Am Morgen versammelte Sally alle Bediensteten in der großen Diele im Eingangsbereich des Herrenhauses um sich. Obwohl gerade erst die Sonne aufgegangen war, gesellte sich auch Henri Richardson dazu. Die meisten kannten den Richter bereits aus Trowbridge und wussten, warum er sich auf dem Anwesen der Montgomerys aufhielt. Auch hatten sie von den Vorkommnissen des Vorabends erfahren. Sie hatten sich aber an Raimons Anweisung gehalten, keine Gerüchte in die Welt zu setzen. Besonders erstaunt waren die Angestellten nicht, dass sich Mistress Lilith auf diese Art und Weise aus der Verantwortung gezogen hatte. Kaum einer trauerte um die Verstorbene, die schon zu Lebzeiten nicht besonders beliebt war.
„Noch ist nicht sicher, ob Mistress Lilith eines natürlichen Todes gestorben ist, ob sie sich selbst das Leben genommen hat oder sie womöglich sogar ermordet wurde“, sagte Henri Richardson zu den Anwesenden. „Fakt ist, die Frau ist zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt von uns gegangen. Ich bin hier geblieben, um den Grund des Todes herauszufinden.“
„Vielleicht hat sie eingesehen, dass sie hier keine Zukunft mehr hat und Mistress Sally ihr auf die Schliche gekommen ist“, warf Adelaide ein. „Dem Anschein nach wusste sie auch keinen anderen Ausweg mehr.“
„Miss, wir wissen es noch nicht“, hielt Richardson die aufgeregte Zofe in ihrer Rede auf. „Spekulationen bringen uns aber auch nicht weiter.“ Er sah hinüber zu Raimon, der Adelaides Rede aufmerksam verfolgt hatte. „Doktor Armstrong aus Bradford-on-Avon wird heute im Laufe des Vormittags kommen und die Verstorbene untersuchen. Vielleicht finden wir einen Hinweis auf die Todesursache.“
Raimon fiel der Fund von letzter Nacht ein, den er in seiner Hosentasche verstaut hatte. Er kramte ihn heraus und überreichte ihn dem Richter.
„Was ist das und wo habt Ihr das gefunden?“, fragte Mister Richardson.
„Nachdem ich Euch letzte Nacht auf Euer Zimmer gebracht hatte, war ich noch einmal vor dem Haus, um frische Luft zu schnappen. Dabei sah ich mich in den Beeten vor den Fenstern meiner Schwiegermutter um. Die Fackeln brannten noch, wenn auch wenig. Da entdeckte ich diese kleine Ampulle“, berichtete Raimon wahrheitsgemäß. „Sie war bereits leer. Es sah so aus, als wäre sie achtlos weggeworfen worden.“
Richter Richardson besah sich das kleine Glasgefäß genau. Ein kleiner Aufkleber mit einem Totenkopf war darauf angebracht. Darunter konnte man noch erkennen, dass dort etwas darauf geschrieben wurde. Leider war die Schrift unleserlich geworden da genau an dieser Stelle der Aufkleber stark beschädigt war. „Das könnte ein Hinweis sein, dem wir auf den Grund gehen sollten“, sagte der Richter nachdenklich. Er zeigte die Ampulle herum und fragte, ob jemand etwas darüber wusste.
Adelaide meldete sich. Die Zofe erzählte, dass sie nach Sallys Entführung eine ähnliche Ampulle in deren Schlafgemach gefunden hatte. Sir Selwyn, der damals mit dabei war, hätte gesagt, es wäre Äther drin gewesen. Das Mädchen roch daran.
„Vorsicht! Wir wissen nicht, was in der Ampulle war“, mahnte Henri Richardson.
Adelaide verstand und war vorsichtig. Sie roch nochmals daran. „Der Inhalt war auf keinen Fall Äther. Ich erinnere mich noch gut an den Geruch des Betäubungsmittels.“ Sie zuckte hilflos mit den Schultern.
