Ganz einerlei war es Raimon nicht, Sally von seiner Vergangenheit zu erzählen. Auch wenn es schon lange her war, dass seine Frau und seine Kinder gestorben waren, schmerzte es ihn noch immer. Daher zögerte er ein wenig. Doch er musste auch zugeben, dass er seine Trauer im Laufe der Zeit nahezu überwunden hatte.
Seit Sally bei ihm eingezogen war, hatte er eigentlich nur noch sehr selten an seine verstorbenen Liebsten denken müssen. Erst als sie gezwungen wurden, Hals über Kopf aus Exmouth zu fliehen und er die Idee mit der Verkleidung hatte, bohrte sich der Schmerz des Verlustes erneut tief in sein Fleisch. Sally in den Kleidern seines Sohnes zu sehen, war für ihn schlimmer als jede noch so grausame Tortur, die er bei seinen Delinquenten auf Geheiß der Obrigkeit durchführen musste. Aber um die Frau vor Rodney und seinen zwielichtigen Kumpanen zu retten, tat er alles ihm Mögliche.
Sally bemerkte Raimons Zaudern. Sie griff über den Tisch hinweg nach seinen Händen. „Es fällt dir schwer, darüber zu sprechen“, sagte sie zu dem Scharfrichter, der darauf nur nickte. „Du musst nicht, wenn es dich zu sehr schmerzt“, bot Sally ihm an. „Erzähle es mir irgendwann. Ich kann warten.“
„Nein, lass mal gut sein“, wehrte Raimon ab. „Du solltest sowieso davon erfahren. Warum also nicht jetzt?“
„Wie du meinst. Ich will dich nicht daran hindern. Ich höre dir gerne zu. Aber sag bitte, wenn es dir zu viel wird. Ich möchte nicht, dass du leidest“, erwiderte Sally. Sie lehnte sich zurück und sah den Henker erwartungsvoll an.
„Wie du weißt, bin ich Witwer“, begann Raimon nun ohne Umschweife, nachdem er Sally gebeten hatte, ihn möglichst nicht zu unterbrechen. „Meine Frau war mein Ein und Alles. Ich liebte sie sehr, obwohl unsere Ehe anfangs unter keinem besonders guten Stern stand. Ihre Eltern waren gegen eine Heirat. Sie wollten ihre Tochter lieber mit einem Mann vermählen, der in ihren Augen standesgemäßer war. Ich war ja nur ein Henker, ein Mensch auf der untersten Stufe der Stände der Stadt Exmouth.
Dabei waren sie auch nur einfache Weber. Die Mutter meiner Gemahlin arbeitete als Dirne, bevor sie Margareths Vater heiratete. Gerade sie gebärdete sich wie eine Wilde, als wir ihr gestanden, dass wir uns liebten und heiraten wollten. Dabei gehörte sie vor langer Zeit selbst dem untersten Stand an, übte sogar einen unehrenhaften Beruf aus, genauso wie ich. Sie tat es, weil sie es wollte. Ich dagegen rutschte ohne es zu wollen hinein.“
Sally bemerkte an Raimons Tonfall, wie sehr er sich anstrengen musste, ihr alles zu erzählen. Als sie ihm erneut sagen wollte, dass er nicht weiter berichten müsste, winkte er nur ab.
„Margareth und ich waren auf uns allein gestellt. Meine Mutter und ihr zweiter Ehemann lebten hier in Dover, meine Großeltern waren längst verstorben. Sie hatte mir das Haus vererbt, in dem du Zuflucht gefunden hast. Margareths Eltern taten alles, um ihre Tochter zurück zu holen und sie mit einem anderen Mann zu vermählen. Ihre Tochter blieb aber standhaft und ließ auch die Drohungen, die die Eltern ausstießen, an sich abprallen. Erst nachdem wir geheiratet hatten und Margareth mit Bilke schwanger war, gaben sie auf. Wer wollte schon eine Frau, die das Balg eines Henkers austrug.
