Während der Nacht konnte Garrick nicht zur Ruhe kommen. Anstatt zu schlafen, musste er immer wieder an Sally denken, nach der er suchte. Wo mochte sie nur sein? War sie vielleicht sogar schon tot? Sie konnte doch nicht wie vom Erdboden verschluckt sein. Das am Abend Gehörte konnte er fast nicht glauben. Sollte Sally wider Erwarten doch auf einem Sklavenschiff gelandet sein, hatte er ein Problem. Er wollte mal lieber nicht gleich den Teufel an die Wand malen, sondern nur darauf hoffen, das Mädchen so bald wie möglich gesund und munter zu finden.
Am nächsten Morgen hatte der Detektiv einen Plan. Zuerst wollte er nochmals die Äbtissin aufsuchen und ihr sein Wissen präsentieren. Vielleicht gab sie heute mehr von sich preis. Wenn sie von Sallys Entführung wusste, musste sie etwas über deren Verbleib wissen. Danach wollte er zurück und Mistress Lilith aufsuchen. Er konnte nur hoffen, dass diese ihm die Wahrheit sagen würde, wobei er sich bei dieser Frau keine große Hoffnung machte.
Nachdem Garrick sich sein Pferd hatte bringen lassen, machte er sich auf den Weg zum Kloster. Diesmal war das Wetter besser als am Tag zuvor. Sogar die Sonne schaffte es, die letzten Regenwolken beiseite zu schieben. So nutzte er den Weg, sich ein wenig in der Stadt umzusehen. Auf dem Marktplatz tummelten sich noch mehr Menschen als am Abend zuvor. Kaufmannsfrauen mit ihren Töchtern und Mägden im Schlepptau flanierten zwischen den Marktständen und begutachteten die ausgestellten Waren. Ab und an blieben sie stehen, um mit den Händlern um den Preis der Ware zu feilschen. So mancher konnte ein gutes Geschäft machen.
In der Nähe des Brunnens entdeckte Garrick die drei Kerle, die am Abend im Gasthaus an seinem Nebentisch saßen und so laut palaverten, dass er jedes Wort verstehen konnte. Wie zufällig ging er an ihnen vorüber, in der Hoffnung, doch noch etwas Wichtiges aufzuschnappen. Den Hut tief ins Gesicht gezogen, blieb er an einem Stand in direkter Nähe stehen und tat so, als würde er die Auslage begutachten. Aber leider war ihm heute das Glück nicht hold. Die drei Ganoven prahlten nur lauthals mit ihren Eroberungen von letzter Nacht.
Ein wenig enttäuscht wandte sich Garrick ab und bahnte sich eine Gasse durch die Menschenmenge. Er nahm an, zu diesem Zeitpunkt in der Stadt nichts weiter über die Gesuchte zu erfahren. Daher schlug er endlich den Weg zum Kloster ein, wo er die Äbtissin erneut befragen wollte. Er war sich sicher, die Frau wusste mehr als sie zugab.
Als der Detektiv wenig später an die Klosterpforte klopfte, wurde er von der Pförtnerin freundlich in Empfang genommen. Sie beschied ihm, zu warten, damit sie der Äbtissin den Gast melden konnte. Mit watschelnden Schritten entfernte sie sich.
Garrick hatte nun Zeit, sie ein wenig in der Pförtnerloge umzusehen. Er erblickte auf dem Tisch ein dickes in Leder gebundenes Buch. Daneben stand ein Tintenfass und eine fast abgebrannte Talgkerze. Auch eine Schreibfeder lag zum Gebrauch bereit.
Von Natur aus neugierig, blätterte Garrick in dem Buch. Erfreut erkannte er, es wurden Eintragungen über Gäste gemacht. Fein nach Datum sortiert, standen die Namen der Besucher in Reih und Glied aufgeschrieben. Unter dem gestrigen Datum fand er seinen Namen. Nur der Grund des Besuches wurde nicht aufgeführt. Genau wie bei den anderen Besuchern. Garrick hätte am liebsten laut gejubelt. Womöglich konnte er hier in diesem Buch einen Hinweis über Sallys Verbleib finden. Hastig suchte er die Einträge nach dem Tag von Sallys Verschwinden. Jedoch darüber konnte er nichts finden. Dabei hatte er sich bereits so gefreut, einen Schritt weiter zu sein. Enttäuscht klappte der Agent das Buch zu, genau zum richtigen Zeitpunkt.
„Die Äbtissin erwartet Euch in ihrer Zelle“, hörte Garrick die Schwester Pförtnerin sagen.
Erschrocken drehte sich der Mann zur Tür, von wo aus die Nonne ihn lächelnd anblickte. Er hoffte, sie hatte nichts von seiner Tat bemerkt. Wenn doch, ließ sie sich nichts anmerken.
