Während Sally sich allein ein wenig fürchtete, strich Raimon auf der Suche nach Wasser durch den Wald. Es war bereits fast dunkel und Eile war angesagt. Allzu lange wollte er die junge Frau nicht ohne Schutz lassen. Auch wenn es im Wald einigermaßen sicher war, man wusste nie, welche Halunken dort in der Nacht unterwegs waren. Sally als Frau war da ein leichtes Opfer, das einfach zu überwältigen war. Das Glück war dem Henker hold. Schon bald spürte er eine kleine Quelle auf, deren kühles und klares Wasser neben einem Stein hervorsprudelte. Hier konnte er die beiden Wasserschläuche füllen. Erleichtert atmete der Henker auf. Nun konnte er sich auf den Rückweg machen.
Als Raimon zum Lagerplatz zurückkam, fand er Sally zusammengerollt in ihre Decke gewickelt und schlafend vor. Obwohl er Hunger hatte, legte auch er sich hin. Essen konnte er später immer noch. Jetzt wollte er die Schlafende möglichst nicht stören. Ihr Weg nach Dover war noch weit. Sie würde ihre Kraft brauchen, um so bald wie möglich am Ziel anzukommen. Nachdenklich starrte Raimon in das dichte Blätterdach über ihrem Lager. Seit Sabrin Sally in ihrer Not zu ihm gebracht hatte und das Mädchen bei ihm lebte, hatte er es in sein Herz geschlossen. Sally war ihm zwar bereits bei seinen Besuchen im Hurenhaus aufgefallen, aber besonders um sie gekümmert hatte er sich nicht. Sie war für ihn eine unter vielen Huren. Er kam als Henker nicht ins Hurenhaus, um sich mit den Frauen zu vergnügen. Seine Aufgabe war es, darauf zu achten, dass die Sperrstunde eingehalten wurde und die Abgaben an die Stadt abzuholen.
Seit Rodney das Hurenhaus übernommen hatte, musste er allerdings schon mehrmals Anzeigen wegen Ruhestörung nachgehen. Rodney und seine Kumpane hielten sich nur wenig an die Vorgaben der Stadt. Sie pöbelten, krakeelten und soffen wie die Löcher. Auch die Dirnen hatten darunter zu leiden. Immer weniger Freier verirrten sich in Rodneys Hurenhaus, das vorher unter Aelfrics Führung recht beliebt gewesen war. Wie lange der neue Hurenwirt unter diesen Voraussetzungen das Bordell noch halten konnte, konnte man sich an fünf Fingern abzählen. Wie gut, dass Sally diesem Moloch entfliehen konnte.
Als Raimon an die neben ihm liegende Frau denken musste, verspürte er ein leichtes Ziehen in der Herzgegend. Hatte er sich womöglich in sie verliebt? Raimon verstand die Welt nicht mehr. Seit seine geliebte Helen und ihre zwei gemeinsamen Kinder an dieser fürchterlichen Schwindsucht gestorben waren, hatte er nie wieder an eine Frau denken können. Zu sehr schmerzte ihn der Verlust seiner Liebsten, auch noch nach so vielen Jahren, die seitdem vergangen waren.
Lächelnd erinnerte er sich an die schöne Zeit, die er mit Helen und seinen Kindern verbringen durfte. Sein Junge, William, den sie einfach nur Will genannt hatten, wäre jetzt fünfzehn Jahre und längst so weit, sein Handwerk zu erlernen. Wie es Brauch war, hätte er eines Tages seine Stelle übernommen. Er wäre jetzt bestimmt schon Geselle. Oder seine Tochter, die ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war, wäre selbst schon Mutter einiger liebenswürdiger Kinder und die Frau seines ersten Gesellen. All das war leider bereits Vergangenheit.