Bilke kam gesund und munter zur Welt, Margareth überstand die Geburt bestens und erholte sich schnell davon. Zwei Jahre später folgte Gideon, genau so gesund und munter wie unsere Tochter. Die Kinder wuchsen und gediehen prächtig. Nur über eins waren wir sehr unglücklich: Margareth wurde nie wieder schwanger. Als Gideon zehn Jahre alt war, gaben wir es auf, auf weiteren Nachwuchs zu hoffen. Die ganzen Jahre waren meine Frau und ich glücklich.
Bis zu dem Tag, an dem meine Gemahlin erkrankte. Als Scharfrichter hatte ich Kenntnisse über Krankheiten und deren Behandlung. Margareth klagte bereits einige Tage über Müdigkeit und Appetitlosigkeit. Nachts schwitzte sie so stark, dass sie ihr Nachtgewand mehrmals wechseln musste. Anfangs nahmen wir an, es handele sich nur um eine vorübergehende Unpässlichkeit und hofften sogar, dass sie endlich in anderen Umständen war. Aber da irrten wir uns gewaltig. Als dann Husten dazu kam und wenig später blutiger Auswurf, war mir klar, dass Margareth unter Schwindsucht litt*.
Obwohl ich alles mir Mögliche tat, meiner Frau konnte ich nicht helfen. Zu allem Übel steckten sich auch noch die Kinder an. Auch bei ihnen gab ich alles. Ich hoffte, betete, bangte. Sogar einen Medicus ließ ich kommen, als ich mir nicht mehr zu helfen wusste. Der aber winkte nur ab und meinte, in unserem Fall könne er nichts mehr für uns tun. Ich solle lieber einen Priester holen. Da wusste ich, ich hatte verloren. Ein paar Tage später starb meine Frau. Doch zum Trauern hatte ich keine Zeit. Die Kinder brauchten mich jetzt nötiger als meine tote Gemahlin. Kaum hatte ich meine Margareth unter die Erde gebracht, verstarben meine Kinder kurz hintereinander. Innerhalb einer Woche hatte ich meine ganze Familie verloren. Meine Tochter wurde gerade mal siebzehn Jahre, mein Sohn war fünfzehn.“
Raimon hatte sichtlich Mühe, seine aufkommende Trauer zu unterdrücken. Obwohl schon einige Jahre vergangen waren, kam es ihm vor, als wäre es erst gestern gewesen.
Auch Sally hatte mit sich zu kämpfen. Der Bericht des Henkers erinnerte sie an ihren Vater, den sie durch eine Intrige ihrer Stiefmutter verloren hatte.
Ohne auf Sallys Reaktion zu achten, sprach Raimon nun weiter. „Ich nehme an, du kannst dir nun denken, wem die Kleidung gehörte, die du getragen hast“, sagte er so leise, dass es Sally kaum verstehen konnte.
„Sie gehörte deinem Sohn“, sagte Sally. In ihrem Hals hatte sich ein riesiger Kloß festgesetzt, der sie arg am Sprechen hinderte. Jetzt wusste sie, warum Raimon ihr gegenüber so lange Abstand hielt. „Es tut mir leid für deine Frau und deine Kinder“, sagte sie zu ihm.
Raimon lächelte sie an. Er wusste, Sallys Anteilnahme war aufrichtig. „Danke mein Liebling“, entgegnete er. „Auch wenn es schmerzt, das Leben geht weiter. Das ist mir nach dem Tod meiner Familie bewusst geworden. Das heißt nicht, dass ich sie vergessen werde. Da drin…“, Raimon klopfte mit seiner Faust auf seinen Brustkorb, „… da drin leben sie alle weiter. Nun bist du an meiner Seite. Und das ist gut so!“
Sally kam es vor, als würde nach langer Nacht endlich die Sonne aufgehen. Obwohl Raimons Erzählung sie sehr nachdenklich gemacht und sie anfangs angenommen hatte, er würde sie nicht aufrichtig lieben, war sie nun vollends davon überzeugt, dass der Henker genau der richtige Mann für sie sei. Dass er vor ihr bereits eine Frau hatte und diese immer noch liebte, war für sie kein Problem. Die ihr unbekannte Frau war seine Vergangenheit und gehörte zu seinem Leben wie sie selbst auch.