„Herzlichen Dank“, erwiderte Garrick und verbeugte sich galant vor der Frau, die trotz ihres Alters über so viel Höflichkeit ihr gegenüber errötete.
„Ihr findet den Weg?“, fragte sie ihn.
„Ja, das tue ich. Erst gestern wurde ich von der Äbtissin empfangen“, antwortete er und wollte sich entfernen.
„Wartet!“, rief ihm die Nonne hinterher.
Garrick blieb stehen, sah zurück und sie fragend an.
„Ihr werdet das Gesuchte hier nicht finden“, sagte die Schwester Pförtnerin. Dabei lächelte sie den Mann geheimnisvoll an. „Die Äbtissin wird ihr Wissen nicht preisgeben. Seid vorsichtig! Ihr bewegt Euch auf gefährlichem Pflaster.“
Garrick wollte etwas erwidern, doch die Nonne ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Geht jetzt. Ich kann Euch nicht mehr sagen.“ Sie drehte sich um und schloss die Tür des Pförtnerhäuschens hinter sich. Nachdenklich schaute der Kundschafter auf die geschlossene Tür.
Eine Zeit lang stand der Spion gedankenverloren vor der Pförtnerloge, ehe er sich besann, seinen Weg fortzusetzen. Immerhin wartete jetzt die Äbtissin auf ihn, die er ungern noch länger warten ließ.
Wenig später klopfte Garrick an die Tür der Äbtissin Christdora. Auf ihr „Herein“ trat er in deren Zelle und begrüßte die Frau, die in ihrer schwarzen Nonnentracht aussah wie eine Krähe.
„Was führt Euch erneut in meine heiligen Hallen?“, wurde der Agent von ihr gefragt.
„Werte Äbtissin“, begann Garrick nach kurzer Überlegung. „Ich bin mir sicher, Ihr habt gestern nicht die Wahrheit gesprochen.“ Er dachte sich, lieber ohne Umschweife auf den Grund seines Anliegens zu kommen. Das am gestrigen Abend gehörte hatte ihn in eine enorme Spannung versetzt. Er musste unbedingt herausfinden, was wirklich der Wahrheit entsprach.
Entrüstet schaute die Äbtissin den Kundschafter an. „Ihr wagt es, mich der Lüge zu bezichtigen?“, fuhr sie hoch. „Nie und nimmer würde ich solch eine Sünde begehen. Als Äbtissin dieses ehrenwerten Klosters bin ich verpflichtet, einen guten Leumund zu pflegen. Ich muss meinen untergebenen Nonnen ein Vorbild sein. Da wäre eine Lüge auszusprechen ein Fauxpas.“ Während sie ihre Worte Garrick regelrecht entgegen spie, fuchtelte sie aufgeregt mit den Armen.
„Ich bin mir sicher“, entgegnete Garrick selbstbewusst. „Eure gestrigen Worte entsprechen nicht der Wahrheit. Aus sicherer Quelle wurde mir zugetragen, dass Ihr über Miss Montgomerys Verschwinden im Vorfeld genaue Kenntnis hattet“, ließ Garrick die Katze aus dem Sack. „Gebt zu, Ihr steckt mit Mistress Montgomery, der Stiefmutter meiner Gesuchten, unter einer Decke. Außerdem wusstet Ihr von den beiden Gaunern, die die Drecksarbeit machen sollten.“ Dass die beiden zuletzt auf einem Schiff gesichtet wurden, verriet er lieber nicht.
„Das ist doch wohl die Höhe!“, schrie die Äbtissin aufgebracht. „Wie könnt Ihr es wagen!“
Der Detektiv ließ sich vom Ausbruch seines Gegenübers nicht beeindrucken. Innerlich lächelnd schaute er die oberste Nonne des Klosters an. „Ach ja, ehe ich es vergesse. Von Franklin und Henry soll ich Euch herzlichst grüßen. Wenn es wieder einmal so klappt, sind sie Euch gerne wieder zu Diensten.“ Garrick wollte die Finte nutzen, um Äbtissin Christdora gänzlich zu verwirren. Natürlich hatte er die beiden Gauner nicht persönlich gesehen, sondern nur von ihnen gehört. Er erhoffte sich, die Äbtissin dadurch noch mehr aufzubringen, damit sie in ihrer Wut in einem unbedachten Moment die Wahrheit ans Licht brachte. Die richtigen Schlüsse daraus könnte er auch später noch daraus ziehen.
Garricks Plan schien aufzugehen. Die Klosterfrau wurde bleich wie die gekalkte Wand ihrer Zelle. Ihre Mundwinkel sanken nach unten, genau wie ihre Schultern. Aus der vordem energisch auftretenden Frau schien ein ängstlich dreinblickendes kleines Mädchen zu werden.
