Am nächsten Morgen machten sich Garrick Moore und Sir Selwyn als erstes auf den Weg nach Canterbury. Garrick berichtete am Abend zuvor von der Nonne Magdalena, die ihm im Kloster gerne behilflich sein wollte.
Sir Selwyn war sofort Feuer und Flamme, als Garrick erzählte, die Nonne würde ihn heimlich in den Klosterkeller führen, damit er sich dort umsehen konnte. Da musste er unbedingt dabei sein. Sollte Sally wirklich dort versteckt sein, konnte er sie sogleich in seine Arme schließen und ihr seine Liebe gestehen. Danach würde er sie nie wieder gehen lassen, wenn sie ihm genau so liebend zugetan sein sollte.
Kurz vor dem Abendgebet schlichen sich Sir Selwyn und der Detektiv zum Kloster. Ihre Pferde hatte sie im Stall ihrer Herberge gelassen, um nicht aufzufallen. Immer wieder mussten sie dem Nachtwächter ausweichen, der seine Rundgänge durch die Stadt machte. Zum Glück wurde in dieser Nacht der Mond von Wolken verdeckt, so brauchten sich die beiden Heimlichtuer lediglich in eine Nische zu drängen, um seinen wachsamen Augen zu entgehen. Dafür konnte man kaum den Weg erkennen. So bewegten sich die beiden Männer vorsichtig vorwärts, damit sie nicht aus Versehen in Unrat oder anderen Müll traten.
Vor der Klostermauer wuchsen ein paar Büsche, zwischen denen sie ungeduldig auf das vereinbarte Zeichen der Nonne warten konnten. Endlich hörten sie Schritte im Garten, gleich darauf das Signal.
„Kommt, ich helfe Euch hoch, dann Ihr mir“, sagte Garrick mit vor Aufregung klopfendem Herzen und machte eine Räuberleiter. So erreichte Selwyn ohne Mühe den oberen Rand der Mauer. Er zog sich hoch und half dann Garrick nach oben.
Erschrocken keuchte Schwester Magdalena auf, als plötzlich zwei Männer in dunklen Umhängen vor ihr standen, anstatt wie abgesprochen, Garrick Moore allein.
„Mein Gott, was erschreckt Ihr mich so!“, stieß die Nonne aus. „Ihr wolltet doch allein kommen“, sagte sie vorwurfsvoll zu dem Detektiv.
„Entschuldigt. Sir Wellington hat sich kurzfristig entschieden, mir bei der Suche behilflich zu sein“, beschwichtige Garrick die Frau. „Sir Selwyn ist der Gesuchten sehr zugetan und wünscht sich nichts sehnlichster, Miss Sally bald in seine Arme schließen zu können.“
„Sagt doch gleich, der Sir wandelt auf Freiersfüßen.“ Die Nonne lächelte selig. Ihr war es als Braut Gottes leider verwehrt, der Liebe zugetan zu sein.
„Genug mit dem Geschwafel“, fuhr Selwyn dazwischen. „Lasst uns lieber den Keller inspizieren. Süßholz raspeln können wir später.“
„Dann kommt, gehen wir“, sagte die Nonne, die Garrick verliebt angeschaut hatte. Energisch schritt sie den Männern voraus, dem Keller entgegen.
„Hier entlang“, wies sie ihren Begleitern den Weg. Die Hand vor die Kerze haltend, damit sie nicht durch den Wind ausgehen konnte, zeigte sie auf die steile Treppe, die in das geheimnisvolle Verlies führte. Vorsichtig stieg sie die glitschigen Stufen hinab. Die massive Tür war mit einem rostigen Riegel gesichert. Magdalena mühte sich damit ab, schaffte es aber nicht, diesen zurück zu ziehen.
„Lasst mich das machen“, sagte Garrick, der ungeduldig hinter der Nonne wartete.
Magdalena trat beiseite, damit der Mann sich dem verschlossenen Tor annehmen konnte. Dabei kam ihr sein männlich, markanter Duft in die Nase. Ein süßes Kribbeln zog durch ihre Magengegend, das sie sich nicht erklären konnte. Hatte sie sich womöglich in den Kundschafter verliebt? Das durfte nicht sein! Sie war eine Braut Gottes, die sich ausschließlich um kirchliche Belange zu kümmern hatte.
Garrick bemühte sich, den Riegel an der Kellertür mit fein dosierten Faustschlägen möglichst lautlos zu öffnen. Trotzdem ließen sich garstige Quietschlaute nicht verhindern, das jeweils alle erschrocken zusammen zucken ließ. Sie horchten gespannt, ob sich jemand näherte, der die Geräusche gehört haben könnte. Doch es blieb alles ruhig.
Als der Weg endlich frei war, entfernte Garrick die Spinnweben, die innerhalb der Türe wucherten. Anscheinend hatte schon lange Zeit niemand mehr den Keller durch diese Türe betreten. Oder wenn doch, wurde vorsichtig darauf geachtet, die Spinnweben nicht zu beschädigen. Aufgeregt rannten die Krabbeltiere an der Wand in Sicherheit. Vielleicht gab es sogar einen zweiten Zugang, von dem die Klosterfrau nichts wusste.
Magdalena schüttelte sich, als sie im Licht der Kerze das Getier an der Wand entlang rennen sah. Mutig trat sie vor. „Hier entlang“, sagte sie zu den Männern und wollte voran gehen.
