Sally gab sich einen Ruck. So schlimm wie die Sache mit Delmore war, sie konnten jetzt nicht in der Trauer um Raimons Bruder versinken. Da waren noch die Kinder, die nun ohne Eltern auskommen mussten und im Waisenhaus garantiert nicht gut untergebracht waren. Sally hatte nicht nur einmal von den unmöglichen Zuständen in den Waisenhäusern gehört. Die Kleinen konnten nichts für ihre Eltern und deren Tun. Ihnen musste unbedingt geholfen werden.
„Wir sollten nun zum Rathaus gehen“, sagte Sally zu Raimon, nachdem sie in die Küche zurückgekehrt war. „Es muss noch so viel geklärt werden, ehe wir die Kinder zurückholen.“
„Was bringt mir das nun noch? Delmore ist tot!“, antwortete der Henker. „Ihm ist nicht mehr zu helfen! Er ist tot! Verstehst du?“ An seinen Worten war die Trauer herauszuhören die er um den Bruder verspürte. „Und wer ist schuld daran? Ha! Du weißt es nicht!“ Raimon spie seine Worte heraus, Sally direkt ins Gesicht.
„So beruhige dich doch. Dein Hass macht es auch nicht besser“, versuchte Sally Raimon zu beschwichtigen.
„Du hast gut reden! Du kanntest Delmore nicht. Er war immer ein guter Familienvater und Ehemann. Diese Hure Adra, die seine Gattin war, brachte ihm nur Unheil. Zuletzt sogar seinen Tod. Du hast doch auch gehört, was der Kerl von der Stadtwache erzählte. Und nun werden die Kinder ihren Vater nie wiedersehen.“
„Daran können wir nun auch nichts mehr ändern. Aber wir können den Kindern helfen. Wir werden für sie da sein, ihnen die Eltern ersetzen. Die armen Würmchen sind bestimmt ganz verstört und unglücklich in ihrer neuen Umgebung.“ In Sally kamen Muttergefühle auf, die sie vorher noch nie verspürt hatte. Die Kinder taten ihr leid. Sie konnten nichts für die Taten ihrer Eltern und doch mussten sie darunter leiden, womöglich ihr Leben lang. „Lass uns ins Rathaus gehen und danach ins Waisenhaus“, versuchte sie den Henker aus seiner Lethargie aufzurütteln. Sie griff nach ihrem Umhang, richtete sich die Frisur und wollte hinausgehen. „Nu komm schon“, forderte sie Raimon auf, der steif wie ein Stock am Tisch sitzen geblieben war. Da Raimon nicht reagierte, ging sie einfach hinaus und warf die Tür laut hinter sich zu.
Endlich raffte sich der Mann auf. Er folgte Sally, die bereits das Haus verlassen hatte und die Gasse hinauf ging. „So warte doch“, rief er ihr nach. Doch Sally hörte nicht. So blieb Raimon nichts anderes übrig, als schneller zu gehen, damit er zu seiner Liebsten aufschließen konnte. „Du hast ja recht“, sagte er schnaufend zu ihr, als er sie eingeholt hatte. „Es bringt nichts, in Lethargie zu versinken.“
„Es wird Zeit, dass du das einsiehst“, antwortete Sally. „Ich verstehe ja, dass du um deinen Bruder trauerst. Aber du kannst ihm nun nicht mehr helfen. Dafür seinen Kindern!“ Sally redete sich beinahe in Rage.
„Ich gebe ja zu, dass ich überreagiert habe in meiner Trauer. Verzeih mir bitte. Gehen wir und sehen, was wir noch tun können.“
Den restlichen Weg hatten sie geschwiegen, da jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. Sie unterbrachen ihr Schweigen nur, um nach dem Weg zu fragen. Da sie sich in Dover nicht auskannten, mussten sich Sally und Raimon durchfragen, bis sie endlich vor dem Rathaus standen und beeindruckt an dem stattlichen Gebäude hinaufblickten.
Vor dem Eingang wurden sie von einem Wachmann aufgehalten. „Halt, wohin wollt Ihr? Was ist Euer Begehr?“, fragte er die beiden Ankömmlinge, während er ihnen den Zutritt versperrte.
