Die Wochen vergingen ohne weitere Vorkommnisse. Sally hatte sich damit abgefunden, im Hause des Henkers zu leben. Obwohl sie anfangs davon gar nicht begeistert war, musste sie sich sogar eingestehen, dass sie sich dort wohler fühlte, als sie anfangs angenommen hatte. Raimon war eine sehr umgängliche Person, mit dem sie gut zurecht kam. Sie hatte sich an den stillen Mann gewöhnt, als den sie Raimon kennenlernen durfte. Sie erlebte ihn meist in sich gekehrt, vor allem, wenn eine Leibstrafe anstand. Dann zog er sich schon Tage vorher zurück und schien mit seinem Beruf zu hadern. Sally fragte lieber nicht. Sie spürte, dass Raimon dann allein sein wollte und die Anwesenheit eines anderen Menschen nicht ertrug. Erst wenn der Termin vorbei war, war der Henker wie ausgewechselt und lachte viel.
Als wäre es selbstverständlich, verrichtete Sally die tägliche Hausarbeit im Henkerhaus. Es tat ihr gut, etwas zu tun zu haben und nicht untätig herumsitzen zu müssen. War wieder eine Arbeit erledigt, fühlte sie sich gut und freute sich still, wenn Raimon sie lobte. Nur noch ganz wenig dachte sie an zu Hause oder an das Hurenhaus. Diese beiden Dinge waren vorbei und würden sie wohl nie wieder belasten.
Während der Wochen war Raimon mehrmals im Hurenhaus, um sich dort umzusehen. Die Aufregung um Aelfrics Tod war allmählich abgeklungen. Nach dessen Beerdigung, um die sich Rodney kümmerte, war das Gedenken an den Verstorbenen wie vergessen. Nur Sally machte sich immer noch Vorwürfe, ihm das Leben genommen zu haben. Doch wenn Sabrin, die ihr eine gute Freundin geworden war, sie besuchte, waren alle Sorgen vergessen.
Im Hurenhaus wurde nur noch ganz selten über Aelfric gesprochen. Nur Edwina bemühte sich, die Erinnerung an ihn aufrecht zu erhalten. Die meisten sprachen längst nicht mehr mit diesem Hass über Sally wie kurz nach Aelfrics Ableben. Alle waren überzeugt, dass die geflohene Dirne ihn ermordet hatte. Doch die war wie vom Erdboden verschluckt und nirgends auffindbar.
Rodney hatte inzwischen Aelfrics Posten im Hurenhaus übernommen. Raimon hätte zwar lieber einen anderen Bewerber an seiner Stelle gesehen, Rodney aber hatte alle anderen höchstbietend übertrumpft. Nun herrschte er mit Gewalt über die Dirnen, die in seinem Bordell arbeiteten. Schon mehrere Male waren von ihm misshandelte Frauen zu Raimon gekommen, um Verletzungen behandeln zu lassen. Meist waren das Blutergüsse oder Verletzungen, die er ihren während einer Vergewaltigung zugefügt hatte. Außer Sabrin, die Sally in ihrer Not zu Raimon gebracht hatte, bekam jedoch keine der Huren die Geflohene zu Gesicht. Obwohl Rodney nun mehr denn je auf seine Vögelchen aufpasste, gelang es Sabrin mehrmals, sich heimlich ins Henkerhaus zu schleichen. Jedes Mal fielen sich die Frauen lachend und voller Freude um den Hals. Sally war jede noch so kleine Ablenkung recht.
Eines Tages jedoch kam Sabrin völlig aufgelöst ins Henkershaus gelaufen. Außer Atem stürmte sie in die Stube, wo Sally am Feuer stand und sich um das Essen kümmerte. Neugierig blickte sie der Freundin entgegen.
„Was ist los?“, fragte sie Sabrin. „Du siehst aus, als ob du dem Teufel persönlich begegnet wärst.“
„Eigentlich nicht. Es sei denn, du bezeichnest Rodney als Teufel“, erwiderte Sabrin außer Atem.
„Also doch! Erzähle endlich, warum du so abgehetzt angerannt kommst.“
„Rodney weiß, wo du bist“, platzte Sabrin heraus.
Sally wurde blass. Ihr Herz schlug so hart, dass sie annehmen musste, es hüpfe ihr aus der Brust. „Woher weiß er, wo ich bin?“, fragte sie. Sollte es nun soweit sein, dass sie die Strafe für ihre schändliche Tat bekam?