„Es ist schon eigenartig“, sagte Sally nach einer Weile. „Da können wir verschiedener nicht sei und trotzdem haben wir so viel gemeinsam. Wir haben Menschen verloren, die wir sehr liebten und sind zu der Erkenntnis gekommen, dass das Leben weitergeht, auch ohne unsere Lieben.“ Sally stand auf und ging um den Tisch herum. Vor Raimon blieb sie stehen und blickte ihn an. „Danke, dass du so ehrlich zu mir gewesen bist“, sagte sie nach einer Weile. „Ich weiß, dass ich deine Frau und deine Kinder nicht ersetzen kann. Aber ich verspreche dir hier vor Gott, ich werde dir eine gute Gemahlin sein. Was Gott zusammenfügt, soll der Mensch nicht scheiden, erklärte mir einmal mein geliebter Vater.“
„Du meinst? Du willst?“, Raimon sprang auf, dass der Stuhl, auf dem er saß, nach hinten kippte und polternd auf die Dielen fiel. „Du willst meine Frau werden?“, brachte der Scharfrichter endlich einen vollständigen Satz heraus. Mit klopfendem Herzen erwartete der Sallys Antwort.
„Endlich hast du es begriffen! Aber ja doch! Ich will!“, erwiderte Sally freudig. Ihr Herz klopfte nicht weniger aufgeregt.
„Oh Sally!“, rief Raimon. Er griff an ihre Taille und wirbelte sie umher. Sally und er lachten vor Freude.
„Wir haben noch so viel zu regeln“, plapperte die Frau aufgeregt, nachdem Raimon sie losgelassen hatte und sie wieder am Tisch saßen, diesmal nebeneinander. „Was denkst du, wo wir heiraten werden? Hier in Dover, oder doch lieber in Exmouth?“
„Gemach, gemach, Liebste“, bremste Raimon Sallys Tatendrang. „Wir haben vorher noch so viel zu regeln und zu erkunden. Wenn das alles geklärt ist, werde ich dich zum Traualtar führen.“
Sally zog eine Schnute. Nichts täte sie lieber, als Raimon sofort zu heiraten. Nach einiger Überlegung gab sie dem Henker recht. „Ich denke, wenn alles im Reinen ist, können wir noch glücklicher in den Hafen der Ehe segeln. Aber eins möchte ich gerne noch wissen.“
Der Henker sah Sally fragend an. „Margareths Eltern, was ist mit denen?“, fragte sie.
Raimon schüttelte nur den Kopf. „Ich war bei ihnen, nachdem Margareth und die Kinder gestorben waren, um ihnen die traurige Nachricht zu überbringen. Sie haben mich nicht einmal empfangen. Sie hätten keine Tochter namens Margareth und auch keine Enkelkinder, ließen sie mich durch einen Knecht wissen.“
Sally saß nur mit weit geöffnetem Mund da. Sie konnte es nicht begreifen, dass Eltern nicht einmal Erbarmen mit ihrer verstorbenen Tochter und deren Kinder haben konnten. Wie kaltherzig müssen solche Menschen sein?
„Er bedauere es auch, sagte der Knecht zu mir“, erzählte Raimon weiter. „Es tut mir leid für dich, für die Kinder und auch für Margareth. Sie war ein gutes Mädchen. Gott habe sie selig, sie und die Kinder.“
Sally hatte Tränen in den Augen, als Raimon geendet hatte. Zärtlich wischte er sie ab. „Sei nicht traurig“, sagte er zu ihr. „Sie werden auch ihre Strafe bekommen, früher oder später. Schauen wir beide nach vorn. Wir zwei haben noch viel vor uns, bevor wir den Bund der Ehe eingehen können.“
Wieder schaute Sally Raimon fragend an. Der lachte verschmitzt. „Wir müssen Delmore und seine Kinder finden“, meinte er. „Dann wartet noch eine Person darauf, bestraft zu werden.“
„Wen willst du bestrafen?“, wollte Sally wissen.
„Deine Stiefmutter“, erwiderte Raimon, „oder siehst du das anders?“