Sabrin war froh, Exmouth endlich hinter sich lassen zu können. Ganz einerlei war es ihr aber nicht, Edwina dort zurück zu lassen. Aber die alte Frau, die seit vielen Jahren im Hurenhaus arbeitete, wollte sie nicht begleiten. So musste sie wohl oder übel den Weg nach Dilton Marsh allein gehen, um dort Sallys Freundin Genefa zu finden. Nun hoffte Sabrin, dass Edwina nicht den ganzen Zorn Rodneys auf sich nehmen musste. Der Hurenwirt ließ seine Wut öfter an seinen Mädchen aus. Auch Edwina hatte von ihm nicht nur einmal Prügel bezogen.
Die junge Frau musste an Sally denken, die als Bursche verkleidet mit dem Henker nach Dover unterwegs war. Sabrin musste über den gelungenen Streich lächeln. Rodney tobte bestimmt schon über den Verlust von gleich zwei Dirnen. Die zu ersetzen war bestimmt nicht so einfach. Welches der ehrbaren jungen Mädchen war schon bereit, seinen Körper freiwillig zu verkaufen. Da blieb ihm nur der Weg, auf dem Sally im Hurenhaus gelandet war. Aber was ging sie es an, wie Rodney nun an neue Mädchen kam? „Nach mir die Sintflut. Hauptsache weg von dort“, dachte sie sich. Obwohl sie selbst noch nicht in Sicherheit war, nahm sie nicht an, dass Rodney oder einer seiner Kumpane sie einholen könnte.
Voller Euphorie schritt sie voran. Obwohl sie nicht wusste, wo Dilton Marsh lag, machte sie sich deswegen keine Gedanken. Wozu hatte sie einen Mund, um nach dem Weg zu fragen. Irgendwer würde schon wissen, welche Richtung sie einschlagen musste. Sie konnte sich nur vorstellen, zu Fuß mehrere Tage unterwegs sein zu müssen, bis sie ihr Ziel erreichte.
Sabrin war es nicht gewohnt, allein zu sein. Nicht, dass sie sich ängstigte. Eher war es die Stille, die sie umgab wie ein Kokon. Würde sie nicht ein Lied vor sich hin summen, käme es ihr vor, als ginge sie unter einem Glas, das alle außenstehenden Reize von ihr fernhielt. Eher wurde es ihr langweilig, so gänzlich ohne Begleitung. Sie war bisher nur wenigen Menschen begegnet. Sie traute sich aber nicht, nach dem Weg zu fragen. Alle strebten geschäftig Exmouth zu und schienen es eilig zu haben. Das Risiko wollte sie lieber nicht eingehen, dass einer von den Passanten Rodney durch einen dummen Zufall traf und er somit erfahren konnte, in welche Richtung sie gegangen war. Also blieb ihr vorerst nichts anderes übrig, als sich so schnell wie möglich von der Stadt zu entfernen.
Ab und an schaute Sabrin sich um. Ein gutes Gefühl hatte sie nicht. Vielleicht waren ihr Rodneys Häscher sogar schon auf der Spur. Es gab ganz bestimmt genug Ganoven, die mit ihm unter einer Decke steckten und die sie nicht kannte.
Es kam Sabrin vor, als wäre sie schon ewig unterwegs. Dabei war es erst der zweite Tag, an dem sie durch die Gegend strich und versuchte, den Weg nach Dilton Marsh zu finden. Letzte Nacht hatte sie sich in einem Heuschober verkrochen, um wenigstens einige Stunden schlafen zu können. Trotzdem hatte sie gefroren wie ein junger Hund. Jetzt ärgerte sie sich, dass sie keine Decke, oder wenigstens ihren Mantel mitgenommen hatte. Doch daran konnte sie nun auch nichts mehr ändern.
Die, bei denen sie es dann doch wagte, sich zu erkundigen, waren alles nur Bauern, die ihre Karren zum Markt nach Exmouth zogen. Jeden, den sie gefragt hatte, war aus der direkten Umgebung der Stadt und kannte den kleinen Ort Dilton Marsh nicht einmal.
„Ho, ho, aus dem Weg“, hörte Sabrin es plötzlich hinter sich laut rufen. Peitschen knallten, Pferde wieherten. Im letzten Moment konnte sie beiseite springen, sonst wäre sie von einer prunkvollen Kutsche überrollt worden. Rumpelnd fuhr diese an ihr vorbei.
