Sally und Raimon mussten sich immer wieder nach dem städtischen Waisenhaus durchfragen. Leider erhielten sie oft genug eine falsche Wegbeschreibung, so dass sie ständig in die Irre liefen und zu guter Letzt gar nicht weiter wussten. Gerade eben standen sie an einem Brunnen und schauten sich suchend um. Hier musste es doch irgendwo sein.
„Guter Mann“, rief Raimon einem Bauern hinterher, der seine Kuh an einem Strick führte. „Wartet bitte mal.“
Der Bauer schaute sich um und erblickte Raimon, der nach ihm gerufen hatte. Langsam kam er näher. „Was wünscht Ihr, werter Herr“, fragte er. Der Kerl mit dem knallroten Hemd war ihm nicht ganz geheuer, auch dessen imposante Größe ließ ihn erschauern. Wenn das mal kein Henker war, der nach ihm rief.
„Guter Mann, wir suchen das städtische Waisenhaus. Leider sind wir bisher noch nicht fündig geworden“, erklärte Raimon dem Bauern.
„Da habt Ihr Glück“, erwiderte der Mann. „Mein Weg führt geradewegs dort vorbei. Wenn Ihr mir folgen mögt, tut es. Eure hübsche Begleitung natürlich auch.“ Gierig starrte er auf Sally, die sich diskret hinter Raimon hielt.
„Recht herzlichen Dank“, entgegnete der Scharfrichter, der den lechzenden Blick des Mannes bemerkt hatte. „Meine Gattin und ich suchen schon eine Weile. Aber immer wieder wurden wir in die Irre geführt. Dabei eilt es, dass wir dort ankommen.“
„Na dann, wenn es eilt, sollten wir gehen“, sagte der Kerl und schlurfte voran. Die Kuh trottete gemächlich hinterher. Sally und Raimon folgten ihnen im selben Tempo, obwohl ihnen die Zeit unter den Nägeln brannte.
Dass Sally die Ehefrau des Riesen war, behagte dem Bauern nicht. Mit der wäre er gerne mal im Heuschober verschwunden. Aber so besser nicht. Er mochte sich lieber nicht mit dem Kerl anlegen.
Der Weg zum Waisenhaus war kürzer, als sie angenommen hatten. Schon bald sahen sie das große Gebäude, das eigentlich gar nicht in diese Gasse passte, durch die sie nun geführt wurden. Niedrige, einstöckige Häuser drängten sich aneinander, das große, mehrstöckige Findelhaus stand mittendrin.
„Hier ist es“, sagte der Bauer und sah seine Begleiter fordernd an. Die Hand auszustrecken und um ein Trinkgeld zu bitten, wagte er sich wohl doch nicht.
Raimon verstand, kramte in seiner Hosentasche und fischte eine Münze heraus. Die reichte er dem Mann. Der schaute darauf, grinste dann aber. Wahrscheinlich war er mit dem Lohn sehr zufrieden. „Habt Dank, werter Herr“, sagte er und steckte das Geldstück ein.
„Wir haben auch zu danken“, erwiderte Raimon. „Ohne Euch würden wir wohl immer noch durch die Stadt irren.“ Zu Sally sagte er dann: „Komm, Liebes, wir sind endlich angekommen.“ Damit wandte er sich der großen Tür zu, die fast die ganze Breite des mehrstöckigen, aber schmalen Gebäudes einnahm. Der Bauer fühlte sich entlassen und setzte seinen Weg fort. „Na das war aber ein komischer Kauz“, sagte Raimon zu Sally.
„Hast du gesehen, wie der geglotzt hat? Einfach eklig“, erwiderte die Frau und schüttelte sich angewidert.
„Vergiss es lieber. Es hat keinen Zweck, sich über solch schmierige Kerle aufzuregen“, entgegnete Raimon und klopfte an die Tür.
Eine ganze Weile tat sich nichts. Aber dann hörten sie schlurfende Schritte, die näher kamen. Raimon wollte eben noch einmal klopfen, als die Tür geöffnet wurde. Ein altes, zahnloses Weib stand da und starrte die Besucher an.
„Was wollt Ihr?“, fragte sie nicht gerade freundlich.
„Mein Name ist Raimon“, stellte sich der Henker vor. „Dies ist meine Gattin Sally“, machte er die Frau auch mit seiner Begleitung bekannt. „Ich hörte, meine beiden Neffen und meine Nichte sind hier untergebracht.“
„Was weiß ich, wer Eure Neffen und die Nichte sind“, blaffte die Alte ihn an.
