut Unterlagen.“
Selwyn fuhr hoch. „Das sind sie!“, schrie er aufgeregt. Doch dann wurde ihm klar, die beiden reisten zu zweit. „Dann muss meine Braut irgendwo anders sein“, schlussfolgerte er.
„Das scheint richtig zu sein“, sagte Garrick. „Das heißt für uns aber nicht, dass wir aufgeben.“
„Aufgeben? Niemals!“, rief Selwyn.
„Wo kann man hier Pferd und Wagen verkaufen?“, fragte Garrick. Für ihn galt es nun, einen kühlen Kopf zu bewahren.
„Wir haben hier einen Viehmarkt“, erwiderte der Hafenmeister. „Dort können auch Sklaven gekauft und verkauft werden.“
„Wie Tiere“, spie Selwyn entsetzt aus und schüttelte mit dem Kopf.
„Leider ist das so. Menschen sind für einige nur eine Handelsware“, sagte Garrick. „Wir danken Euch. Ihr habt uns sehr geholfen“, wandte er sich an den Hafenmeister. Er griff in seine Rocktasche und holte ein paar Münzen heraus, die er dem Mann reichte.
„Nein, lasst das bitte“, wehrte dieser ab. „Ich helfe gerne, wenn es möglich ist. Ich wünsche Euch viel Erfolg bei der Suche nach Eurer Freundin.“
„Vielen Dank“, sagte Selwyn und verließ das Kontor. Garrick zog den Hut zum Gruß und folgte ihm.
„Na dann, auf zum Viehmarkt“, drängte Selwyn zur Eile, nachdem Garrick die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Auf dem Viehmarkt fanden sie einen Mann, der die Pferde und den Wagen von den Ganoven aufgekauft hatte. Doch auch er sagte aus, ein Mädchen wäre nicht dabei gewesen.
„Seid Ihr Euch da sicher?“, hakte Garrick nochmals nach.
„Ganz sicher“, erwiderte der Händler. „Eine Lady wäre mir doch aufgefallen. Die beiden hatten es sehr eilig. Sie erzählten mir, dass sie sich am selben Tag noch nach Amerika einschiffen wollten und daher das Geld dringend für die Passage benötigten.“
„Da ist kein Zweifel. Das waren Henry und Franklin Simmons“, warf Sir Selwyn ein.
„Ich bin mir auch sicher. Alles stimmt überein“, entgegnete Garrick.
„Weshalb werden die Männer gesucht?“, fragte der Händler neugierig.
„Wegen Entführung meiner Braut“, gab Selwyn Auskunft. „Und nun höchstwahrscheinlich auch noch wegen Menschenhandel.“
Der Händler wurde blass. „Darauf steht der Galgen“, stieß er entsetzt aus und fasste sich an den Hals, als würde sich eine Schlinge um den seinigen schließen.
„Genau!“, stimmte Garrick zu.
„Wenn sie überhaupt bis zum Galgen kommen“, schimpfte Selwyn. „Wenn sie mir in die Hände fallen, drehe ich denen höchstpersönlich den Hals um“, knurrte er noch.
„Sir Selwyn! Untersteht Euch!“, schimpfte nun Mister Moore.
„Ja, ja. Schon gut. Dann bringe ich sie eben um die Ecke, wenn Ihr nicht hinschaut.“
„Das ist kein Spaß!“, blaffte Garrick ihn daraufhin an. „Damit sollten sich die Behörden beschäftigen und nicht Ihr.“
Der Händler stand nur kopfschüttelnd daneben. „Schön, dass ich Euch behilflich sein konnte“, sagte er, nachdem sich Sir Selwyn ein wenig beruhigt hatte.
„Wir sind Euch zu Dank verpflichtet“, entgegnete Selwyn und entlohnte den Mann, der sich daraufhin dankend verbeugte.
„Das habe ich gern getan“, erwiderte er.