„Halt, wartet doch!“, rief Sabrin dem Kutscher hinterher. Doch der reagierte nicht. So konnte die junge Frau nur der sich verziehenden Staubwolke hinterher schauen. „Was für ein Mist“, schimpfte Sabrin wie ein Rohrspatz und wischte sich den Staub aus dem Gesicht. „Die wussten garantiert, wie ich Dilton Marsh finden kann.“ Es blieb ihr nichts weiter übrig, als darauf zu hoffen, die richtige Richtung eingeschlagen zu haben.
Der Weg zog sich dahin. Ab und an machte Sabrin Rast, um sich ein wenig auszuruhen oder um etwas zu essen. Inzwischen brannten ihre Füße wie Feuer. Wie gern wäre sie irgendwo sitzen geblieben und hätte sich die Schuhe ausgezogen. Jedoch sah sie davon ab. Als sie das letzte Mal während des Tages ihre Schuhe auszog, musste sie danach barfuß weiterlaufen. Ihre Füße und Knöchel waren so sehr angeschwollen, dass sie die Schuhe nicht mehr anbekam.
Gegen Abend erreichte Sabrin eine Kreuzung. Die Sonne ging bereits langsam unter. Es war Zeit, sich ein Dach über dem Kopf zu suchen. Jedoch war weit und breit weder ein Heuschober noch ein Dorf zu entdecken. Unschlüssig stand sie da und überlegte, welche Richtung sie am besten einschlagen sollte. Sie war müde und hatte eigentlich keine Lust mehr, ihren Weg fortzusetzen. Bald würde es dunkel sein und zu gefährlich, weiter zu gehen. Bis dahin musste sie einen Platz zum schlafen gefunden haben. Sie setzte sich ins Gras und streckte die Füße aus. Am liebsten hätte sie sich hingelegt und geschlafen. Aber hier an einer Kreuzung war dazu ein vollkommen ungeeigneter Platz.
Während sie überlegte, schaute Sabrin sich um. In der Ferne sah sie einen Punkt, der immer größer wurde und näherkam. Nach einer Weile konnte sie ein Pferd mit einem Reiter erkennen. Erfreut sprang Sabrin auf. Vielleicht wusste der Reiter, wie sie nach Dilton Marsh gelangen konnte.
Endlich konnte Sabrin den Entgegenkommenden erkennen. Ein edel gekleideter Herr ritt ihr auf der staubigen Straße entlang. Sie nahm nicht an, dass von diesem Gefahr ausging. Daher wartete sie, bis er auf ihrer Höhe war.
Der Mann sah sie von oben herab an. Der Blick aus seinen dunklen Augen war so durchdringend, dass sich Sabrin am liebsten in einem Mauseloch verkrochen hätte. Trotzdem sah sie nicht beschämt zu Boden. Wer war sie denn, vor einem Unbekannten das graue Mäuschen zu spielen.
„Was starrst du mich so an?“, fragte sie der Mann, während er die Zügel anzog und das Pferd dazu brachte, stehen zu bleiben.
„Entschuldigt, werter Herr“, erwiderte das Mädchen gar nicht schüchtern. „Ich will nach Dilton Marsh und habe mich verlaufen. Könnt Ihr mir den Weg weisen? Kennt Ihr Dilton Marsh?“
Nun ein wenig freundlicher, sah der Mann die einsame Wanderin an. „Da fragst du genau den richtigen“, entgegnete er. „Dilton Marsh ist mein Ziel. Wen möchtest du dort besuchen? Vielleicht deine Verwandtschaft? Dich habe ich dort noch nie gesehen.“
„Ich habe keine Verwandten dort“, erwiderte Sabrin, die den Herrn erstaunt anblickte. „Ich suche eine Dame namens Genefa Longbird, der ich etwas ganz Wichtiges übermitteln muss. Kennt Ihr diese Dame?“
„Was möchtest du denn von der Mistress?“, wollte der Herr wissen, der aufmerksam wurde, als Sabrin den Namen seiner Gattin nannte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Genefa etwas mit einer heruntergekommenen Landstreicherin zu tun hatte.