„Wir kommen eben vom Stadtrichter Watson. Dieser hat es uns gesagt“, erwiderte Raimon. „Ich bin der Bruder des vor drei Wochen hingerichteten Schustermeisters.“
„Sagt das doch gleich“, knurrte die Frau. „Folgt mir zur Mutter Oberin.“ Sie ließ Raimon und Sally eintreten und schloss die Tür hinter ihnen. Dann wandte sie sich ab und schlurfte vor ihnen her. An einer Tür im hinteren Drittel des langen Flurs blieb sie stehen und klopfte an.
Auf ein „Herein“ trat sie ein und bedeutete den Besuchern, es ihr gleich zu tun. „Die Beiden wünschen Euch zu sprechen“, kündigte sie Raimon und Sally an.
„Danke Wina, du kannst gehen“, forderte die Hausherrin die Frau auf. „Ich bin Mutter Rosemary, die Oberin dieses Waisenhauses“, stellte sie sich den Gästen vor. „Was kann ich für Euch tun?“
„Das ist meine Gemahlin Sally und ich bin Raimon. Wir suchen die Kinder meines Bruders. Faylynn, Travis und Barnet“, kam der Henker gleich zur Sache.
„Ihr meint die Kinder des hingerichteten Schusters?“, wollte die Oberin wissen, nachdem sie die beiden willkommen geheißen hatte.
„Genau die“, erwiderte Raimon. „Wir sind deren einzigen noch lebenden Verwandten und würden die Kinder gerne mitnehmen.“
„Oh“, sagte die Oberin. „Das erstaunt mich wahrlich sehr. Wir haben schon nach Angehörigen gesucht, hatten aber noch keinen Erfolg damit.“
„Wir kommen aus Exmouth“, erklärte Raimon. „Mein Bruder schrieb mir vor einiger Zeit, dass ich ihn unbedingt besuchen müsse, seine Gemahlin Adra hätte ihn verlassen und er bräuchte etwas Hilfe mit den Kindern. Meine Gattin wollte einige Zeit bei ihm bleiben und ihm unter die Arme greifen.“
„Oh ja, der arme Delmore. Welch ein hartes Schicksal hatte ihn ereilt. Seine Ehefrau war wahrlich eine Metze, die sich jedem Kerl hingab, der ihr gefiel und zu guter Letzt angelte sie sich sogar noch ihren Knecht, mit dem sie endgültig durchbrannte“, erwiderte Rosemary und bekreuzigte sich. „Leider ließ sich der Schustermeister zu sehr von seiner Eifersucht hinreißen, anstatt die Frau endgültig zum Teufel zu schicken.“
„Wir hörten bereits von den Stadtwachen, was passiert ist“, meldete sich nun auch Sally zu Wort. „Delmore schien es nicht leicht gehabt zu haben mit seiner Frau. Der liebe Gott möge ihn schützen. Aber nun sind wir aus Exmouth gekommen, um wenigstens den Kindern ein gutes zu Hause zu bieten. Die armen Würmchen, sie müssen ganz verstört sein nach den schlimmen Vorkommnissen der letzten Zeit.“
„Das sind sie wahrlich“, erwiderte die Oberin. „Sie weinen fast Tag und Nacht und sind durch nichts zu besänftigen. Vor allem die kleine Faylynn. Sie ist gerade mal vier Jahre alt und schon ohne Eltern.“
„Wir würden die Kinder gerne mitnehmen. Der Stadtrichter Thomas Watson bestätigte uns, das wäre möglich. Natürlich lassen wir dem ehrenwerten Haus hier eine großzügige Spende zukommen. Sozusagen als Dank für die liebevolle Aufnahme der Kleinen.“
Im Gesicht der Oberin zeichnete sich ein freudiges Lächeln ab. Sie konnten jede noch so kleine Spende gebrauchen, denn hier im Waisenhaus war so einiges im Argen. Die meisten Kinder brauchten neue Kleidung, das Dach musste ausgebessert werden. Auch an ausreichend Essen mangelte es. Nicht nur einmal mussten die Kinder abends hungrig ins Bett gehen, da einfach nicht genug für alle da war. So blieb den Frauen oft nichts anderes übrig, als das Wenige gerecht aufzuteilen.
„Meinen ehrwürdigen Dank“, sagte Rosemary. „Das ist sehr lieb von Euch.“
„Das tun wir gerne“, erwiderte Raimon. „Doch führt uns nun bitte zu den Kindern. Wir möchten morgen in aller Frühe nach Exmouth aufbrechen. Die Kinder sollten dann ausgeschlafen sein. Ein langer Weg steht uns bevor.“
„Dann werdet Ihr die Stadt verlassen? Wie schade“, meinte die Oberin traurig.