„Gut, das ist erst einmal nicht so schlimm“, erwiderte Richardson. „Doktor Armstrong weiß garantiert Rat. Deswegen habe ich ihn rufen lassen.“ Der Richter schaute in die Runde. „Ich danke allen für die Aufmerksamkeit. Ich bitte weiterhin um Stillschweigen, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind.“
„Ihr könnt dann an euer Tagwerk gehen“, sprach Sally kurz zu ihren Bediensteten. „Wir lassen euch rufen, falls Richter Richardson, oder später Doktor Armstrong, noch Fragen haben sollte. Ich danke euch, dass ihr unserem morgendlichen Aufruf alle gefolgt seid. Es fehlt nur der Stallknecht. Doch der ist entschuldigt. Er ist bereits seit dem Morgengrauen auf dem Weg zu Doktor Armstrong.“
„Wenn unsere Mistress Sally ruft, dann sind wir gern zur Stelle“, tönte die alte Köchin laut, die inmitten der Dienstmädchen stand, die sie wie eine Glucke um sich geschart hatte. Die Frau kannte Sally bereits von Kindheit an. Oft hatte sie ihrer jetzigen Herrin heimlich Leckereien aus der Küche zugesteckt, wenn sie wegen ihrer Stiefmutter wieder einmal todtraurig war. „Kommt Leute, an die Arbeit! Ihr habt gehört, was die Herrin sagte“, trieb die Köchin dann die Angestellten auseinander.
„Adelaide, sei bitte so nett und wecke die Kinder. Sie sollen rechtzeitig zum Frühmahl im Esszimmer sein“, wandte sich Sally an ihre Zofe. Das Mädchen hatte sich seit Sallys und Raimons Ankunft in Dilton Marsh weitestgehend um Raimons Neffen und seine Nichte gekümmert. Das sollte auch hier in Trowbridge so bleiben. Sobald Sallys Kind das Licht der Welt erblickt hatte, sollte die Tochter der Köchin ihr zur Hand gehen. Die junge Herrin wollte das Neugeborene aber weitestgehend allein versorgen. Sie hatte es jedoch lieber, anfangs eine erfahrene Mutter an ihrer Seite zu haben. Immerhin hatte sie keine leibliche Mutter mehr, die ihr alles zeigen konnte und Genefa hatte mit ihren eigenen Kindern genug zu tun. Die Tochter der Köchin hatte selbst Kinder, die aber bereits alt genug waren, um bei den Montgomerys ihren Dienst zu versehen.
Wenig später saßen alle am Frühstückstisch, der von den Dienstmädchen noch vor der Versammlung im Esszimmer gedeckt worden war.
„Ich denke, es ist nach der jetzigen Sachlage nicht mehr notwendig, meine Freunde zu den Ermittlungen heran zu ziehen“, sagte Sally zu Richter Richardson, der eben an seinem Tee nippte.
„Da habt Ihr Recht“, erwiderte der Richter. „Gerade für Mister Moore und Eure Freundin Sabrin wäre es ein weiter Weg von London bis hierher. Falls doch noch Fragen aufkommen sollten, können wir immer noch Boten schicken und sie in mein Dienstzimmer in Trowbridge bitten.“ Der Richter biss von seinem dick mit Butter und Honig bestrichenen Brot ab. „Ich hoffe, das Zimmer der Toten hat seit letzter Nacht niemand betreten und alles ist noch so, wie wir es verlassen haben.“ Er sah Raimon fragend an.
„Wie sollte es?“, fragte der Scharfrichter. „Ich habe Euch den Schlüssel überlassen. Wie Sally mir versicherte, gibt es keine anderen Zugänge, außer diese Tür, deren Schlüssel Ihr in Verwahrung habt. Meine Gemahlin sagte, Geheimgänge gäbe es im Haus nicht. Sie wüsste von keinem. Es sei denn, es wurden während ihrer Abwesenheit welche angelegt.“
„Dann lassen wir uns mal überraschen, was Doktor Armstrong herausfindet“, sagte der Richter. „Er müsste bestimmt bald hier sein. Wann, sagtet Ihr, ist Euer Knecht losgeritten?“
„Kurz vor Sonnenaufgang sah ich den jungen Mann mit einem Pferd aus dem Stall kommen, wusste Edwina zu berichten. „Gleich darauf ritt er los.“
Sally schaute erstaunt. „Seit wann bist du vor Sonnenaufgang auf den Beinen?“, fragte sie die Freundin.