„Ich wüsste nicht, was Euch das angeht“, meinte Sabrin daraufhin ein wenig hochnäsig. Wo kam sie denn hin, gleich jedem mitzuteilen, welchen Grund ihre Reise nach Dilton Marsh hatte. Da konnte ja jeder kommen.
Der Fremde blieb ruhig. „Die Kleine ist ganz schön keck“, dachte er bei sich. Er musste grinsen. Nur mit Mühe gelang es ihm, nicht laut loszulachen.
„Nun ja“, sagte er nach einer Weile, Sabrin dabei weiterhin angrinsend. „Wenn es um meine Gemahlin geht, dann geht es mich schon etwas an.“
Sabrin wurde blass. Dass sie gerade Mistress Genefas Gatten begegnen würde, hätte sie im Leben nicht gedacht. „Ihr seid wirklich Mistress Genefas Ehemann?“, hakte sie nach. Sie wusste von Sally den Vornamen deren Gemahls und wollte ihn in eine Falle locken, um herauszufinden, ob er sie anlog. „Wie ist Euer Name?“, wollte sie wissen.
„Mein Name ist Rynard Longbird“, antwortete Rynard. „Der Name meiner Gattin ist Genefa Longbird, die unserer gemeinsamen Kinder…“
„Halt, halt, ich glaube Euch!“, unterbrach Sabrin Rynards Redeschwall.
Rynard stieg nun vom Pferd und ging auf Sabrin zu. Er reichte ihr die Hand. „Wie kann ich dir helfen und woher kennst du meine Gattin?“, fragte er nochmals.
„Ich kenne Eure Gattin gar nicht“, gab Sabrin nun zu. „Ich kenne nur eine Freundin Eurer Gattin.“
Neugierig geworden blickte Rynard sie an. „Wer soll denn diese ominöse Freundin sein? Ich wüsste nicht, dass meine Ehefrau Freundinnen deines Standes hat!“ Er blickte Sabrin böse an, an deren Kleid er eben den gelben Streifen entdeckt hatte, der sie als Dirne kennzeichnete.
„Ihr Name ist Elizabeth Susan Montgomery. Sie wird von allen nur Sally genannt, stammt aus Trowbridge und ihr Vater ist vor kurzem verstorben. Reicht das als Beweis?“
Nun war es an Rynard, mit offenem Mund dazustehen und die Frau anzustarren als wäre sie eine Attraktion auf dem Jahrmarkt. Da traf er sich mit einem Freund und auf dem Rückweg lief ihm mir nichts, dir nichts ein Mädchen über den Weg, das zu seiner Gattin wollte. Dann kannte es auch noch die vermisste Sally. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen.
„Das gibt es doch nicht“, stieß Rynard erstaunt aus. „Wir vermissen unsere Freundin bereits seit einigen Monaten. Trotz intensiver Suche konnten wir sie bislang noch nicht finden. Sag, wo ist Sally?“ Rynard war ganz aufgeregt und griff nach Sabrin, um sie zu schütteln.
„Hört sofort auf, mich zu schütteln! Ihr tut mir weh“, wehrte sich Sabrin gegen die grobe Behandlung. Empört stieß sie den Mann von sich.
Erschrocken hielt Rynard inne. „Entschuldige, das wollte ich nicht“, stotterte er und errötete wie ein Jüngling.
„Geht doch“, knurrte Sabrin ihn böse an. Mit solch einem Grobian wollte sie nichts zu tun haben. Lieber suchte sie allein nach Dilton Marsh. Sie drehte sich abrupt um und nahm den Weg, der nach rechts abbog. Ob sie damit erneut die falsche Richtung einschlug, war ihr egal. Da war sie eben ein paar Tage länger unterwegs. Darauf käme es nun auch nicht an, ob sie früher oder später bei Mistress Genefa ankäme.
„So warte doch!“, rief Rynard der Frau hinterher. „Du schlägst die falsche Richtung ein!“ Doch Sabrin reagierte nicht, obwohl sie Rynards Worte gehört hatte. Schnurstracks lief sie gerade aus und beachtete den Mann nicht mehr. „Mädchen, nun bleib doch stehen!“, rief Rynard erneut. „Das kann doch nicht wahr sein“, grummelte er, während er sein Pferd bestieg. Er gab seinem Reittier die Sporen und folgte Sabrin. Als er auf deren Höhe war, zügelte er es.