„Nun, was habt Ihr dazu zu sagen?“, fragte Garrick mit hart klingender Stimme. Er hatte den Zwiespalt der Äbtissin sehr wohl bemerkt und wollte dies nun zu seinem Vorteil nutzen. Als wäre er ungeduldig, lief er in der Zelle auf und ab. Dabei ließ er die Nonne nicht aus den Augen. Diese hielt sehr an sich, um ihre Gedanken zu ordnen und versuchte krampfhaft, wieder klar denken zu können.
„Woher habt Ihr davon Kenntnis? Niemand weiter hier im Kloster außer ich, wusste davon“, fand sie endlich die Worte wieder. Nur zaghaft kamen die Worte über ihre Lippen, als täte sie sich schwer zu sprechen.
„Das ist mein Geheimnis“, entgegnete Garrick. „Es reicht vollkommen aus, wenn Ihr wisst, was ich in Erfahrung gebracht habe.“ Garrick machte eine kurze Pause, um der Äbtissin die Möglichkeit zu geben, sich zu äußern. „Sprecht! Oder ich prügele es aus Euch heraus!“, fuhr er die Frau energisch an, die immer noch schwieg. Normalerweise benahm er sich gegenüber einer Frau gesitteter. Doch seine Geduld war am Ende angekommen.
Christdora sank auf den Hocker, der am Tisch stand. „Setzt Euch“, sagte sie zu Garrick und wies auf den zweiten Hocker im Raum. Als der Spion Platz genommen hatte, schien sich ihr Gemüt ein wenig beruhigt zu haben, so dass sie ohne zu stocken sprechen konnte.
„Das war so“, begann die Äbtissin endlich. „Mistress Montgomery sprach mich bereits vor etwa einem Jahr an und fragte, ob ihre Stieftochter hier im Stift aufgenommen werden könne.“ Die Frau knetete ihre Finger, als könnten diese ihre Erinnerungen auffrischen.
„Ich erkundigte mich erst nicht nach dem Grund ihrer Frage. Die Mistress fing aber von ganz allein an, mir die ganze Geschichte zu erzählen. Wahrscheinlich benötigte sie jemanden, der ihr zuhörte. So sprach sie frei von der Leber weg. Ich hatte, bis sie unangemeldet bei mir erschien, nur von ihr gehört. Nur ihren Gatten, Gott habe ihn selig, kannte ich persönlich. Mistress Lilith berichtete mir, dass sie es leid sei, den Bastard ihres Gemahls täglich sehen zu müssen. Es reichte schon, die Miss wie ein eigenes Kind großziehen zu müssen. Das Mädchen würde sich weigern, obwohl sie bald 20 Jahre alt werden würde, einen Mann zu ehelichen und läge ihrem Vater und somit auch ihr, immer noch auf der Tasche. Dann berichtete sie mir von dem Ultimatum, das sie Miss Sally gestellt hatte und das diese, sowie ihr Gemahl, rigoros ignorierten. Wenn ich gewusst hätte, dass Mistress Montgomery über Leichen geht, um ans Ziel zu kommen, hätte ich mich nie auf sie eingelassen.“
„Wie ging es weiter?“, drängte der Kundschafter die Nonne dazu, weiter zu sprechen. Diese hatte eine kurze Pause gemacht, um ein wenig an ihrem Wein zu nippen.
„Vor kurzem erschien die Mistress erneut höchstpersönlich bei mir. Es wäre nun an der Zeit, Miss Sally hier aufzunehmen und überreichte mir einen Beutel voll Münzen. Als Anzahlung für meine Mühe, meinte sie. Allerdings wäre eine kleine Änderung in ihrem Plan eingetreten. Sie erzählte vom Tod ihres Gatten und dass Sally, nicht wie geplant in zwei Wochen hier eintreffen wird, sondern bereits in der übernächsten Nacht. Ich solle keine Fragen stellen und Sally nur ein paar Tage versteckt halten. Den Nonnen hier sollte ich nichts von unserem unfreiwilligen Gast berichten. Sie würde mit zwei Männern hier anreisen und nach ein paar Tagen würden die Männer wiederkommen, um die Miss abzuholen.“
Erneut nahm die Äbtissin einen Schluck Wein. Das viele Sprechen hatte ihren Mund ausgetrocknet. Nachdem sie nachdenklich in den inzwischen leeren Becher geschaut hatte, sprach sie weiter.
„In der Nacht, in der ich Miss Sally hier erwartete, befahl ich der Schwester Pförtnerin, in ihrer Zelle zu nächtigen. Ihr Dienst würde nicht benötigt, falls doch, würde sie schon hören, wenn jemand an die Pforte klopft. Die Schwester war es gewohnt, nicht zu widersprechen und meine Befehle, ohne Nachfrage auszuführen. Sie tat einfach, was ich von ihr verlangte. So hatte ich freie Hand.“
„Wo sollte Miss Sally während ihres Aufenthaltes hier untergebracht werden?“, fragte Garrick Moore nach.