„Das Haus meines Bruders wurde von der Stadt konfisziert. Diese Nacht dürfen wir noch dort schlafen. Aber morgen früh müssen wir es wieder verlassen“, erklärte der Henker.
„Gerade jetzt die Kinder aus ihrer gewohnten Umgebung herausreißen, wenn das mal gut geht“, erwiderte Rosemary.
„Das Haus auslösen können wir nicht. Außerdem habe ich in Exmouth eine Anstellung auf Lebenszeit, die ich nicht einfach so kündigen kann“, sagte Raimon.
Fragend schaute die Schwester Oberin ihn an.
„Ich bin der Scharfrichter von Exmouth“, gab sich Raimon zu erkennen.
Erschrocken schrie die Oberin auf. Ein Henker in ihrem Hause, das hatte sie noch nie erlebt. Doch so schrecklich, wie sie sich einen Scharfrichter vorgestellt hatte, sah er gar nicht aus. Er war sogar ein recht ansehnlicher Mann. Wenn nur dieser grausame Beruf nicht wäre. Rosemary geriet trotzdem ins Schwärmen.
„Können wir nun zu den Kindern?“, wollte Sally wissen, als die Oberin nicht gleich reagierte.
„Oh, entschuldigt. Natürlich“, Rosemary fühlte sich ertappt. Ihr Gesicht rötete sich wie eine Laterne. Hektisch lief sie zur Tür. „Wenn Ihr mir folgen würdet“, forderte sie die Gäste auf, ehe sie die Kammer verließ.
Raimon und Sally folgten der Frau nach draußen in den Hinterhof. Sehr zu ihrem Erstaunen, war dieser sehr gepflegt. Beete waren angelegt, die nun allerdings bereits gänzlich abgeerntet waren. Einige Obstbäume standen an der hinteren Begrenzungsmauer. Dort saßen am Fuße eines Stammes drei Kinder und unterhielten sich.
„Dort sind die Kinder des Schustermeisters“, erklärte Rosemary und zeigte auf die Gruppe.
„Travis, Barnet und Faylynn, kommt doch mal her“, rief Rosemary ihnen zu. „Nun kommt schon, keine Furcht!“, rief sie noch einmal, als die Kinder nicht sofort reagierten. „Sie sind noch ein wenig scheu“, sagte sie.
Die Drei standen auf und kamen zögernd näher. Betreten standen sie dann vor den Erwachsenen und schauten gespannt auf die beiden Besucher, die sie nicht kannten.
„Das sind euer Onkel und eure Tante“, stellte Rosemary den Kindern Raimon und Sally vor.
Die Kinder blickten erstaunt auf. Sie wussten zwar, dass ihr Vater noch einen sehr viel älteren Bruder hatte, aber gesehen hatten sie ihn noch nie. Artig grüßten sie. Sally und Raimon und warteten ab.
Sally lächelte die Kinder freundlich an. Sie sah gleich, wie sehr sie Raimon ähnelten.
„Was will der Onkel und die Tante hier?“, wagte sich Travis, der Älteste, zu fragen.
„Euer Onkel hat euch gesucht“, erwiderte die Oberin. „Morgen früh möchte er zurück nach Exmouth, ihr sollt mit ihm kommen.“ Freudig schaute die Frau die Kinder an, die von Glück reden konnten, dem Waisenhaus entfliehen zu können.
„Was sollen wir dort?“, fragte Travis trotzig. „Unser Heim ist hier in Dover und nicht in Exmouth.“
„Ach, ihr lieben Kleinen“, sagte Sally darauf und trat zu den Kindern. Zärtlich strich sie über deren struppiges Haar. „Hier habt ihr doch niemanden mehr. Es ist wirklich besser, wenn ihr mit uns kommt. Wir haben ein großes Haus, wo wir genug Platz für euch haben. Euer Onkel und ich werden für euch da sein.“
„Wir wollen aber bei unserem Vater bleiben“, ließ die kleine Faylynn von sich hören. „Vater wird uns bald hier abholen“, wusste sie altklug zu berichten.
Die Oberin und die beiden Besucher schauten sich fassungslos an. „Sie wissen noch gar nichts?“, fragte Sally ganz leise, dass es die Kinder nicht hören konnten.
„Wir haben es noch nicht gewagt, ihnen vom Tod ihrer Eltern zu berichten“, gab Rosemary zu.