„Du kannst ruhig noch eine Weile in die falsche Richtung gehen. Mir macht das nichts aus. Ich muss ja nicht laufen. Mein guter Artus trägt mich, wohin ich will.“ Zärtlich tätschelte er seinem Hengst den Hals, der daraufhin schnaubte, als würde er Rynards Worte verstehen. „Artus ist nämlich ein ganz Lieber. Er trägt, wenn es darauf ankommt, auch zwei Personen.“
Als Sabrin immer noch nicht reagierte, sondern geradeaus weiterlief, schüttelte Rynard den Kopf. „Meine Kinder reiten übrigens besonders gern auf meinem guten Artus. Er liebt Kinder… auch Frauen. Besonders meine…“, lockte er weiter. „Übrigens, die wird garantiert sehr traurig sein, wenn sie von mir erfährt, dass ich eine von Sallys Freundinnen getroffen habe, die weiß, wo sie sich befindet. Noch trauriger wird sie sein, dass diese Freundin kein Sterbenswörtchen ihres Wissens preisgeben wollte.“ Verschmitzt grinste Rynard, als er sah, wie Sabrin bei seinen Worten zusammenzuckte. „Sie vermisst ihre Freundin nämlich ungemein und macht sich große Sorgen um sie. Aber nicht nur sie vermisst sie, sondern noch viele ihrer Freunde. Wir vermuten, dass unserer Sally etwas zugestoßen sein muss und können ihr nicht helfen.“ Kopfschüttelnd sah Rynard auf die Frau nieder.
„So ein stures Ding! Was soll ich noch machen, um sie zu erweichen? Mehr, als mich zu entschuldigen über mein Benehmen, kann ich nicht“, dachte er.
„Was denkst du, wie vielen Menschen du mit deiner Nachricht eine Freude machst“, stocherte er weiter. „Bald könnte unsere vermisste Freundin wieder zu Hause sein. Sie vermisst uns ganz bestimmt auch, so wie wir sie. Du willst doch wohl nicht daran schuld sein, dass Sally unglücklich ist und ihr womöglich sogar noch etwas zustößt.“
„Jetzt haltet endlich den Mund“, stieß Sabrin aus. Sie hatte Rynards Geschwafel satt. „Ihr habt gewonnen!“ Keck blickte sie den neben ihr reitenden Mann an. „Also, was ist nun?“, fragte sie mürrisch.
Rynard grinste verschmitzt. Für sein Leben gern wäre er vom Pferd gesprungen und hätte Sabrin umarmt. Aber er wollte nicht wieder von ihr beschuldigt werden, ihr weh zu tun. Er kannte sich gut genug. Immer, wenn er sich freute, konnte er sich kaum beherrschen. So stieg er langsam ab und ging auf die Frau zu. Galant verneigte er sich. Dann schaute er Sabrin an, als wisse er nicht, was zu tun wäre.
Sabrin stemmte die Hände in die Hüften. „War das etwa gelogen und Euer Gaul schafft es gar nicht, eine kleine, zierliche Frau zusätzlich zu Ihnen zu tragen?“, frotzelte sie.
Das konnte Rynard keinesfalls auf sich beruhen lassen. Er baute sich mit vor Stolz geschwollener Brust vor Sabrin auf. „Wenn ich bitten darf, mein GAUL, wie du dich ausdrückst, steht zu deiner Verfügung.“ Er zeigte auf Artur, der sie mit den Hufen scharrend aus großen, mit langen Wimpern umrandeten Augen ansah. „Ich glaube aber eher, du wagst es nicht, auf solch einem edlen Ross zu reiten. Daher werde ich es mir nicht nehmen lassen, mich schützend hinter dich zu setzen. Ich werde gut aufpassen, damit du nicht herunterfallen kannst.“
Sabrin musste laut lachen. War Rynard doch nicht so hochnäsig und eingebildet, wie sie angenommen hatte? „Dann helft mir hoch“, bat sie kokett.
Nichts tat Rynard lieber. Dann schwang er sich hinter der Frau in den Sattel und wendete das Pferd. Er drückte Artur die Fersen in die Seite und los ging es in Richtung Dilton Marsh.