„Ach, weißt du, die ganze Aufregung hier hat mir den Schlaf geraubt. Dann das fremde Bett, die fremde Umgebung. Das ist alles zu viel für mich alte Frau.“ Edwina hüstelte verlegen. Dass sie trotz widriger Umstände die halbe Nacht über den Butler Walter nachgedacht hatte, gab sie lieber nicht zu. Wie sah es aus, wenn eine alte Vettel, wie sie eine war, wie ein junges Ding in Liebestaumel verfiel.
Während sie weiter aßen und dabei plauderten, betrat der Butler das Esszimmer. „Mistress Sally, Doktor Armstrong ist soeben eingetroffen“, meldete der Mann.
„Dann bitte den Herrn herein. Lass auch noch ein Gedeck für ihn bringen“, befahl Sally Walter, der sofort nach draußen ging.
Gleich darauf betrat ein Herr mit grauem Haar und einem ebenso grauen Bart das Esszimmer. Er trug einen beträchtlichen Bauch vor sich her, um den sich sein weißes Hemd und ein graues Wams spannte wie eine zweite Haut. Seine Beine steckten in etwas zu kurzen Hosen. Da er für seine Körpergröße recht große Füße hatte, sah das sehr eigenartig aus.
Sally erhob sich, um den Doktor zu begrüßen.
„Oh, Mistress, bleibt sitzen. In Eurem Zustand solltet Ihr Euch schonen“, kam ihr der rundliche Herr entgegen.
Sehr erstaunt über die piepsende Stimme, blieb Sally stehen. „Nun bin ich auf den Beinen. Einmal in Bewegung, ist bremsen nicht mehr möglich“, machte sich Sally über ihre eigene enorme Körperfülle lustig. Im Gegensatz zu der von Doktor Armstrong, würde diese aber nach einiger Zeit wieder verschwinden. „Ich bin Sally Montgomery, Adrian Montgomerys Tochter. Ihr seid, wie ich annehme, Doktor Armstrong.“ Die junge Frau lächelte den Mann an.
„Zu Euren Diensten“, piepste der Doktor, worauf die Kinder leise kicherten. Doch ein strenger Blick ihres Onkels ließ sie sofort verstummen.
Dem Arzt wurden die Anwesenden vorgestellt und ihm dann sein Platz zugewiesen. Aufseufzend ließ er sich neben Faylynn auf den Stuhl fallen, dass dieser knarzende Geräusche von sich gab und die Anwesenden hofften, dass dieser nicht unter der Last des Mannes zusammenbrach. Das Dienstmädchen hatte bereits ein Gedeck hingestellt und Tee eingegossen.
Während der Doktor genüsslich alles in sich hinein schaufelte, was ihm vorgesetzt wurde, berichtete der Richter genau, was geschehen war und was bereits vorgenommen wurde. Ab und an rülpste der Arzt sogar und strich sich über seinen dicken Wanst.
Raimons Nichte, die neben dem Mann saß, flüsterte ihrem ältesten Bruder Travis zu, ihr Tischnachbar hätte sogar aus dem Hintern gerülpst. Es stänke auf einmal so, dass es ihr übel würde. Wie eine kleine Dame hielt sie sich ihr Taschentuch vor die Nase.
„Du bist sicher, dass du nicht selbst in die Hose gemacht hast?“, fragte Travis. „Ich erinnere mich, dass das auch immer mächtig stank.“ Der Junge verzog angewidert das Gesicht und Faylynn war empört.
Gleich nach dem sehr ausgiebigen Frühstück machte sich Doktor Armstrong mit Henri Richardson und Raimon auf den Weg zu Lilith. Erst wollte er Raimon abweisen. Der Richter erklärte ihm aber kurz, wer Raimon war und er dessen Anwesenheit bei der Untersuchung wünschte.