„Lani, diese falsche Schlange!“, erwiderte Sabrin.
„Wie kommt sie darauf, mich hier zu vermuten?“
„Sie hat mich letztens gesehen, als wir uns hier vor der Tür verabschiedet haben“, antwortete die Freundin.
„Ich wusste es. Irgendwann wähnen wir uns zu sehr in Sicherheit und werden nachlässig“, erkannte Sally. „Was tun wir jetzt?“
„Unvorsichtig ist wohl wirklich das richtige Wort für unser Tun. Und ich war somit erpressbar.“
„Erpressbar?“, fragte Sally.
„Lani verlangte Schweigegeld von mir. Als ich mich weigerte, zu zahlen, lief sie kurzerhand zu Rodney und hat ihm alles haarklein präsentiert. Nun sonnt sie sich in ihrem Ruhm, dich gefunden zu haben. Mal sehen, wie lange Rodney gut zu ihr ist. Spätestens wenn er sie erneut misshandelt, redet sie wieder schlecht von ihm.“
„Auch noch Rodney!“, seufzte Sally verzweifelt.
„Du sagst es. Was sollen wir nun bloß tun?“ Sabrin war genauso verzweifelt wie Sally. Am meisten warf sie sich vor, dass diese gerade durch sie erneut in Gefahr war. „Wo ist eigentlich Raimon? Er weiß bestimmt einen Ausweg. So wie ich Rodney kenne, wird er sich bald auf den Weg hierher machen und dich holen. Wenn er nicht sogar schon bald hier ist. Was dir dann blüht, daran wage ich gar nicht zu denken. Also, wo ist der Henker!“
„Draußen im Hof, Feuerholz hacken“, erwiderte Sally und nahm den Topf vom Feuer.
Schwungvoll holte Raimon mit seiner Axt aus und teilte das Holz in kleine Stücke. Sein nackter Oberkörper glänzte vor Schweiß. Normalerweise brachte ihn Arbeit wie Holz hacken nicht ins Schwitzen. Doch heute war es ungewöhnlich warm und schwül. Das Haar klebte wirr an seinem Kopf. Eben wollte er erneut ausholen, als er die Frauen bemerkte. Er konnte sofort erkennen, dass sie etwas auf dem Herzen hatten und legte das Beil zur Seite.
„Was ist los? Ihr seid so ernst“, fragte er die beiden.
„Wir sind aufgeflogen“, antwortete Sally ganz gelassen, als wäre es das Natürlichste, in seinem Versteck entdeckt worden zu sein.
„Wie konnte das passieren? Wir waren doch immer sehr vorsichtig. Du warst nie auf der Straße, so dass dich auch niemand sehen konnte.“ Raimon verstand die Welt nicht mehr.
„Wahrscheinlich waren wir nicht vorsichtig genug“, erwiderte Sally. „Sabrin, erzähle du, was vorgefallen ist“, wandte sie sich an ihre Freundin.
Sabrin konnte es immer noch nicht glauben, dass durch ihre Schuld das Versteck ihrer Freundin entdeckt wurde.
„Nun sag schon!“ Raimon wurde ungeduldig, da das Mädchen immer noch nicht mit der Sprache herausrückte. Doch dann raffte sie sich endlich zusammen und berichtete dem Henker haarklein, was vorgefallen war.
„Ich nehme an, Rodney wird heute noch hier auftauchen. Er war noch nie der Mann, der etwas auf die lange Bank schiebt“, meinte Raimon, als Sabrin geendet hatte. „Wir müssen sofort handeln, ehe es zu spät ist.“ Raimon nahm sein Hemd und zog es über.
„Was hast du vor?“, wollte Sally wissen, als sie sich im Haus an den Tisch setzten.
„Ich denke, wir müssen schneller handeln, als uns lieb ist“, sagte Raimon noch einmal. „Am besten ist, ich bringe dich gleich hier weg. In Dover habe ich einen Bruder. Delmore hat bestimmt nichts gegen einen Gehilfen auf seinem Hof.“ Raimon grinste schelmisch über seinen spontanen Einfall. Er ging zu einer Truhe, aus der er einige Kleidungsstücke herausnahm. „Hier, das wird dir bestimmt passen“, sagte er, während er Sally Hose, Hemd und Mütze gab. Sogar eine Jacke holte er noch aus den Tiefen der Truhe hervor.