Raimon drehte sich so, dass er Sally anschauen konnte. Ihr Gesicht wurde nur durch das bleiche Mondlicht erhellt, das durch das Blätterdach drang. Die Mütze, die sie trug, war vom Kopf gerutscht. Ihre Haarpracht, die nun einem kurzen Haarschnitt gewichen war, ließ sie fremd aussehen. Trotzdem waren die Gesichtszüge immer noch die Gleichen. Am liebsten hätte Raimon sie zärtlich berührt. Doch dann wäre sie erwacht und er hätte ihr Rede und Antwort stehen müssen, wozu er zwar in der Lage gewesen wäre, aber Sally in Verlegenheit gebracht hätte. Das wollte Raimon keinesfalls. Die junge Frau hatte etwas Besseres verdient, als an einen Henker gebunden zu sein, der nur aufgrund seines Berufes als unehrenhaft galt. So schwer es ihm fiel, Sally war tabu für ihn.
Sally begann sich zu regen. Sie schlug die Augen auf. Raimon erschrak und wäre beinahe auch noch zusammengezuckt. Dabei hatte er nichts getan, was Sallys Ruf geschadet hätte.
Fröstelnd zog die junge Frau die Decke enger um sich. „Ich friere“, flüsterte sie zittern. „Darf ich mit unter deine Decke?“
Raimon fühlte sich plötzlich, als hätte er einen Schlag mitten ins Gesicht bekommen. Was sollte er nun tun? Sally brachte ihn arg in Bedrängnis. Was, wenn sie bemerkte, wie sehr er sie begehrt? Nein, das durfte nicht sein! Er nahm sich vor, sich nichts anmerken zu lassen.
Obwohl Raimon vor Angst am liebsten abgelehnt hätte, rückte er ein wenig näher an Sally heran. Er nahm sie in seine Arme und zog deren Decken über beide.
Sally ging auf Tuchfühlung und kuschelte sich eng an ihn. Wohlig seufzend schloss sie die Augen. „Jetzt wird es wieder wärmer“, flüsterte sie. „Ich wusste gar nicht, wie kalt es nachts werden kann.“
Der Henker lächelte. „Du musstest ja wohl auch nie unter freiem Himmel nächtigen“, sagte er nach einer Weile. „Dass soll jetzt kein Vorwurf sein“, verteidigte er seine Worte.
„Ich weiß“, erwiderte Sally. „Mein Vater hat mich immer wohl behütet“, setzte sie hintenan. Sally seufzte erneut. Krampfhaft versuchte sie, die aufkommenden Tränen zu unterdrücken, was ihr nicht gelang. Zu tief saß der Schmerz über den Verlust ihres geliebten Vaters. Schniefend wollte sie sich wegdrehen, doch Raimon hielt sie fest.
„Du vermisst deinen Vater“, hatte er erkannt.
„Sehr“, entgegnete Sally. „Aber nicht nur ihn, auch meine Freunde, meine Zofe, einfach alle…“
„Wirklich alle?“, hakte der Henker nach.
„Lilith nicht! Die kann bleiben, wo der Pfeffer wächst“, kam nach einer Weile von Sally. „Die kann mir gestohlen bleiben.“
„Was spricht dagegen, nach Hause zurückzukehren?“, wollte Raimon noch einmal wissen, obwohl sie das Thema schon unzählige Male durchgekaut hatten. Er hatte sich während ihrem mühsamen Marsch zwar schon den Mund fusselig geredet. Doch Sally ließ sich nicht überzeugen. Seines Erachtens wäre es besser für sie, zu ihren Freunden zu gehen und dort als Frau zu leben. Stattdessen zog sie mit einem unehrenhaften Henker durch das Land und war auf der Flucht vor einem gewalttätigen Hurenwirt, der ihr ans Leder wollte. Ein Leben als Mann war schon nicht einfach, aber eine als Bursche verkleidete Frau würde es auch nicht leichter haben. Lieber wollte sie mit ihm nach Dover gehen, wo sie auch keine Möglichkeit hatte, aus der Rolle zu schlüpfen und ein Leben als Frau zu führen. Nicht auszudenken, was ihr geschehen würde, wenn die Maskerade auffallen sollte und sie als Frau enttarnt wurde.