„Falls Euch noch etwas auffallen oder einfallen sollte, wir logieren noch einige Tage im „Roten Milan“, einem Gasthaus am Markt“, sagte Garrick noch.
„Sehr wohl, die Herren. Immer zu Diensten“, sagte der Händler und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
„Und nun?“, fragte Selwyn, während er neben Garrick die Straße entlanglief. Sie hatten sich entschlossen, einzukehren und sich bei einem Mittagessen zu beraten.
„Der Hafenmeister hat Eure Liebste nicht gesehen. Auf dem Sklavenschiff waren nur Kinder. Der Pferdekäufer hat Miss Sally ebenfalls nicht zu Gesicht bekommen.“ Garrick überlege, wie er Sir Selwyn das Kommende am besten vermitteln sollte.
„Ja…“, Selwyn schaute den Mann neben sich aufgeregt an. „Was noch?“, drängte er ihn.
„Da bleiben vorerst nur die Hurenhäuser“, wagte es Garrick endlich.
„Ihr wollt doch nicht sagen, dass…“, Selwyn konnte es nicht fassen. Seine Sally in einem Bordell. „Nein! Niemals!“, schrie er.
„Sir Wellington“, Garrick nutzte nun die offizielle Anrede. „Es ist eine Möglichkeit, wo Miss Sally sich aufhalten könnte. Wir müssen jeden noch so kleinen Strohhalm nutzen, um sie zu finden.“
„Und das Sklavenschiff?“
„Das natürlich auch. Doch auf dem letzten waren nur Kinder, wie Ihr wisst. Das könnte natürlich nicht der Wahrheit entsprechen, aber das zu kontrollieren ist inzwischen unmöglich. Also bleibt vorerst nur das Bordell.“ Garrick konnte sich Sir Selwyns Zwiespalt gut vorstellen. Welcher Mann wollte seine Liebste schon in einem Hurenhaus auffinden, benutzt und geschändet von unzählig vielen Männern. Doch wenn er Sally wirklich liebt, dann würde er über diesen Makel hinwegsehen. Miss Sally war ja nicht freiwillig im Hurenhaus, sondern unter Zwang.
So entschloss sich Sir Selwyn nach Überlegung, mithilfe von Garrick Moore die Hurenhäuser der Stadt abzusuchen. Doch auch dort hatten sie keinen Erfolg.
Einige Tage später befanden sich die beiden Männer auf der Rückreise zu Lord Kimberley. Nur ungern hatten sie Dover verlassen, wo sie sich recht sicher waren, die Gesuchte dort aufzufinden.
Auf dem Rückweg machten sie Rast in Exmouth, wo Sally ungewollt gelandet war. Dort nahmen sie ihr Abendessen in einem Gasthaus in der Nähe des Hurenhauses von Aelfric ein. Aelfric selber saß von ihnen unerkannt an einem ihrer Nebentische. Er zechte mit seinem Handlanger Rodney und einigen seiner Kumpane. Lauthals protzte er mit seinen Mädchen, die in seinem Hurenhaus arbeiteten.
„Hier scheint es auch Bordelle zu geben“, flüsterte Selwyn dem Detektiv zu, der genau wie er selber, die Rede des Hurenwirtes gehört hatte. „Ob wir…?“
„Natürlich“, erwiderte Garrick. „Auch wenn es keinen einzigen Hinweis auf Exmouth gibt. Ein wenig nachzuforschen, kann nicht schaden.“ So beschlossen die beiden Männer, noch einige Tage in Exmouth zu bleiben und sich hier umzusehen.
Nachdem auch hier die Suche erfolglos war, brachen sie diese vorerst ab. Wie nah sie Sally wirklich gekommen waren, ahnten sie nicht.
Lord Kimberley, der den Detektiv und seinen Freund bereits sehnlichst erwartete, empfing die beiden Männer in seinem Arbeitszimmer. Als er die beiden enttäuschten Gesichter sah, wagte er es erst einmal gar nicht, nach dem Ergebnis der Suche zu fragen. So saßen sich die drei Männer schweigend gegenüber und nippten am ihren Whiskey.