„Du meinst, ich soll Männerkleidung tragen?“ Sally war entsetzt. „Wenn das rauskommt, werde ich ausgepeitscht!“
„Natürlich sollst du das anziehen. Was machst du dir Sorgen darum. Die Männerkleidung ist immer noch besser, als diesem Rodney in die Hände zu fallen. Wir wollen doch nicht, dass dich jemand erkennt.“ Raimon sah Sally von oben bis unten genau an. „Zum Glück hast du nicht viel Busen. Da brauchen wir nur wenig schnüren. Das fällt dann unter dem weiten Hemd nicht auf.“
„Aber ich kann doch nicht…“, wollte Sally protestieren.
„Wenn du nicht noch heute Nacht in Rodneys Hände fallen willst, dann wirst du wohl müssen“, mischte sich nun auch Sabrin ein. Sie hatte sofort verstanden, warum der Henker seinen Schützling verkleiden wollte. „Nun mach schon! Wir haben nicht ewig Zeit!“, drängte sie Sally, sich umzuziehen.
Endlich gab sich Sally geschlagen. Gegen die Argumente von Sabrin und Raimon konnte sie nichts entgegensetzen. Schon bald stand ein hübscher junger Bursche in der Henkerstube.
„Die Haare müssen ab“, sagte Raimon, nachdem er die verwandelte Sally betrachtet hatte. „Deine Lockenpracht passt niemals unter die Mütze. So wird man dich garantiert als Frau erkennen. Aber wenn deine Haare kurz sind…“
„Nein! Niemals!“ Sally weinte fast, da sie ihre geliebte Haarpracht nach ihrer Identität nicht auch noch verlieren wollte. Doch alles Jammern nützte nichts, die Haare mussten ab. Kurz danach strich sie sich entsetzt mit bitteren Tränen in den Augen über ihre neue raspelkurze Frisur. „Ich fühle mich so nackt“, schniefte sie.
„Die wachsen wieder“, versuchte Sabrin sie zu trösten.
„Sieht gut aus, zum Verlieben schön“, scherzte Raimon, worauf er von Sally einen Nasenstüber bekam.
„Untersteh dich, du Wüstling! Ich bin ein Bursche und kein Mädchen“, drohte sie ihm mit erhobenem Zeigefinger. „Wie gefällt dir der Bursche Jamie?“, liebäugelte sie dann aber sogleich mit Sabrin. „Bin ich nicht ein schmucker junger Mann?“
Sabrin lachte. „In dich könnte ich mich sofort verlieben.“ Sie machte ihr schöne Augen und einen Kussmund.
„Genug jetzt!“, riss Raimon die Frauen aus ihrer Spielerei. „Wir sollten so bald wie möglich aufbrechen, damit wir vor Einbruch der Dunkelheit noch weit genug von der Stadt entfernt unser Nachtlager aufschlagen können.“ Raimon packte Brot, Käse und Speck in ein Tuch. Seinen Trinkschlauch füllte er noch mit frischem Brunnenwasser. Währenddessen rollte Sally zwei Decken zusammen und packte noch Zunder ein, damit sie zum Notfall auch ein Feuer entfachen konnten. Dann war auch schon die Zeit des Abschieds gekommen.
Unter Tränen sagten sich Sally und Sabrin Lebewohl. Mit wehem Herzen sah Sabrin den beiden Gestalten nach, eine groß und stämmig wie eine Eiche, die andere lang und dünne wie eine biegsame Pappel.
„Ob ich Sally jemals wiedersehe?“, seufzte sie, schloss die Tür des Henkerhauses hinter sich und machte sich auf den Weg zurück ins Hurenhaus.
Zitternd stand Lani im Bordell in der Küche. Rodney hatte sie grob am Arm gepackt und schrie sie an. „Warum hast du mir nicht eher Bescheid gegeben. Die Hure Sally könnte inzwischen über alle Berge sein!“
„Warum sollte sie? Sie wiegt sich in Sicherheit“, erwiderte Lani. Dass sie Sally schon vor längerer Zeit am Henkerhaus mit Sabrin gesehen und sie deswegen erpresst hatte, sagte sie lieber nicht. Blöd war nun nur, Rodney zürnte ihr, weil sie ihm ihr Wissen verschwieg und Sabrin, die eigentlich ihre Freundin war, ebenfalls. Nur aus dem Grund der Erpressung. „Sei doch froh, dass du jetzt wenigstens weißt, wo Sally ist. Auf das Haus des Henkers wärst du nie gekommen!“ Lani spielte mit dem Feuer. Rodney konnte sehr gefährlich werden, wenn er gereizt war.