„Lassen wir das Thema“, bestimmte Sally barsch und drehte sich abrupt um. So schwer es ihr auch fiel, sie konnte nicht zurück. Der Makel, der nun an ihr haftete, würde nie wieder von ihr abfallen. Da half es auch nicht, dass sie unter Zwang als Hure arbeiten musste.
„Gute Nacht“, sagte Raimon kurz angebunden und schob Sally noch ein Stück seiner Decke in den Rücken, damit sie es warm genug hatte.
Obwohl der Henker rechtschaffend müde war, konnte er nicht einschlafen. Unruhig wälzte er sich von einer auf die andere Seite. Am liebsten hätte er Sally über seine Schulter geworfen und sie eigenhändig nach Dilton Marsh zu ihrer Freundin Genefa Longbird gebracht. So wie er aus Sallys Erzählungen erfahren hatte, war diese Genefa seit Kindesbeinen an Sallys beste Freunde. Doch damit wäre die junge Frau garantiert nicht einverstanden und schneller als man Amen sagen konnte, wieder von dort verschwunden. Er nahm sich vor, diese Genefa als Nächstes aufzusuchen, wenn er von Dover zurück war. Dass Sabrin ihm dabei nicht nur einen Schritt voraus war, ahnte er nicht.
Noch vor dem Morgengrauen waren Sally und Raimon auf den Beinen. Nach einem kurzen Morgenmahl packten sie ihr Bündel und brachen auf. Schweigend gingen sie nebeneinander her. Raimon vermutete, Sally nahm ihm die gestrigen Worte übel und schwieg lieber.
„Vielleicht haben wir heute Glück“, sagte Sally unverhofft.
„Inwiefern?“, fragte Raimon, der aus seinen Gedanken gerissen wurde. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was Sally meinen könnte.
„Hast du nicht zugehört?“, wollte Sally wissen und sah Raimon erstaunt an, als dieser mit dem Kopf schüttelte. So kannte sie den Henker gar nicht. „Vielleicht nimmt uns heute jemand auf seinem Karren mit“, sagte Sally. „Mir graut es davor, noch so viele Tage zu Fuß unterwegs sein zu müssen.“
Mitleidig sah Raimon Sally an. Er erkannte, wie sehr sie sich mit jedem Schritt quälte. Doch helfen konnte er ihr nicht, so sehr er es auch wollte.
Erst am Abend des dritten Tages ihrer Reise hatten sie Glück. Ein Händler aus London kreuzte ihren Weg, als sie in einem Gasthaus Rast machten, um etwas zu essen und dort zu übernachten. Ihr Proviant war längst zur Neige gegangen. Somit waren sie gezwungen, in Rasthäusern einzukehren. Der karge Rest an Beeren am Wegesrand vermochte es nicht, ihren Hunger zu stillen. Wildern mochten sie auch nicht. Die Gefahr, dabei ertappt und an den Lehnsherrn ausgeliefert zu werden, war zu hoch. Auf Wilderei stand immer noch die Todesstrafe. Raimon, obwohl selbst Henker, hatte keine Lust, durch die Hand eines Zunftvetters sein Leben am Galgen baumelnd auszuhauchen.
Außerdem war es nachts ganz plötzlich so kalt geworden. Raimon wollte es Sally daher nicht mehr zumuten, unter freiem Himmel zu nächtigen.
Sally und Raimon saßen an einem Tisch in dem kleinen Rasthaus. Vor sich hatten sie jeder eine Schüssel Eintopf, in den mehr Augen hineinschauten als heraus. Angewidert verzog Sally das Gesicht. „So einen Fraß würde ich nicht mal den Schweinen vorsetzen“, kommentierte sie die Qualität des Essens. „Die Wirtin hat wahrscheinlich das Abwaschwasser als Brühe genommen.“
„Etwas Besseres werden wir hier wohl nicht finden. Es ist das einzige Gasthaus im Ort“, erwiderte Raimon. „Bis zum nächsten Dorf ist es zu Fuß viel zu weit, um es noch vor dem Einbruch der Nacht zu erreichen.“ Der Henker nahm einen Schluck von seinem Bier, das die Wirtin wortlos serviert hatte. „Das Bier ist auch nicht besser“, sagte er und stellte den Becher vor sich ab.
