Wie von Teufeln gehetzt ritt Milo auf seinem Pferd durch die Dunkelheit nach Trowbridge. Es war Neumond und stockfinster. Der Mann betete inbrünstig, sich bei dem schnellen Ritt nicht den Hals zu brechen. Mistress Sally hatte ihn gebeten, umgehend in die Stadt zu reiten, um bei Mister Henri Richardson, dem Richter von Trowbridge vorzusprechen und ihm ihr Anliegen zu unterbreiten. Milo hatte die junge Mistress erst vor ein paar Stunden kennengelernt. Er fand sie viel liebenswürdiger als Lilith Montgomery, seine eigentliche Herrin. So nahm er gerne den nächtlichen Weg auf sich, damit Mistress Sally ihre Anzeige bei Richter Richardson aufgeben konnte.
Der einsame Reiter konnte es immer noch nicht glauben, was Mistress Lilith vorgeworfen wurde. Sie sollte ihren Gatten Adrian umgebracht, außerdem dessen Tochter entführt haben. Natürlich nicht durch ihre eigene Hand, sondern durch Ganoven, die sie dafür bezahlt haben sollte. Die wären allerdings bereits über alle Berge, wie die junge Mistress erzählte. Angeblich sollten sie nach Amerika geflohen sein. Milo nahm an, eine Dame wie Sallys Stiefmutter machte sich nicht die Hände schmutzig. Sie ließ lieber andere die Drecksarbeit machen.
Richtig verstand Milo die Zusammenhänge jedoch nicht. Mistress Lilith hatte ihn erst vor Kurzem eingestellt. Daher kannte er die Vorfälle um den Tod ihres Gatten und dem plötzlichen Verschwinden der Stieftochter nur vom Hörensagen. Um so erstaunter war er, als am frühen Abend eine junge Frau auf dem Anwesen erschien, die sich als Sally Montgomery ausgab. Diese Frau und ein sehr suspekter Herr, der sie begleitete, begaben sich kurz nach ihrer Ankunft zu Mistress Lilith. Milo lauschte heimlich vor dem Fenster und konnte so mehr erfahren. Nach einer recht kurzen Debatte wurde Milos Herrin vom Butler Walter auf ihr Zimmer gebracht und seitdem strengstens bewacht. Der junge Mann verstand die Welt nicht mehr. Nun sollte er dem Richter Mistress Sallys Botschaft überbringen. Ganz einerlei war es ihm nicht, eine so hohe Amtsperson am späten Abend noch zu stören. Mistress Sally hatte jedoch darauf bestanden, keine Zeit zu verlieren. Daher ritt er sofort los.
Milo kannte sich im Trowbridge inzwischen recht gut aus. Deshalb fand er das Rathaus ohne weiteres. Die Straßen und Gassen der Stadt waren menschenleer, sodass er gut vorankam. Einer der diensthabenden Büttel sagte ihm aber, Mister Richardson befände sich bereits zu Hause, da seine Dienstzeit und Sprechstunde längst beendet wäre. Leider hatte Milo keine Ahnung, wo sich das Haus des Richters befand. Der Büttel erklärte ihm aber gerne den Weg. So saß Milo unverzüglich auf und ritt zum besagten Haus.
Nun stand er ein wenig verlassen davor und haderte mit sich selbst. Ein paar betrunkene Männer taumelten mehr als sie liefen, an ihm vorbei. Jeden, der ihnen auf ihrem Weg in die Quere kam, pöbelten sie ungehemmt an. So bekam auch Milo ein paar unflätige Worte zu hören und sein Gesicht Besuch von ein paar Fäusten. Allerdings wehrte er sich vehement gegen den Angriff, was einigen Lärm verursachte.