„Wir haben hier einen tiefen Keller, fast schon ein Verlies, wo sich keine der Nonnen hinunter wagt. Dort habe ich für das Mädchen eine Zelle vorbereitet. Sollte sie dort schreien, würde niemand sie hören. Die Wände sind sehr dick und Fenster gibt es nicht.“
„Ihr habt wahrlich alles genauestens geplant“, gab Garrick zu. „Ich will lieber nicht danach fragen, den Keller sehen zu dürfen. Nicht, dass Ihr auf dumme Gedanken kommt und mich dort höchstpersönlich einsperrt.“
Die Äbtissin wagte auf Garricks Worte ein kleines, schelmisches Lächeln. Genau dies kam ihr in den Sinn. Der Kundschafter schien wohl jeden zu durchschauen und war vorsichtig genug, sich nicht selbst in Gefahr zu bringen.
„Es war also alles für Sallys Ankunft hier vorbereitet“, erklärte die Äbtissin. „Die Nonnen würden nichts bemerken, schreien konnte die Miss nicht, da sie betäubt werden sollte. Ich saß somit die ganze Nacht allein im Pförtnerhäuschen. Doch niemand klopfte an und begehrte um Einlass.“
„Ihr sprecht jetzt die Wahrheit?“, wollte Garrick wissen. Die Aussage der Äbtissin glich der seiner Tischnachbarn. Wenn die sie nicht kannten, ihr Wissen nur von Henry und Franklin hatten und trotzdem das Selbe aussagten, konnte die Frau nur die Wahrheit sprechen.
„So wahr mir Gott helfe. Es ist die reine Wahrheit“, erwiderte Christdora und bekreuzigte sich. „Ihr könnt gerne im ganzen Kloster nachschauen, auch im Keller“, bot sie Garrick an.
„Nein, nein, ich glaube Euch“, erwiderte der Spion. „Aber sagt, habt Ihr jemals wieder etwas von Mistress Montgomery oder den beiden von ihr angeheuerten Handlangern gehört?“
„Nein, bisher noch nicht. Das kommt vielleicht noch. Die Zeit von Sallys Aufenthalt ist noch nicht um. Erst danach wollte die Mistress Männer schicken. Aber vielleicht weiß sie noch gar nicht, dass ihre Stieftochter verschwunden ist.“
„Das könnte gut möglich sein“, sagte Garrick nachdenklich.
„Was wollt Ihr nun tun?“, fragte die Äbtissin.
„Meine nächsten Schritte überlegen“, erwiderte Mister Moore.
„Die wären?“
„Das werde ich gerade Euch auf die Nase binden.“ Garrick lachte. „Ich wäre dumm, wenn ich das täte. Dann ginge Euer nächster Weg zu Mistress Lilith.“
Nun schoss der Nonne die Röte ins Gesicht. Wie konnte es sein, dass dieser impertinente Kerl sie schon wieder durchschaut hatte. Das ging ihres Erachtens nicht mit rechten Dingen zu. „Ich bin froh, endlich mein Gemüt erleichtert zu haben“, bekannte die Äbtissin. „Die Beichte hat mir gut getan. Ich werde in mich gehen und für Miss Sally beten. Ich hoffe, Ihr könnt mir meine Schuld vergeben.“
„Für die Beichte ist Euer Kaplan verantwortlich, nicht ich“, erwiderte Garrick und erhob sich. „Ob Eure Schuld jemals gesühnt oder vergeben wird, das weiß nur Gott.“ Der Mann ging auf die Nonne zu, die sich nun ebenfalls erhoben hatte. „Ich danke Euch für Eure Worte und verzeiht mir für die Grobheit, die ich Euch gegenüber angewandt habe“, sagte er zu der Äbtissin. „Doch nun entschuldigt mich bitte, ich muss nun gehen.“ Galant wie er war, verbeugte sich Garrick und ging zur Tür, um die Zelle der Äbtissin zu verlassen.
„Gott sei mit Euch“, rief ihm Christdora nach.
Als Garrick die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete er erleichtert auf. Das Gespräch mit der Ordensfrau verlief leichter, als er angenommen hatte. Zu leicht, schoss es ihm durch den Kopf. Eine so resolute Person wie die Äbtissin würde niemals so schnell etwas Geheimes auszuplaudern. Während des gestrigen Gesprächs war sie verschlossen wie eine Muschel und widerborstig. Heute jedoch redselig und offen. Warum nur? Versuchte sie, etwas zu vertuschen oder zu verstecken? Garrick Moore musste es herausfinden, und zwar bald, denn Miss Sally schien wahrlich in großer Gefahr zu schweben.