Eben wollte er Sally auf den nächsten Tag vertrösten, an dem sie garantiert ein besseres Gasthaus mit besseren Speisen und Getränken finden würden, als die Tür aufging. Ein einfach gekleideter Herr trat ein, wahrscheinlich ein Handelsmann auf Reisen. Suchend sah er sich um, ehe er zielstrebig auf ihren Tisch zukam und sich ungefragt auf einen der freien Plätze setzte.
Obwohl seine Kleidung recht einfach war, sah man ihm an, dass sein Geldbeutel praller gefüllt war, als man auf den ersten Blick annehmen konnte.
„Ich störe hoffentlich nicht“, sagte der Fremde.
„Nein“, sagte Raimon nur und aß einfach weiter, als würde der Mann unsichtbar sei.
Sally währenddessen beobachtete ihn. Irgendetwas war ihr an ihm unheimlich.
„Wein und etwas zu essen“, rief der Fremde der Wirtin zu, die eben mit mehreren Bierkrügen von einem anderen, vollbesetzten Tisch kam. „Aber nicht den Fraß, den meinen beiden armen Tischnachbarn serviert wurde. Am besten nehmt das gleich mit, ehe sie sich daran noch vergiften. Bringt ihnen das Gleiche wie mir!“
Krachend stellte die Wirtin die Bierkrüge auf dem Tresen ab, dass es verdächtig schepperte. Empört stemmte sie die Hände in die Hüften und plusterte sich auf wie ein aufgeregter Truthahn.
„Geht schon und bringt, was ich bestellt habe!“, knurrte der Fremde sie an und wedelte ungeduldig mit der Hand der Wirtin vor der Nase herum als würde er Fliegen verscheuchen wollen. „Soll ich Euch Beine machen?“, fuhr er sie an, als sie immer noch keine Anstalten machte, sich zu bewegen. Der Fremde sprach ihr viel zu laut. Wie schnell konnten andere Gäste hören, was er sagte, dann wäre der Ruf ihrer Spelunke ruiniert und sie auch.
„Nun macht schon!“, fuhr der Mann sie nochmals an. Erst jetzt stolzierte sie mit hoch erhobenem, aber puterrotem Kopf davon.
„Der habt Ihr es aber gegeben“, rief einer der Gäste und schlug lachend mit der flachen Hand auf die Tischplatte, dass die auf dem Tisch stehenden Krüge bedenklich wackelten. „Das musste mal gesagt werden“, gab ein anderer seinen Senf dazu. „Wenn das hier nicht das einzige Rasthaus weit und breit wäre, würden wir woanders nächtigen. Aber so…“, er zog die Schultern hoch und schüttelte mit dem Kopf.
Der Fremde kümmerte sich nicht weiter um die anderen Gäste, sondern wandte sich nun seinen Tischnachbarn zu. „Ihr seid fremd hier?“, fragte er.
„Ja“, sagte Raimon nur. „Warum fragt Ihr?“, wollte er dann wissen.
„Ich bin öfter auf dieser Strecke unterwegs. Da lernt man die Leute kennen“, erwiderte er. „Edward Windham, Händler aus London“, stellte sich Garrick dann vor. Er war wieder einmal inkognito unterwegs. Daher verkleidete er sich als Händler, da ihn die meisten unter Garrick Moore kannten und ihn verraten könnten.
„Ich bin auf dem Weg nach Dover, um dort Stoffe zu einem Handelsschiff zu bringen, das in ein paar Tagen nach Indien auslaufen wird. Mein Geschäftspartner dort hat englischen Tweed geordert, warum auch immer. In Indien soll es angeblich wärmer als hier sein.“
Sally schaute auf. Hatte sie Dover gehört? „Ihr wollt nach Dover?“, fragte sie nach, worauf sie von Raimon unter dem Tisch einen Tritt gegen das Schienbein bekam. Ehe sie etwas sagen konnte, traf sie der nächste Tritt.