Der Krawall trieb einen Bediensteten des Richters vor die Tür. Laut schimpfend drängte er die Streithähne auseinander. „Elendes besoffenes Pack“, wetterte er. „Fort von hier! Sonst mache ich euch Beine!“
Nachdem der Diener mit einer Peitsche nach ihnen schlug, gaben die beiden betrunkenen Kerle Hackengas. Lachend zeigten sie ihm eine lange Nase und machten sich über ihn lustig. Grölend torkelten sie von dannen, als der Diener sie verfolgte und sie erneut die Peitsche spüren ließ. In gebührendem Abstand blieben sie aber stehen und beleidigten den Mann mit Schimpfworten.
Gerade wollte er die Kerle erneut verfolgen, als ihn Milo am Ärmel festhielt. „So wartet doch“, rief der Knecht aus. „Ich suche den Richter Richardson. Bin ich hier richtig?“ Fragend schaute er den Diener an.
„Was fällt dir ein, du elender Wicht!“, fuhr der Lakai Milo an und hob die Peitsche, um den angeblichen Angreifer zu schlagen.
„Haltet doch ein!“, wehrte Milo ihn ab. „Ich will Euch nichts tun. Mistress Sally schickte mich mit einer Botschaft zu Richter Richardson.“
Der Arm des Dienstboten schien zu erstarren. Nur die leicht zitternde Peitsche in seiner Hand ließ vermuten, dass er lebte. „Mistress Sally? Kenne ich nicht!“, sagte er abweisend und schüttelte dabei Milos Hand ab. „Wer soll das sein?“ Er drehte sich einfach um und ging ins Haus.
Milo aber war schneller. Geschwind stellte er einen Fuß in die Tür, damit der Mann sie nicht schließen konnte. Es entstand ein kleines Gerangel und erneuter Lärm.
„Gott verdammt noch einmal“, knurrte Henri Richardson in seiner Stube, wo er eben mit seiner Gemahlin und den Kindern zu Abend aß. „Für was hat man Bedienstete, die jedweden Unbill von einem fernhalten sollen. Um alles muss man sich selber kümmern.“ Richardson stand auf, tupfte sich mit seinem Taschentuch Soßenreste von seinem üppigen, inzwischen aber ergrauten Bart ab und begab sich in den Flur, wo der Lärm herkam.
„Percy, gottverflucht, was ist hier los? Was soll dieser Krach?“, dröhnte die erbost klingende Stimme des Hausherrn durch den Flur. „Du sollst dieses Pack fortjagen und nicht mit nach drinnen bringen!“
„Es tut mir leid, Herr. Dieser Kerl lässt sich nicht abschütteln“, jammerte der Diener und zog den Kopf ein.
„Dann frag ihn doch einmal, was er will.“
„Das habe ich bereits“, kam Percys weinerlich klingende Stimme von der Tür her. „Er faselt etwas von einer Mistress Sally, die ihn zu Euch geschickt haben soll. Ich kenne aber keine Dame mit diesem Namen. Er bestand trotzdem darauf, vorgelassen zu werden.“
„Gott verdammt! Dann lass ihn los! Ich kenne zwar auch keine Mistress Sally, aber er wird sich mir gegenüber schon zu erklären wissen“, schimpfte der Richter.
Percy ließ den zappelnden und zeternden Milo los. Richter Richardson kam zur Tür und schob seinen Diener beiseite. „Geh hinein, du Nichtsnutz“, fauchte er ihn an. Percy suchte lieber das Weite und war froh, aus der Reichweite der recht locker sitzenden Hand seines Herrn entkommen zu können.
„Was willst du? Ich hoffe, du hast einen guten Grund, mich zu stören“, fuhr der Richter Milo genervt an. „Es ist bereits Nacht. Da stört man ohne triftiges Motiv keine ehrbaren Leute!“
„Entschuldigt, Sire“, erwiderte Milo unterwürfig und verbeugte sich vor dem Mann. „Mistress Sally schickt mich in einer wichtigen Angelegenheit zu Euch. Diese Begebenheit duldet keinen Aufschub. Daher wagte ich es, Euch um diese Zeit zu belästigen.“
„Ich kenne keine Mistress Sally“, blaffte der Richter Milo an.
