Die Zeit verflog schneller als der Wind. Der unglückliche Tag, an dem Sally, ihr Gemahl Raimon, die Kinder, Edwina und Adelaide in Trowbridge auf dem Anwesen der Montgomerys angekommen waren, lag lange zurück. Fast war er auch vergessen, so wie Liliths Tod. Niemand wollte an diesen Tag erinnert werden.
Sallys Stiefmutter vermisste niemand. Vor allem nicht die Bediensteten des Hauses, die von Adrian Montgomerys Gattin oft ohne Grund drangsaliert wurden. Nach Adrians Tod und Sallys Verschwinden wurde Lilith sogar noch grausamer zu ihren Unterstellten. Sie schien Gefallen daran zu haben, sie grundlos zu quälen und zu schikanieren. Aber keiner wagte es, sich zu wehren. Alle brauchten die Anstellung. Umso glücklicher waren sie, als Sally wieder auftauchte und das Zepter in die Hand nahm.
An Lilith erinnerte nur das Grab, das ganz versteckt in einer Ecke des kleinen Familienfriedhofes lag. Es war ohne jedweden Schmuck und Grabstein. Nur ein unscheinbares hölzernes Kreuz mit ihrem Namen ließ den Friedhofsbesucher wissen, wer hier ruhte.
Sally konnte den Priester nur sehr schwer überzeugen, ihre Stiefmutter in geweihter Erde zu beerdigen. Für ihn war sie eine Selbstmörderin und Sünderin, die durch ihren Freitod nicht im Himmel aufgenommen wird, sondern ewig in der Hölle schmort. Nur mit einer sehr großzügigen Spende an die Kirche ließ er sich dazu bewegen, Lilith die letzte Ehre zu erweisen.
Sabrin und Garrick erlebten auf Sallys Anwesen eine traumhafte Hochzeit. Alle Verwandten, Freunde und Bekannten waren gekommen. Auch Garricks Eltern, beide hochbetagt, ließen es sich nicht nehmen, eigens aus London anzureisen. Sie freuten sich sehr für ihn, als dieser ihnen die freudige Botschaft überbrachte, dass er demnächst heiraten werde. Die Braut ihres längst erwachsenen Sohnes hatten sie bisher noch nicht kennengelernt. Als sie Sabrin am Tag der Vermählung zum ersten Mal sahen, waren sie sofort entzückt von ihr und nahmen sie als ihre Schwiegertochter an. Garrick und Sabrin lebten weiterhin in London, waren aber oft zu Besuch bei den Freunden.
Auch mit Genefa und deren Gatten verband Sally und Raimon eine lebenslange Freundschaft. Die Familien unternahmen viel miteinander, die Kinder wuchsen auf wie Geschwister. Die Genefas Töchter waren wie vernarrt in Sally, während sich Gideon, Genefas Jüngster mehr an Raimon hielt.
Drei Tage nach Sabrins und Garricks Hochzeit, die Gäste waren längst alle abgereist, kam Sally etwa einen Monat vor der Zeit mit zwei Buben nieder. Raimon war außer sich vor Freude über den Nachwuchs. Die Jungen waren sehr klein, zart und kränklich. Alle nahmen an, dass sie die nächsten Tage nicht überleben würden. Doch die Hoffnung starb zuletzt und jeder betete inbrünstig für die Säuglinge. Daher entschloss sich Raimon, sofort den Pfarrer zu holen, damit dieser die Kinder tauft. Die Hebamme aber hielt ihn zurück. In solchen Fällen dürfe sie eine Nottaufe vollziehen, wenn wie bei Sallys Kleinen, angenommen wurde, dass sie kurz nach der Geburt versterben könnten. Sie brauche nur eine Bibel.
Obwohl niemand damit rechnete, dass die Zwillingsjungen beide überlebten, entwickelten sie sich prächtig. Mit jedem Tag, der verstrich, wurden sie kräftiger und gesünder. Schon nach wenigen Wochen konnten die glücklichen Eltern verkünden, das Schlimmste wäre überstanden. Sally, aber auch Raimon vergötterten die zwei und hüteten sie wie ihren Augapfel. Raimons Neffen und die kleine Faylynn standen oft andächtig und staunend an den Wiegen ihrer winzigen Cousins. Die kleinen Wesen waren für sie ein Wunder. Die Kinder wuchsen wie Geschwister auf.
Ein Jahr später verkündete Sally ihrem Gatten, sie wäre erneut schwanger. Raimon fiel aus allen Wolken. Obwohl die Zwillinge alles von ihnen abverlangten und sie ständig auf Trab hielten, freuten sich die werdenden Eltern sehr über die erneute Schwangerschaft. Leider konnte sie das Kind nicht austragen. Bei einem Ausritt stürzte sie vom Pferd und erlitt eine Fehlgeburt. Die junge Frau war danach nicht sie selbst und benötigte noch fast zwei Jahre, um sich zu erholen und den schweren Schicksalsschlag zu verarbeiten. Der Henker kümmerte sich aufopferungsvoll um seine Frau und wich nicht von ihrer Seite.
Edwina, die schnell die gute Seele im Haus geworden war, liebten alle. Für die Kinder der Herrschaften, aber auch der Bediensteten war sie von Anfang an die Großmutter. Der Butler Walter scharwenzelte um Edwina herum wie ein junger liebestoller Bursche. Bei ihm schien der zweite Frühling ausgebrochen zu sein. Nach einiger Zeit konnte Edwina sein heimliches Werben nicht mehr mit ansehen. Sie mochte ihn ebenfalls, nahm einfach das Heft in die Hand und machte Nägel mit Köpfen. Seitdem waren sie ein Paar, wenn auch nicht verheiratet. „Eine alte Vettel wie mich heiratet man nicht mehr“, waren immer die Worte der Frau, wenn sie darauf angesprochen und ihr gesagt wurde, sie lebe in Sünde. Doch Edwina war das egal, auf die Liebe verzichten wollte sie trotzdem nicht. So lebte sie weiter mit Walter in Sünde, aber jeder bei den Montgomerys gönnte ihr es und keiner zerriss sich das Maul.