„Ich bin Warren“, log nun auch noch Raimon. „Und dieser aufmüpfige Bursche mit dem losen Mundwerk ist mein jüngster Sohn Jamie. Wir sind ebenfalls auf dem Weg nach Dover.“
„Das trifft sich ja gut“, meinte Garrick lachend. Dass sich hinter Jamie die von ihm gesuchte Sally verbarg, ahnte er nicht.
„Wie lustig“, sprach Sally erneut dazwischen, verstummte aber sofort, als Raimon sie erneut anfuhr.
„Man könnte meinen, mein Sohn ist ein Mädchen. Ständig plappert er dazwischen. Ich muss ihn wohl wieder einmal meinen Gürtel spüren lassen“, meinte er scherzend, worauf Sally ihm einen bösen Blick zuwarf.
„Was führt Euch nach Dover?“, fragte Garrick.
„Ich bringe Jamie zu meinem Bruder. Dessen Weib ist mit seinem besten Knecht durchgebrannt. Er braucht Hilfe auf seinem Hof, bis er einen neuen Knecht gefunden hat. Heutzutage ist es gar nicht so einfach, gute Leute zu finden, denen man auch vertrauen kann.“
„Da sprecht Ihr ein wahres Wort, guter Mann. Ich bin froh, in meinem Kontor einen sehr akkuraten und vertrauenswürdigen Gehilfen zu haben, der mich vertritt, wenn ich selber nicht anwesend sein kann“, erwiderte Garrick. „Aber sagt, wo seid Ihr her? Ihr habt bestimmt schon einen sehr weiten Weg hinter Euch gebracht.“
„Wir sind aus der Gegend von Glouchester“, log Raimon erneut ohne rot zu werden.
„Das ist wirklich sehr weit“, schlussfolgerte Garrick. „Es wäre einfacher gewesen, mit der Postkutsche zu reisen oder das Schiff zu nehmen?“
„Werter Herr, wir sind arme Leute“, wehrte Raimon ab. „Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu Fuß zu gehen und darauf zu hoffen, dass uns jemand auf seinem Karren mitnimmt.“
„Dann ist Euch heute das Glück hold. Ihr könnt gerne mit mir reisen. Wir haben dasselbe Ziel.“
Sally und Raimon sahen sich an, ehe Raimon das Wort ergriff. „Gerne. Es soll Euer Schaden nicht sein“, sagte er und griff nach seinem Geldbeutel, um Garrick ein paar Münzen zu geben.
„Nein, nein“, wehrte dieser ab. „Ich nehme Euch gerne mit. Behaltet Euer Geld. Eure Gesellschaft ist mir Bezahlung genug. Ihr wisst gar nicht, wie lang ein Weg sein kann, wenn man ohne Gesellschaft reisen muss.“
„Wie Ihr meint. Herzlichen Dank“, sagte Raimon zu Garrick. Sally bekam erneut einen heimlichen Tritt. Sie verstand und bedankte sich ebenfalls artig.
Nachdem sie gegessen hatten, saßen sie noch einige Zeit zusammen und plauderten. Dabei sah Sally Garrick immer wieder heimlich an. Ihr Gesicht war vom Wein ein wenig gerötet. Sie fühlte sich etwas beschwipst, was allerdings nicht nur vom Wein kam. Garrick gefiel ihr. Doch als Bursche konnte sie das keinesfalls zugeben. Nach einer Weile begann sie zu gähnen. Raimon sah dies als Zeichen, sich zur Ruhe zu begeben.
„Wir sollten uns langsam schlafen legen“, sagte er. „Ich denke, Ihr wollt zeitig aufbrechen.“
„Ja, sobald es hell wird“, erwiderte Garrick und erhob sich. „Ich habe oben eine Kammer, die reicht für uns drei“, sagte er. „Ihr könnt gerne…“, wollte er seinen neuen Weggefährten anbieten.