„Halt dein Maul, du Dirne!“, schrie er sie nun an und schlug ihr mitten ins Gesicht.
Lani fühlte sich, als wäre sie gegen eine Mauer gerannt. Ihr Kopf flog herum und knallte mit voller Wucht gegen den Türpfosten. Sie hörte es knacken, dann ging sie halb ohnmächtig zu Boden. Es wurde warm im Gesicht. Aus der Wunde, die sie sich durch den Aufprall zugezogen hatte, blutete es.
Die Männer, alles Rodneys Kumpane, grölten vor Freude. „Gib es dieser Hure! Solche Weiber haben es nicht anders verdient, als verprügelt zu werden!“, spornten sie Rodney sogar noch an.
„Schnauze! Soll ich die vielleicht noch totschlagen?“, knurrte Rodney seine Kameraden an. „Ich kann mich später noch an ihr gütlich tun. Wenn sie mich angelogen haben sollte, wird sie das ihren Lebtag lang bereuen! Dann blüht ihr mehr als nur eine Tracht Prügel!“ Er zeigte auf die wimmernde Lani, die immer noch tränenüberströmt am Boden hockte. „Dann wird sie meinen besonderen Prügel zu spüren bekommen.“ Rodney griff sich in den Schritt und machte obszöne Bewegungen mit der Hüfte. Die anderen verstanden und grölten noch lauter.
„Was gibt es hier zu lachen?“ Edwina, vom Geschrei der Männer angezogen, war in die Küche gekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Wenn Rodney seine Kumpane um sich scharte, ging das nie gut aus.
„Das geht dich gar nichts an, Alte! Bring lieber frischen Branntwein. Aber den Guten und nicht das eklige Gesöff wie vorhin“, fuhr Rodney sie an. „Erst den Branntwein“, scheuchte er die alte Frau weg, als diese erst nach Lani sehen wollte.
Edwina trollte sich lieber, ehe sie selbst noch Schläge von dem wütenden Rodney oder einem seiner Kumpane bezog. Aelfric war zwar auch nicht immer gut zu seinen Mädchen, aber so viele Schläge wie jetzt bei Rodney hatte es bei ihm nie gegeben.
Endlich brachte Edwina den Branntwein. Gierig stürzten sich die Männer auf den Schnaps. Auf Lani, die sie ängstlich beobachtete, achteten sie nun nicht mehr.
„Komm mit“, sagte Edwina zu ihr und half ihr auf. Taumelnd hielt sich Lani am Türpfosten fest. Ihr wurde übel, alles um sie herum drehte sich, als hätte sie zu viel von Edwinas selbstgebrautem Bier getrunken.
„Nimm die Hure lieber mit“, rief Rodney laut. „Nicht, dass die uns hier noch alles vollkotzt. Ich kümmere mich später noch einmal um sie.“
Zornig sah Edwina den Mann an. „Wenn Aelfric wüsste, wie du mit seinen Mädchen umgehst. Er würde sich im Grabe umdrehen.“
„Pah, Aelfric! Der kann mir gar nichts mehr“, erwiderte Rodney lachend. „Mit seinen Weibern ist er viel zu feinfühlig umgegangen. Hübschlerinnen müssen mit harter Hand geführt werden, sonst werden sie aufmüpfig. Er war ein großer Versager. Wäre er Manns genug gewesen, würden ihn jetzt nicht die Maden fressen.“ Rodney lachte noch lauter, dass es Edwina schmerzhaft in den Ohren klingelte. Seine Freunde stimmten mit ein.
Die alte Frau schüttelte nur angewidert ihren Kopf. Wie konnte ein Mensch nur so gefühllos sein?
„Was stehst du noch hier rum? Mache lieber endlich deine Arbeit!“, knurrte der frisch gebackene Hurenwirt. Dabei wedelte er mit den Händen, als würde er einen Schwarm Fliegen verscheuchen wollen.
„Komm Kleine, ich versorge erst einmal deine Wunde“, sagte Edwina zu Lani und hielt sie am Arm fest. Damit verließ sie den verhassten Rodney und seine Kumpane. Doch ihren Unmut Lani gegenüber zu äußern, unterließ sie lieber. Immerhin hatte sie eine der Ihrigen verraten und Edwina hasste Verräter wie die Pest.
Nachdem die Frauen die Tür hinter sich geschlossen hatten, widmeten sich die Männer erneut dem Branntwein. Sie tranken den Alkohol wie Wasser und bald zeigte dies seine Wirkung.