Raimon wäre nicht Raimon, wenn er nicht auch hier seine sehr imposante und furchteinflößende Größe zur Einschüchterung seines Gegenübers nutzte. „Was hältst du uns auf?“, fuhr er den Wachmann an. „Der ehrenwerte Stadtrichter Watson erwartet uns bereits. Also halte uns gefälligst nicht auf!“
„Das könnte jeder Dahergelaufene behaupten“, entgegnete der Mann und versperrte mit seiner Pike weiterhin das Eingangstor.
„Du wagst es, uns als Dahergelaufene zu bezeichnen?“, regte sich der Henker auf. „Du weißt wohl nicht, wer wir sind?“
„Ihr habt Euch mir nicht vorgestellt“, konterte die Wache wortgewandt. Standhaft verteidigte der Mann seine Stellung.
Beherzt schob Sally Raimon beiseite. Sein Gezeter war nicht mehr zum Aushalten. „Guter Mann, so lasst uns doch durch. Wir wurden durch einen Eurer Kameraden beim Stadtrichter angemeldet“, sagte sie zu dem Wachmann. Genervt schob sie Raimon beiseite, der sich erneut einmischen wollte. „Lass mich das machen“, murmelte sie ihm zu.
„Solang Ihr nicht Euren Namen sagt, kommt Ihr hier nicht rein“, blieb der Wachmann standhaft. „Wir haben den Befehl erhalten, niemanden hereinzulassen, wenn derjenige nicht seinen Namen genannt hat.“
„Ihr werdet sehen, nichts ist leichter als das“, erwiderte Sally lächelnd. „Das ist Raimon, mein Gemahl“, sagte sie und zeigte auf den neben ihr stehenden Henker. Auch sie zog die Notlüge vor, um eventuell aufkommenden Fragen gegen zu wirken. „Mein Gemahl ist von Amts wegen der Henker von Exmouth und Bruder des vor drei Wochen hingerichteten Schustermeisters. Delmore war sein Name. Ihr kanntet ihn ganz bestimmt.“
Der Wachmann wurde blass. Natürlich wusste er von der Hinrichtung des Schusters. Immerhin war er es, der den Delinquenten zum Galgen begleitete.
„Wenn es so ist“, sagte der Wachmann. „Dann folgt mir bitte.“ Ein Henker in seiner Nähe verursachte ein unangenehmes Gefühl in seiner Magengrube, das er möglichst schnell wieder loswerden wollte. Katzbuckelnd ließ er die Besucher eintreten. Wie ein Wiesel huschte er vor ihnen im Rathaus dem Kontor des Richters entgegen.
„Bemühe dich beim Stadtrichter um Benehmen“, flüsterte Sally dem neben ihr gehenden Raimon zu. „Mit ihm sollten wir es nicht verderben.“
„Ja, ja, schon gut“, knurrte Raimon. Sally konnte ihm ansehen, wie schwer es ihm fiel, ruhig zu bleiben.
„Hier ist es“, hörte er jetzt den Wachmann sagen, der sie mit einer Handbewegung aufforderte, zu warten. Nachdem der Kerl angeklopft hatte und eine herrisch klingende Stimme ihn aufforderte, einzutreten, verschwand er hinter der mächtigen, mit Schnitzereien verzierten Tür.
Obwohl sich Raimon die größte Mühe gab, konnte er kein Wort von dem verstehen, was im Kontor gesprochen wurde. Umso erschrockener war er, als die Tür plötzlich aufgerissen und sie aufgefordert wurden, einzutreten.
Raimon riss sich seine Kappe vom Kopf und ging energisch voraus. Das Kontor, das er und Sally nun betraten, war an den Wänden über und über mit Regalen aus edlem Holz übersät. Darin konnte er Bücher mit kostbaren Einbänden sehen und unendlich viele Papierrollen, die wohl Mitschriften von Befragungen waren. So kannte er es aus Exmouth.
An dem großen Tisch aus dunklem Holz saß ein älterer Herr mit schlohweißem Haar. Der Tisch dominierte den Raum und ließ den dort Sitzenden noch kleiner erscheinen als er in Wirklichkeit war. Auf dem Kopf des Mannes thronte ein Hut, unter dem sein üppiges Haar hervorquoll.