„Tja, das war dann wohl nichts“, brach Selwyn nach einer geraumen Zeit die Stille.
„Ich bin vorerst auch mit meinem Latein am Ende“, sagte Garrick zu Lord Cedric, der darauf brannte, den Bericht seines Kundschafters zu hören.
„Also keine Spur von Miss Sally?“, fragte er dann doch.
„Ganz stimmt das nun auch wieder nicht“, sagte Garrick darauf und berichtete von dem, was sie in der letzten Zeit in Erfahrung gebracht hatten.
„Im Kloster ist sie nicht. In Dover fanden wir nur die Spuren von Franklin und Henry, die im Auftrag von Mistress Lilith Sally entführt haben. Wir wissen nun den Familiennamen der Entführer, konnten ihrer aber nicht mehr habhaft werden, da sie auf einem Handelsschiff das Land verlassen haben.“
„Ich würde mich mal lieber nicht zu weit aus dem Fenster lehnen mit Sallys Stiefmutter. Beweisen können wir ihr die Entführung nicht“, warf Lord Cedric ein.
„Die Äbtissin in Canterbury hat es doch zugegeben“, sagte Sir Selwyn ein wenig trotzig.
„Ja, schon. Aber vielleicht auch nur, um ihren eigenen Hals aus der Schlinge zu ziehen. So lange sie ihre Aussage nicht offiziell zu Papier bringt, können wir gar nichts gegen sie tun“, erklärte der Lord. „Die Äbtissin galt schon immer als gerissene Person. Da müssen wir vorsichtig sei, wenn wir ihr die Mithilfe an der Entführung zur Last legen wollen. Das Gleiche gilt für Mistress Lilith.“
„Wer könnte denn noch involviert sein? Lord Cedric, Ihr kennt doch die meisten Freunde von Sallys Stiefmutter“, fragte Sir Selwyn.
„Auf Anhieb kann ich das gar nicht sagen. Wir hatten uns bereits einige Zeit aus Liliths Dunstkreis zurückgezogen. Ihre Art war uns einfach immer mehr zuwider geworden. Meist sind wir nur Adrian zuliebe ihren Einladungen zu Bällen oder anderen Festlichkeiten gefolgt. Dass wir zu Adrians Beerdigung gänzlich mit ihr gebrochen haben, das habt Ihr bestimmt mitbekommen“, antwortete Cedric, worauf Selwyn zustimmend nickte.
Garrick blieb während des Gesprächs zwischen seinem Auftraggeber und Sir Selwyn still. Er machte sich nur Notizen zu dem Gespräch. Wer weiß, zu was die zusätzlichen Informationen noch gut sein würden. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass Informationen, von denen man annahm, sie wären nicht wichtig, meist diejenigen waren, die einen Auftrag erfolgreich zum Abschluss brachten.
Während sich die Männer weiter beratschlagten, wurde es in der Diele hektisch. Dann wurde die Tür aufgerissen und Lady Ophelia stürmte herein.
„Cedric! Warum sagst du nicht, dass wir Gäste haben“, fuhr sie aufgeregt ihren Gatten an. „Herzlich Willkommen, die Herren“, wandte sie sich an Selwyn und Garrick, die sich soeben erhoben, um die Hausherrin zu begrüßen. „Was macht ihr für lange Gesichter? Und wo ist Miss Sally?“
„Immer noch spurlos verschwunden“, gab Garrick zu.
„Und nun?“ Lady Ophelia war fassungslos. Sie war den Tränen nahe, die geliebte Tochter ihres familiären Freundes immer noch nichtwohlbehalten in ihre Arme schließen zu können.
„Weiter suchen natürlich“, kam es gleichzeitig aus den Mündern der Männer. „Aufgeben ist nicht. Wir werden sie finden, egal, wie lange es dauern wird.“