Nur Adelaide, Sallys kleine Zofe und spätere Kinderfrau blieb unverheiratet. Sie bräuchte keinen Mann und keine andere Familie, ihre wäre hier bei Sally, deren Gatten und den Kindern. Auch wenn sie öfter die Hände über dem Kopf zusammenschlug und schimpfte wie ein Kutscher, wenn die Zwillinge wieder einmal Unsinn machten, oder Faylynn Streiche ausheckte, um sie zu ärgern. Zum Glück hatte sie Rosa, die Tochter der Köchin, die ihr tüchtig unter die Arme griff, wenn die Meute mal wieder nicht zu bändigen und Adelaide einem Nervenzusammenbruch nahe war. So wie Adelaide die Zwillinge umhegte wie ihre eigenen Kinder, versorgte sie liebevoll die drei Mädchen, denen Sally in den nächsten Jahren noch das Leben schenkte.
Travis folgte, als er alt genug war, Garrick Moore nach London und ging bei ihm in die Lehre. Garrick brachte ihm die Kunst des Spionierens bei und schon bald gründeten die beiden eine kleine Kanzlei, die auch größere Aufträge annahm. Barnet, der jüngere und ruhigere der beiden Brüder, blieb auf dem Anwesen der Montgomerys. Er brachte es nicht übers Herz, seinen Onkel zu verlassen. Immerhin sollte er ihm einmal in seinem Beruf folgen. Aber das war inzwischen null und nichtig geworden. Die Montgomerys brauchten einen guten Verwalter, der sich um die Angelegenheiten des Gutes kümmerte. So lernte Barnet von Raimon und den vielen Knechten alles, was ein Verwalter eines großen Anwesens wissen musste.
Als Faylynn fünfzehn Jahre alt war, zog es sie zu „Tante Ophelia“, wie sich Lady Kimberley immer noch nennen ließ. Die inzwischen hochbetagte Dame ließ es sich nicht nehmen, oft bei den Montgomerys zu Besuch zu sein. Obwohl Faylynn bei den Kimberleys gut aufgehoben war, glaubte Sally nicht, dass es dem Mädchen dort gefiel. Lady Ophelia tat alles, damit es Faylynn gut ging und sie lernte, wie sich eine Dame zu benehmen hatte. Aus dem kleinen rotznasigen Mädchen wurde im Laufe der Zeit eine junge Dame, die in der Öffentlichkeit glänzte und so manchem jungen Herrn um ihre lieblichen Finger wickelte. Gab eine Familie einen Ball, war auch Faylynn zur Stelle und tobte sich aus. Lady Ophelia aber passte auf wie ein Wachhund. Immerhin galt es, den Ruf und die Jungfräulichkeit zu bewahren. Leider gelang es ihr nicht, das Mädchen zu bändigen. Faylynn brannte durch mit einem jungen Wanderburschen, den sie in Trowbridge auf dem Markt kennengelernt und in den sie sich Hals über Kopf verliebt hatte. Sie ward nie wieder gesehen. Auch die Suche nach ihr brachte keine Ergebnisse.
Über das Verschwinden ihrer Ziehtochter war Sally sehr lange traurig. Sie fehlte ihr. Aber dann besann sie sich. Sie war sich sicher, ginge es Faylynn schlecht, würde sie ganz bestimmt in den sicheren Schoß der Familie zurückkehren. Leider irrte sie sich.
Raimon und Sally erlebten noch viele ihrer Enkelkinder. Obwohl sie bei den Erstgeborenen eigentlich Großtante und Großonkel waren. Doch für Travis waren Onkel und Tante von Anfang an wie seine Eltern, er liebte sie über alles. So sah es auch die Frau, die er ehelichte und die den Zieheltern ihres Gatten die ersten Enkelkinder bescherte.
Als die Zwillinge alt genug geworden waren, übergaben Sally und Raimon ihnen den Grund und Boden des Anwesens. Eigentlich stände alles dem Älteren der Beiden zu. Sie aber brachten es nicht übers Herz, dass der Jüngere leer ausgehen und vom Almosen seines großen Bruders leben sollte. Die beiden wurden gute Herren, mit Barnet als Verwalter, zu dem sie Bruder sagten.
Es gab erneut eine Hochzeit, dieses Mal gleich eine Doppelte. Die Zwillinge hatten Mädchen gefunden, denen sie sehr zugetan waren. Nach der Vermählung zogen die jungen Frauen ein. Es wurde eng im Herrenhaus. Ein Umbau wurde geplant und realisiert. Leider erlebte Raimon die endgültige Fertigstellung nicht mehr. Der gutmütige Henker schlief 25 Jahre nachdem er Sally kennengelernt hatte, ruhig in deren Armen für immer ein.
Eine Welt brach zusammen für Sally, die die meiste Zeit ihres Lebens an Raimons Seite verbracht hatte. Die Trauer um den geliebten Gatten war groß. Aber Sally hatte nicht lange Zeit, um ihren Liebsten zu weinen. Sie ließ es nicht zu, in Selbstmitleid aufzugehen. Ihre Kinder und Enkelkinder forderten sie tagtäglich, was sie noch sehr lange jung hielt. Raimon aber blieb bis ans Ende ihrer Tage tief in ihrem Herzen verwurzelt. Irgendwann würde sie ihm folgen, dann wären sie wieder beisammen, sagte sie immer.
Ende