Erstaunt blieben Sally und Raimon stehen. Die Pracht des Raumes erschlug sie. Die Stadt Dover musste wahrlich sehr reich sein, wenn sie sich ein solch imposant ausgestattetes Rathaus leisten konnte. Erst ein Räuspern des Herrn hinter dem Schreibtisch riss Sally und Raimon aus ihrem ehrfürchtigen Staunen. Während Raimon sich zum Gruß verneigte und Sally in einem Knicks versank, wurden sie von dem Alten angestarrt.
„Du kannst gehen“, sagte der zu dem Wachmann, der hinter den Hereintretenden stehen geblieben war. Sofort verschwand der Kerl und schloss die Tür hinter sich.
„Ihr seid also der Bruder unseres Schustermeisters. Ich bin Stadtrichter Thomas Watson“, begann der Richter die Konversation mit Raimon mit einer Frage. Sally übersah er beflissentlich. „Was führt Euch zu mir“, sprach er einfach weiter, ohne Raimon zu Wort kommen zu lassen. Er machte eine einladende Handbewegung zu ihnen und wies ihnen den beiden Stühle vor dem riesigen Schreibtisch zu. Raimon und Sally nahmen dankend Platz.
„Nun sprecht endlich! Meine Zeit ist nicht unbegrenzt“, forderte der Richter Raimon nochmals auf, als er und Sally endlich auf den äußerst unbequemen Stühlen saßen.
„Entschuldigt bitte, Euer Ehren“, begann Raimon. „Wir wollten Eure Zeit natürlich nicht noch weiter vergeuden.“
„Kommt endlich zur Sache!“, sagte Watson herrisch.
„Ich bin gekommen, um nachzufragen, was mit dem Haus meines hingerichteten Bruders geschehen soll. Außer Delmores Kindern, mir und meiner Gattin, gibt es keine lebenden Verwandten mehr. Wir möchten das Haus für die Kinder erhalten, damit sie ein Dach über dem Kopf haben.“
„Da Euer Bruder die Kosten seiner Unterkunft im Verlies, seine hochnotpeinliche Befragung durch unseren Henker und seine Hinrichtung nicht bezahlen konnte, wurde es konfisziert“, erwiderte der Alte.
„Das ist mir bereits bekannt. In Exmouth, wo ich als Scharfrichter tätig bin, wird es nicht anders gehandhabt“, entgegnete Raimon. „Gibt es eine Möglichkeit, das Haus auszulösen, damit meine Gemahlin und die Kinder meines Bruders dort leben können, bis ich in Exmouth meine Angelegenheiten geregelt habe und nachkommen kann?“
„Diese Möglichkeit gibt es“, sagte der Thomas darauf. „Ihr kennt das Haus Eures Bruders?“, fragte er nach. „Ach, was frage ich dies? Die Kerle meiner Stadtwache berichteten mir, dass Ihr unberechtigterweise dort eingedrungen seid“, worauf Raimon nur nickte.
„Wir wussten nicht, dass das Haus in den Besitz der Stadt übergegangen war. Meinen Bruder und dessen Kinder wähnten wir außer Haus. Daher wollten wir dort bis zu seiner Rückkehr warten“, verteidigte Raimon sein Tun.
„Auch das wurde mir berichtet. Sehen wir einfach darüber hinweg und vergessen es“, tat der Richter gnädig. „Wenn Eure Gemahlin mit den Kindern Eures Bruders dort leben möchte, wird der Stadtrat nichts dagegen haben. Ihr müsstet es nur auslösen. Ich kann das in die Wege leiten “, sagte er und nannte eine Summe, die Sally und Raimon das Gesicht zu einer Maske erstarren ließ.
„Ihr seid Euch sicher, solch hohe Aufwendungen gehabt zu haben“, hakte Raimon nach. Er konnte sich bei bestem Willen nicht vorstellen, dass die Befragung, Einkerkerung und Exekution seines Bruders solch hohe Kosten verursacht haben soll. In Exmouth kostete so etwas höchstens die Hälfte des Betrages, den der Alte genannt hatte.
„Was denkt Ihr, wie teuer so etwas inzwischen geworden ist. In einem kleinen Kaff wie Exmouth mag das so sein, aber nicht in einer Stadt wie Dover“, erwiderte Watson. „Außerdem war Euer Bruder äußerst verstockt und musste mehrmals hochnotpeinlich befragt werden, bis er die Untat endlich zugab.“
Raimon glaubte dem Richter nicht. Eher wird es wohl sein, dass sich der Kerl noch an ihm bereichern wollte. Aber nicht mit ihm. „Werter Herr“, sagte der Henker. „Ihr mögt glauben, was Ihr wollt. Ich tue es nicht.“
Ein betretenes Schweigen seitens Raimons Gegenüber folgte.