„Mistress Sally ist die Tochter des verstorbenen Adrian Montgomery“, erklärte der Stallknecht.
„Aber die ist doch verschwunden! Wahrscheinlich sogar bereits tot“, stieß der Richter erstaunt aus.
„Die Mistress reiste heute mit ihrem Gemahl, zwei weiteren Frauen, von denen eine ihre Zofe Adelaide sein soll, sowie drei Kindern an. Seitdem geht es im Herrenhaus der Montgomerys hoch her. Mich schickte sie umgehend zu Euch. Ich soll Euch ausrichten, Ihr sollt mit Euren Bütteln zum Anwesen kommen. Es ginge um Mord und Entführung“ Milo zitterte vor Aufregung und harrte der Dinge, die kommen sollten.
„Du lügst mich nicht an?“, fragte Richardson streng. „Ich lasse dir die Zunge herausschneiden, wenn du mich an der Nase herum geführt haben solltest“, drohte er noch.
„Nein, Herr. Ich lüge Euch keinesfalls an. Ich bitte Euch inbrünstig, kommt mit den Bütteln zu Mistress Sally. Sie wird es Euch bestätigen, dass ich die Wahrheit gesagt habe. Es ist wirklich sehr wichtig.“
Der Richter schaute den Mann vor sich ernst blickend an. Der schien wirklich die Wahrheit zu sprechen. „Nun gut“, sagte Richardson. „Ich will dir glauben. Aber wehe dir…“ Er hielt kurz inne, ob er noch mehr drohen sollte, unterließ es dann aber. „Gehe vor und kündige mich an“, befahl er dem Stallknecht.
„Das werde ich sofort tun, Sire“, erwiderte Milo erleichtert. „Wie Ihr es wünscht, werde ich vorreiten“, sprach er weiter und eilte, nicht ohne sich vorher nochmals zu verbeugen, zu seinem Pferd.
„Percy, meinen Umhang und meinen Hut“, rief der Richter seinem Diener zu, nachdem er die Haustür geschlossen hatte.
„Sofort, Herr“, katzbuckelte der Mann.
„Halt, warte! Gehe lieber erst zum Rathaus und richte den Bütteln aus, sie haben sich unverzüglich bei mir einzufinden. Bringt den Schinderkarren mit.“
„Jawohl, Herr“, erwiderte Percy und verließ geschwind das Haus in Richtung Rathaus.
Nachdem Percy wie ein aufgeschrecktes Tier davon geeilt war, rief Henri Richardson nach seiner Gattin. Die kam aus der guten Stube, wo sie das Abendessen mit den Kindern fortgesetzt hatte. „Ich gehe noch einmal weg. Warte nicht auf mich“ erklärte Henri ihr. „Später. Jetzt habe ich keine Zeit“, winkte er ab, als seine Gemahlin den Grund seines Ausgehens nachfragen wollte. „Bringe mir lieber meinen Umhang und den Hut“, befahl er ihr. Danach rief er nach dem Knecht, damit dieser ihm sein Pferd sattelt.
Percy kam recht schnell aus dem Rathaus zurück. „Eure Büttel warten mit dem Karren am Stadttor auf Euch“, berichtete er außer Atem.
„Ich hatte zwar etwas anderes befohlen“, erwiderte der Richter. „Aber auch gut. Da es eilig ist, will ich gnädig darüber hinwegsehen.“ Er stieg auf sein Pferd, das sein Knecht bereit hielt und ritt davon.
Wie von Percy angekündigt, warteten die beiden Büttel Larry und Vinnie mit dem Schinderkarren am Stadttor. Ohne weiteren Aufenthalt machten sich die Männer auf den Weg zum Anwesen der Montgomerys, wo sie von Sally und deren Gatten bereits sehnsüchtig erwartet wurden.