„Oh mein Gott“, stieß Raimon entsetzt aus. „Das hätte schon lange geschehen müssen. Wie konntet Ihr nur?“
„Ich weiß, es hätte schon längst geschehen müssen. Aber wir hatten Angst davor. Die Kleinen waren schon verstört genug, als sie von der Stadtwache hier abgeliefert wurden. Sie mussten mit ansehen, wie ihr Vater in Ketten abgeführt wurde. Zum Glück blieb ihnen dessen Hinrichtung erspart.“
„Da haben wir ja noch eine Menge vor uns“, sagte Sally. Sie wandte sich an die Kinder, die betreten vor ihnen standen und gar nichts verstanden. „Wollen wir etwas Süßes essen gehen?“, fragte sie. „Ich habe auf dem Weg hierher eine Bäckerei gesehen, da gibt es ganz leckere süße Wecken.“
Faylynn schaute Sally freudig an, auch die Jungen zauberten ein Lächeln auf ihr Gesicht. „Bitte Mutter Oberin, dürfen wir“, redeten sie gleichzeitig auf Rosemary ein.
„Natürlich dürft ihr“, erwiderte diese.
Sally warf Raimon einen Blick zu. Raimon verstand. An ihm war es nun, alles andere zu regeln und mit der Oberin zu besprechen.
„Gehen wir“, sagte Sally zu den Kindern. Sie nahm Faylynn an der Hand und ging mit ihr voraus.
„Und du weißt wirklich, wo der Bäcker ist, der die Wecken bäckt?“, fragte die Kleine.
„Ganz genau nicht mehr. Immerhin bin ich hier fremd. Aber du weißt es ganz bestimmt.“ Sally lächelte die Kleine an, die sie interessiert anschaute.
„Natürlich weiß ich das! Ich kenne mich hier aus“, meinte Faylynn breit grinsend. „Stimmt´s?“, wandte sie sich an ihre beiden Brüder, die mit hängenden Köpfen hinter ihnen herliefen.
„Ja, ja“, knurrten die Beiden. „Du bist ja schon groß, windeltragendes Gör.“
„Ich bin kein windeltragendes Gör mehr“, motzte das Mädchen und stampfte mit dem Fuß auf.
Grinsend streckten die Jungen ihr die Zunge heraus.
„Na, na, nicht streiten“, tat Sally so, als würde sie schimpfen. Im Inneren aber freute sie sich, dass die Kinder sich so gut verstanden. „Gehen wir lieber. Ihr habt bestimmt ganz großen Hunger. Große Kinder sind doch immer hungrig, oder?“
„Den haben wir immer“, riefen die Drei wie aus einem Munde. Die Knaben drängten sich an Sallys Seite. Lachend und plappernd wiesen sie Sally den Weg zur Bäckerei, wo nach deren Reden süße Wecken auf sie warteten.
Während die Frau mit den Kindern unterwegs war und alles versuchte, bei ihnen das Eis zu brechen, blieb Raimon im Waisenhaus, um mit der Mutter Oberin alles Weitere zu klären.
„Es tut mir leid wegen Eurem Bruder“, sagte die Frau eben zu ihm. Sie hatten in deren Kammer Platz genommen und saßen sich nun am Tisch gegenüber.
Raimon schaute die Oberin an. „Es entsetzt mich, dass die Kinder noch nicht Bescheid wissen über ihre Eltern“, sagte er tadelnd zu der Frau.
„Ich weiß, das hätte schon längst geschehen sollen“, erwiderte Rosemary.
„Das werden wir, das heißt, meine Gattin und ich nun tun. Ich hoffe, es schockt sie nicht allzu sehr. Es reicht schon, dass wir sie aus ihrer gewohnten Umgebung herausreißen müssen.“
„Wenn Ihr dies tun würdet, wäre ich Euch sehr dankbar“, sagte die Frau. „Was habt Ihr nun vor mit den Kindern“, wollte sie dann noch wissen.
„Wir werden sie mit nach Exmouth nehmen, hierbleiben können sie auf keinen Fall. Außerdem sind wir die letzten lebenden Verwandten. Alle meine jüngeren Geschwister sind bereits gestorben. Es waren nur noch Delmore und ich übrig“, erklärte Raimon. „Nun bleibe nur noch ich von unserer Familie übrig, na, und meine Gemahlin. Ich hoffe, die Kinder gewöhnen sich schnell an uns und vergessen das hier Erlebte.“
„Es ist wirklich sehr schlimm, was da passiert ist. Gerade der Vater war so ein liebenswürdiger Mann“, sagte die Oberin traurig. „Dass er so enden musste…“
„Was passiert ist, ist passiert und kann nicht mehr rückgängig gemacht werden“, meinte Raimon. Er stand auf und überreichte der Oberin einige Münzen.