„Es tut mir leid“, sagte der Scharfrichter nach einer Weile. „Wenn Ihr auf dem von Euch genannten Betrag beharrt, tut es mir leid. So viel Geld besitzen wir nicht. Wir holen die Kinder und nehmen sie mit nach Exmouth.“
„Wie Ihr wollt. Das ist Eure Sache“, knurrte der Richter unbehaglich. „Der Aufenthalt im Waisenhaus kostet allerdings auch etwas.“
Raimon hatte es geahnt. „Wir geben den ehrwürdigen Schwestern des Waisenhauses eine angemessene und großzügige Spende“, sagte er, worauf dem Richter die Gesichtszüge entglitten.
„Das ist mir recht“, meinte der darauf und wandte sich wieder den Papieren zu, die vor ihm auf dem Tisch lagen.
Für Sally und Raimon war das ein Zeichen, dass somit die Unterredung beendet war. Sie erhoben und verabschiedeten sich. Der Stadtrichter jedoch schien sie bereits nicht mehr zu beachten.
Entrüstet stürmte Raimon den langen Gang entlang, der zum Portal führte. Draußen warf er die Rathaustür hinter sich zu „Das kann ich kaum glauben“, schimpfte er.
„Ich nehme an, du denkst das Gleiche wie ich“, sagte Sally und teilte ihm ihre eigene Vermutung mit. Sie hatte sich während des Gesprächs mit dem Richter zurückgehalten, nachdem sie bemerkt hatte, dass er sie einfach übersah. Aber nun ließ sie ihrer Wut freien Lauf. „Dieser Kerl will sich nur bereichern. Hast du seine gierigen Blicke gesehen, als er dir die Summe nannte und wie enttäuscht er war, dass du das Haus nicht auslösen und den Schwestern im Waisenhaus persönlich eine Spende zukommen lassen willst.“
„Natürlich habe ich das bemerkt. Der Kerl war mir gleich suspekt“, meinte Raimon grimmig. „Sind hier denn alle so korrupt? Ich hoffe es nicht. Und ich hoffe sehr, dass mein Bruder nicht für einen anderen büßen musste.“
„Rege dich nicht schon wieder auf. Hier werden wir nichts daran ändern können“, beruhigte Sally den Henker. „Von uns bekommen sie keinen einzigen Penny. Lieber gehen wir mit den Kindern nach Exmouth. Die Kleinen werden sich hoffentlich schnell an uns und die neue Umgebung gewöhnen.“
Raimon schaute Sally erstaunt an. „Du meinst, du willst mit zurück nach Exmouth? Aber dort ist es gefährlich für dich. Rodney ist bestimmt immer noch auf der Suche nach dir. Der windige Kerl ist eine große Gefahr für dich!“
Sally lachte. „Na und! Mit dem werden wir schon fertig werden. Für was bist du der Henker von Exmouth und hast Aufsicht der Hurenhäuser? Mit dir an meiner Seite habe ich keine Angst vor Rodney. Irgendwann muss er für seine Gewalttaten bestraft werden. Nutzen wir die Gelegenheit, ihm eins auszuwischen.“
Der Scharfrichter lächelte. Unter Sallys Blick wurde ihm warm ums Herz. „Du erstaunst mich immer wieder. Du hast gar nichts mehr von einer verwöhnten adligen Dame“, sagte er zu Sally und strich zärtlich über deren Wange.
„Ich kann mich halt auch anpassen“, erwiderte die Frau und grinste Raimon verschmitzt an. „Außerdem will ich nie wieder ohne dich sein! Du gehörst nun mal zu mir und ich zu dir. Und nun sind die Kinder deines Bruders auch noch ein Teil von uns. So ist es nun mal.“
Raimon war sehr erfreut über Sallys Worte. Genau deswegen liebte er sie. „Aber nun lass uns endlich zu den Kindern gehen und sie aus dem Waisenhaus holen“, erwiderte er lächelnd, griff nach Sallys Hand und lief los. Die junge Frau folgte ihm gerne.