„So, so, ein ehemaliger Scharfrichter also“, sagte Armstrong nur, unterließ es aber, weitere anzügliche Bemerkungen in Richtung Raimons Herkunft zu machen. Immerhin war er der Gemahl der Erbin des Anwesens und ihm vom Stand her inzwischen gleichgestellt. Er wusste, Henker besaßen oft ein größeres Wissen über den menschlichen Körper. Nur ihnen war es erlaubt, Gehenkte zu Zwecken der Wissenschaft zu öffnen. Somit konnte es nur gut sein, wenn Raimon bei der Totenschau dabei war.
Die Verstorbene lag erklärlicherweise noch genau so auf dem Bett, wie Henri und Raimon sie am Abend zuvor verlassen hatten. Inzwischen war die Totenstarre vollendet. An den Extremitäten waren deutliche Totenflecken zu sehen. Das Gesicht sah aus wie das einer Wachspuppe.
Mit etwas Mühe entkleideten die Männer die Leiche. Die Totenstarre war extrem ausgeprägt. Penibel genau untersuchten sie den Körper. Doktor Armstrong hatte sogar eine große Lupe aus seiner Tasche genommen und sah sich jeden Zentimeter der Haut an. An der Ellenbeuge wurde er stutzig. Er schaute genauer. Vor sich hin murmelnd dachte er nach.
„Was ist Doktor? Habt Ihr etwas entdeckt?“, fragte Henri Richardson.
„Ich weiß es noch nicht genau“, antwortete Armstrong. „Das hier sieht aus wie eine kleine Einblutung, ein blauer Fleck oder so etwas. Auf jeden Fall ist es etwas, was man normalerweise dort nicht findet.“ Er hielt die Lupe noch einmal an die Ellenbeuge und zeigte auf einen winzigen, fast nicht erkennbaren, blauen Fleck. „Seht Ihr das?“, fragte er. „Ich habe da so einen Verdacht. Aber lasst mich noch weiter untersuchen. Vielleicht ist das nicht das einzige Mal, das ich an ihrem Körper finde und das nicht dorthin gehört.“ Er wandte sich erneut der Toten zu. Während er sie weiter untersuchte fragte er, ob die Dame in letzter Zeit krank gewesen oder einer ärztlichen Behandlung unterzogen wurde.
Raimon und Henri schauten sich erwartungsvoll an. Sie wussten keine Antwort auf die Frage. Noch verstanden sie nicht, was der Arzt mit seiner Aussage meinte.
„Ihr erzähltet vorhin von einer Ampulle, die gefunden wurde“, sagte der Untersuchende auf einmal. „Kann ich die mal sehen?“
Raimon reichte sie ihm. Armstrong schaute sich den Glaskolben an, roch sogar daran. Er drehte das Gefäß so, dass der etwas dickere Boden nach oben zeigte. Dann hielt er seine Lupe darüber. „Seht her“, erklärte er. „Hier unten dieses winzige Zeichen. Manche Apotheker lassen sich ihre Ampullen in Handarbeit herstellen und bei der Fabrikation ihre Wappen, oder auch den Namen ihrer Apotheke und den Ort eingravieren.“ Er zeigte mit dem Finger darauf. „Das hier ist das Wappen eines mir bekannten Apothekers in London. Bestimmte Mittel, wie Opium, oder andere Zutaten für Arzneimittel kaufe ich bei ihm. Er ist bekannt dafür, auch mit Mitteln aus dem Orient oder aus anderen fernen Ländern zu handeln. Dieser Apotheker kann uns sagen, was er in die Ampulle eingefüllt hat, welche Menge davon und an wen er sie verkauft hat. Aber“, er hob den Finger und roch nochmals an dem Gläschen. „Ich habe ein sehr gutes Riechorgan, habe mir die Tote genaustens angesehen und mir meine Gedanken gemacht.“ Er sah seine beiden Mitstreiter an.
„Nun spannt uns nicht zu sehr auf die Folter“, drängte der Richter aufgeregt.