„Wartet, ich gehe voraus“, hielt Garrick die Nonne zurück und nahm ihr die Kerze aus der Hand. Vorsichtig schritt er über den nassen Boden. Magdalena und Selwyn folgten ihm.
„Achtet auf Euren Weg. Der Boden ist nass und glitschig“, warnte er die Nachfolgenden.
Gemeinsam suchten sie den gesamten Keller ab. In jede noch so kleine Ecke leuchteten sie. Sie wagten es sogar, nach Sally zu rufen. Weder entdeckten sie das Mädchen, noch hörten sie es auf ihre Rufe antworten.
„Das gibt es doch nicht“, schimpfte Garrick leise. „Ich war mir sicher, Miss Sally hier zu finden.“
„Was denkt Ihr, wo sie sein könnte?“, fragte Sir Selwyn, der seine Enttäuschung kaum verbergen konnte.
„Fragt mich mal etwas einfacheres“, erwiderte Garrick. Er war mit seinem Latein am Ende. Nachdenklich kratzte er sich am Kopf und überlegte angestrengt.
„Wir sollten nochmals alles absuchen. Vielleicht haben wir etwas übersehen“, warf Schwester Magdalena ein. Sie zog ein weiteres Talglicht aus ihrem Gewand. Sie zündete es am fast abgebrannten an und reichte es Garrick.
Zum wiederholten Male suchten sie sorgfältig jeden Winkel ab. Sie schauten auch nach einem weiteren, versteckten Zugang. Ohne Erfolg. Außer Mäusen und Unmengen von Spinnen fanden sie kein Lebewesen in dieser Finsternis. Genervt brachen sie die Suche ab.
Wenig später standen die drei Personen im Kräutergarten und berieten ihr weiteres Vorgehen.
„Ich denke, es bringt nichts, wenn wir Euch am nächsten Mittwoch unnötig in Gefahr bringen. Ich möchte lieber nicht wissen, was die Äbtissin tut, wenn sie erfährt, dass Ihr sie hintergeht. Immerhin steckte sie mit Mistress Lililth unter einer Decke“, sagte Garrick zu Schwester Magdalena.
Die Nonne schaute enttäuscht zu dem Mann auf. Sie hatte sich sehnlichst erhofft, ihn nun öfter sehen zu können, auch wenn sie ihm ihre Gefühle nie gestehen konnte. Ihre Hoffnung zerschlug sich von einer auf die andere Minute.
„Was soll ich tun, wenn ich wider Erwarten etwas in Erfahrung bringen sollte“, fragte Magdalena mit bebenden Lippen. Sie versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
„Schickt in diesem Falle eine Nachricht an Lord Kimberley. Er wird dann wissen, was weiter zu tun ist“, erwiderte Sir Selwyn anstatt Garrick.
„Ist das für Euch machbar?“, wollte Garrick nun wissen. „Wir wollen keinesfalls, dass Ihr Euch in Gefahr bringt.“
„Ich werde mir etwas einfallen lassen, damit es nicht auffällt, wenn ich mich heimlich davon schleiche“, entgegnete die Klosterfrau. Vielleicht war es doch möglich, auf diesem Wege dem Detektiv nochmals zu begegnen.
„Sehr gut“, sagte Garrick. „Auf Euch ist Verlass.
Magdalena errötete, was Garrick aufgrund der bestehenden Dunkelheit jedoch nicht bemerken konnte.
„Dann sollten wir nun gehen. Hier können wir nichts mehr tun“, ließ Sir Selwyn von sich hören. „Wir danken Euch für Eure Mühe, werte Schwester Magdalena. Doch Mister Moore hat recht, wir sollten Euch nicht unnütz in Gefahr bringen. Wer weiß, was Sallys Entführer mit Euch tun, wenn sie herausfinden, dass Ihr uns helft und mit uns nach ihr sucht.“
„Auf Wiedersehen, Schwester Magdalena“, verabschiedete sich nun auch Garrick. Er wollte ihr die Hand reichen, doch die Nonne wandte sich abrupt ab und huschte eilig davon.
„Was hat sie denn auf einmal“, sagte Garrick ahnungslos und blickte der Nonne nach, die eben durch die Küchentür ins Innere verschwand.
„Ich glaube, sie hat sich in Euch verliebt. Habt Ihr nicht gesehen, wie sie Euch immer angesehen hat?“, erwiderte Selwyn schmunzelnd. „Doch nun lasst uns von hier verschwinden.“
Garrick lachte leise über Selwyns Vermutung und schalt ihn einen Narren.
Kurz darauf zogen sich zwei dunkel bekleidete Männer an der Außenmauer hoch und sprangen auf der anderen Seite wieder hinab. Auf dem Weg ins Gasthaus hing jeder seinen eigenen Gedanken nach. Sir Selwyn dachte an Sally, während Garrick sich Sorgen um die Nonne machte. Sollte sie sich wirklich in ihn verliebt haben? Darüber dachte er lieber nicht nach. Erst würden sie morgen nach Dover reiten. Dort würden sie weiter sehen und entscheiden, wie die Suche nach Sally fortgeführt werden sollte. Die Belange der Nonne stellte Garrick erst einmal hinten an.