„Nein, lasst mal. Wir haben unser Lager in der Scheune, so wie es sich für Bauern auf einer Reise gehört“, wehrte er ab, obwohl er am liebsten angenommen hätte. Er gönnte Sally ein richtiges Bett. Doch konnte er nicht vorsichtig genug sein. Wie schnell konnte ihre Maskerade entdeckt werden. Dieses Risiko wollte er keinesfalls eingehen.
Als Raimon und Sally wenig später ihre Decken im Heu ausgebreitet und ich hingelegt hatten, sagte erst einmal keiner von beiden ein Wort. Sally dachte nach, woher sie den Händler kennen könnte. Er kam ihr bekannt vor. Es fiel ihr aber nichts ein.
„Was hälts du von Mister Windham?“, platzte sie in die aufgekommene Stille.
„Ist ganz in Ordnung, denke ich“, erwiderte Raimon. „Du scheinst ihn zu mögen, so wie du ihn die ganze Zeit angehimmelt hast.“ Raimon lachte leise.
„Wie meinst du das?“, fuhr Sally hoch.
„Du hattest so ein Leuchten in den Augen, deinen Wangen zierte ein zartes Rot, man könnte meinen…“
„Ach hör doch auf! Du spinnst ja!“, tat Sally beleidigt.
„Na, na, na, warum so kratzbürstig“, wehrte Raimon ab. „Ich meinte doch nur, du solltest vorsichtig sei.“
„Ich weiß“, sagte Sally. „Aber nun genug geschwafelt. Ich bin müde, lass uns schlafen. Gute Nacht.“
Am nächsten Morgen waren Sally und Raimon beim ersten Hahnenschrei auf den Beinen. Sie wuschen sich am Brunnen den Schlaf aus den Augen. Obwohl das Wasser eisig war, scheute Sally nicht davor. Heute brauchte sie einen klaren Kopf, um Garrick nicht allzu offensichtlich schöne Augen zu machen. Außerdem freute sie sich, nicht mehr zu Fuß gehen zu müssen. Wenn alles gut ging, wären sie am übernächsten Tag in Dover. Obwohl Raimon dann zurück nach Exmouth musste und sie in Dover bleiben würde, war sie nicht traurig. Sie war somit aus Rodneys Reichweite und in Sicherheit. Vielleicht konnte sie Raimon sogar irgendwann für seine Hilfe vergüten.
Auch Garrick war früh aus den Federn gekrochen. Obwohl er noch unheimlich müde war, hatte er seine Pferde bereits eigenhändig versorgt. Das tat er immer, wenn er auf Reisen war. Nun standen sie angespannt vor dem Gasthaus und scharrten mit den Hufen.
„Aufsitzen, es geht los“, rief Garrick seinen Weggefährten zu, die eben mit ihrem Gepäck aus der Scheune kamen. Die beiden warfen ihre Bündel auf die Ladefläche. Während Raimon sich mit nach vorn auf den Kutschbock setzte, kletterte Sally auf die Ladefläche und machte es sich zwischen den vielen Kisten und Fässern so bequem wie möglich. Schnell schob sie die düsteren Gedanken an ihre letzte Fahrt zwischen Kisten beiseite, deren Ziel Exmouth und die Hölle des Hurenhauses war. Das war vorbei und würde nie wiederkommen. Viel lieber lauschte sie den beiden Männern, die vorn saßen und sich angeregt unterhielten. Doch schon bald war deren Unterhaltung wie ein leises Plätschern eines Gebirgsbaches in der Ferne. Sallys Gedanken flogen währenddessen zu ihren Freunden, zu denen nun auch Sabrin gehörte. Mit jeder zurückgelegten Meile entfernte sie sich immer mehr von den geliebten Menschen, die sie wohl nie wiedersehen würde. Wie nah sie dem Verbindungsglied zwischen ihnen und ihr war, ahnte sie nicht einmal.