„Gemach, gemach, meine Herren! Immer eins nach dem anderen“, wehrte Armstrong ab. „Erst schaue ich mir die Verstorbene noch einmal an.“ Er drehte und wendete sie, schaute sich die Stelle an der Ellenbeuge nochmals an, sogar ihre Glieder versuchte er zu bewegen.
„Wann sagtet Ihr, ist der Tod in etwa eingetreten?“
„Wir nehmen an, gestern Abend gegen acht Uhr“, erwiderte Richardson. „Um diese Zeit haben wir sie gefunden. Da war sie noch warm.“
Raimon bestätigte dies. „Etwa eine Stunde vorher habe ich die Dame noch lebend gesehen. Sie hatte versucht, zu fliehen, was ich verhindert habe“, sagte er noch.
„Noch eine Frage: Ist Euch etwas an der Toten aufgefallen, als Ihr sie gefunden habt? Vielleicht auch, als Ihr sie umgebettet habt? Oder lag sie bereits im Bett?“
„Wir fanden sie im Sessel sitzend“, antwortete Richardson.
„Was gab es besonderes, als Ihr sie umgebettet habt?“, forschte Armstrong weiter. „Irgendetwas Besonderes, was auch bei Toten nicht normal ist.“ Er wandte sich an Raimon. „Ihr seid doch Henker und habt einen guten Blick für Besonderheiten! Denkt nach! Was war anders?“
Raimon dachte angestrengt nach. Dann ging ihm plötzlich ein Licht auf. „Sie war eigenartig starr“, sagte er. „Normalerweise, so kurz nach dem Eintreten des Todes, ist ein Verstorbener nicht so steif wie unsere Entschlafene. Ich hatte Mühe, ihre Arme und Beine gerade zu rücken.“
„Aha!“, stieß der Arzt aus. „Was sagt uns das?“
Erneut schauten Raimon und Henri den Doktor fragend an.
„Schauen wir uns abermals im Zimmer um!“ Er ging vor ihnen hin und her und blieb abrupt am Toilettentisch stehen. Inmitten von Kämmen, Bürsten, Haarnadeln und Haarnetzen stand eine kleine, unscheinbare Flasche. Er zeigte darauf. „Laudanum“, sagte er dann. „Wie Euch als Henker bestimmt bekannt ist, ein starkes Beruhigungs- und Schmerzmittel, das wir auch Theriak nennen. In zu hoher Dosis genommen tödlich. Man stirbt aber nicht schnell genug daran, jedenfalls nicht innerhalb von etwa einer Stunde. Dazu benötigt man weitaus größere Mengen, als hier in dieser Flasche war. Der Mohnsaft kann somit nicht die Todesursache sein. Ich nehme an, damit hat sie sich den Todeskampf nur erleichtert. Wahrscheinlich wusste sie, was auf sie zukommt.“
Der Arzt ging erneut zum Bett. „Seht her! Der Körper ist bereits vollkommen steif. Normalerweise tritt die Totenstarre nach zwei bis sechs Stunden nach und nach ein. Bis sie vollständig ausgeprägt ist, dauert es etwa sechs bis zwölf Stunden. Ihr sagtet, der Tod wäre etwa gegen acht Uhr abends eingetreten. Jetzt ist es neun Uhr morgens. Also wäre die Totenstarre jetzt erst vollständig.“ Euphorisch über seine Entdeckung stolzierte Armstrong im Raum auf und ab. Dann dozierte er mit seiner piepsigen Stimme weiter, die sich vor Aufregung beinahe überschlug. „Nach Eurer Aussage war Mistress Lilith bereits gestern Abend starr. Vollkommen unnormal für den angenommenen Todeszeitpunkt. Ihr“, er zeigte mit spitzen Fingern auf Raimon, „fandet die ominöse Ampulle unter dem Fenster. Hier fanden wir eine leere Laudanum-Flasche, die übrigens vom selben Apotheker stammt, wie die Ampulle. Die Tote hat eine eigenartige Einstichstelle in der Ellenbeuge, war in der letzten Zeit weder krank, noch in anderer ärztlicher Behandlung. Suchen wir also eine Spritze. Fangen wir bei den Kleidern der Toten an. Da war nichts, das wäre uns vorhin aufgefallen, als wir sie entkleideten. Als nächstes den Sessel und dessen Umgebung.“
Armstrongs Gedankengänge waren für Raimon und Henri plausibel. Raimon ging sofort auf die Kniee, während der Richter die Polster und die Ritzen des Sessels absuchte. „Au“, schimpfte er und fischte eine Kanüle aus einer Ecke.
„Ich hab auch was“, rief Raimon und angelte unter die Kommode neben dem Bett, die genau dem Sessel gegenüber stand. Als er die Hand unter dem Möbel hervorzog, hielt er den Kolben einer Spritze zwischen den Fingern.
„Wieder sind wir des Rätsels Lösung einen Schritt näher gekommen“, freute sich der Doktor. „Nein“, er hielt inne. „Wir haben des Rätsels Lösung gefunden!“ Er streckte seinen Zeigefinger in die Höhe. „Hört her, dies ist meine Theorie. Mistress Lilith hat das Laudanum oral eingenommen, also geschluckt. Dann hat sie sich den Inhalt dieser Ampulle gespritzt und diese heimlich aus dem Fenster geworfen, damit es so aussieht, als wäre sie zufällig gestorben. Dazu war sie noch fähig, wenn die Einnahme des Mohnsaftes und das Spritzen des Giftes kurz hintereinander erfolgte. Dann setzte sie sich in den Sessel und wartete einfach nur ab. Ich denke, dass sie ihren Todeskampf durch die Menge des eingenommenen Opiats so gut wie gar nicht gespürt hat. Vielleicht wäre der Tod auch durch den Mohnsaft eingetreten. Wenn nicht, dann hat ihr der Inhalt der zweiten Ampulle den letzten Rest gegeben. Sie wollte wohl lieber auf Nummer sicher gehen.“
„Welches Gift könnte es gewesen sein?“, wollte Henri Richardson wissen.
„Von allen Anzeichen her, Strychnin“, erwiderte Godric Armstrong.
„Aber damit bringt man Ratten um, oder andere Viecher, aber keine Menschen“, stieß Raimon entsetzt aus. Er schüttelte sich, als er daran dachte, wie qualvoll Lilith gestorben wäre, wenn sie vorher nicht das Laudanum eingenommen hätte.
„Da sprecht Ihr ein wahres Wort“, erwiderte Armstrong. „Es ist trotzdem möglich, einen Menschen mit Strychnin umzubringen. Schon sehr kleine Dosen sind tödlich, direkt in die Blutbahn gespritzt, auf alle Fälle. Es ist auch für mich unbegreiflich, warum sie gerade diese grausame Todesart gewählt hat. Vor allem auch, warum sie sterben wollte. Jeder normale Mensch hängt an seinem Leben.“
„Vielleicht sah sie keinen Ausweg mehr, nachdem meine Gemahlin und ich gestern plötzlich hier auftauchten und Lilith mit all ihren eigenen Verbrechen konfrontiert wurde“, antwortete Raimon. „Sie wusste, bei der Beweislage, wäre sie schlimmstenfalls am Galgen geendet.“
„Das ist auch ein Argument“, sagte Armstrong und holte tief Luft. Obwohl er als Arzt weitaus schlimmer aussehende Leichen zu Gesicht bekommen hatte, nahm ihn das Ganze recht heftig mit. Er wandte sich dem Richter zu. „Ich schreibe Euch dann den Namen und die Adresse des Apothekers in London auf. Erkundigt Euch bei ihm, was er Mistress Lilith verkauft hat. Er wird Euch auch meinen Verdacht bestätigen. Es kann nicht anders gewesen sein.“
„Ich danke Euch recht herzlich“, erwiderte Henri für die erfolgreiche Mitarbeit.
„Nichts zu danken. Wir arbeiteten doch bisher immer gut zusammen und haben manch unmöglichen Fall gelöst. Diese Sache hier gemeinsam aufzulösen, war Ehrensache.“ Der beleibte Arzt verbeugte sich kurz. Dann verabschiedete er sich. Seine Aufgabe war erledigt.