„Für was soll das sein?“, fragte sie.
„Eine Spende für das Waisenhaus. Ich denke, es wird dringend benötigt“, erklärte Raimon. „Wenn es nach dem Stadtrichter gegangen wäre, hätten wir ihm das Geld übergeben müssen. Er war richtig enttäuscht, als wir ihm mitteilten, das Geld Euch zu geben.“
„So ist er, der werte Mister Watson. Korrupt und geldgierig wie er ist, grabscht er alles zusammen, was er bekommen kann. Er wird an seiner Gier bestimmt noch einmal ersticken“, erwiderte Rosemary.
„Dachte ich es mir doch. Wie gut, dass wir ihm nichts gegeben haben. Schon die Summe für die Auslöse von Delmores Haus fanden wir zu hoch“, entgegnete Raimon. „Könnt Ihr mir vielleicht sagen, wo sich das Grab meines Bruders befindet? Ich möchte gerne mit den Kindern hingehen, bevor wir nach Exmouth zurückkehren.“
„Delmore liegt draußen vor dem Stadttor auf dem Schindacker. Es tut mir leid, Euch das so sagen zu müssen. Aber Ihr wisst als Henker garantiert, dass nur diese Art der Beerdigung den Hingerichteten zusteht.“ Es folgte eine Beschreibung, wie sie dorthin kamen.
„Das ist wahr“, sagte Raimon. „Schade, dass es so zu Ende gehen musste mit meinem Bruder und dass ich ihn nicht noch einmal sehen konnte, bevor er sterben musste. Wir haben uns nicht mal verabschieden können.“ Raimons Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
„Das tut mir leid“, erwiderte die Oberin.
„Ich verabschiede mich nun, meine Gattin und die Kinder werden bestimmt schon warten“, sagte Raimon und erhob sich. Er hatte genug gehört und bereitete sich nun lieber darauf vor, an Delmores Grab zu gehen und sich von ihm zu verabschieden.
„Gott schütze Euch“, sagte Rosemary und gab Raimon zum Abschied die Hand. Das zarte Rot auf ihren Wangen wurde erneut stärker, doch als Braut Gottes musste sie sich an die Regeln halten.
„Gott schütze Euch auch“, erwiderte Raimon und ging hinaus. Im Flur traf er noch auf Wina, die wohl an der Tür gelauscht hatte.
„Ihr seid ein guter Mann“, flüsterte sie ihm zu und huschte schnell davon. Raimon sah ihr kopfschüttelnd nach. Dann verließ er das Haus.
Wenig später fand er Sally und die Kinder am Brunnen sitzend. Jeder hatte einen süßen Wecken in der Hand. Travis biss eben hinein und bei Faylynn hatte das Zuckergebäck deutliche Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen.
„Onkel, Onkel“, rief die Kleine ihm entgegen. „Nimmst du uns nun mit?“
„Ja, meine Kleine“, erwiderte Raimon lächelnd. Genau wie Sally hatte er die Kinder bereits in sein Herz geschlossen. Wie sehr erinnerten sie ihn an seine eigenen Kinder.
„Tante Sally hat uns bereits alles erklärt“, tat sich Travis groß. „Vater ist nun bei den Engeln und passt von dort auf uns auf. Stimmt das?“
Wehmütig sah Raimon den Jungen an. „Tante Sally hat recht“, sagte er. „Euer Vater wird immer auf euch aufpassen.“
„Mama aber nicht, die war immer so böse“, wusste Barnet zu erzählen. „Obwohl Vater schimpfte, hat sie uns gehauen.“
„Ach, ihr armen Mäuse“, Sally taten die Kinder leid. „Das wird nun alles anders.“
„Wirklich?“ Faylynn sah Sally mit ihren großen Kinderaugen an, die Sallys Herz wie Butter in der Sonne schmelzen ließ.
„Ja, wirklich. Versprochen“, sagte Sally nickend und streichelte der Kleinen übers Haar. Raimon nickte ebenfalls dazu. Auch er mochte Delmores Kinder vom ersten Augenblick an. Dass sein Bruder seinen Nachwuchs nun nicht mehr aufwachsen sehen konnte, schmerzte ihn sehr. Um sich davon loszureißen, nahm er Faylynn auf den Arm. Die Kleine war federleicht. Raimon konnte sogar ihre Rippen spüren, als sie sich an ihn schmiegte.
„Seid ihr alle satt?“, fragte Raimon. Wie aus einem Mund riefen die Kinder „ja“. Lachend gab er Faylynn einen Kuss. Danach musste er sein Gesicht abwischen, da das Mädchen den klebrigen Zucker auf seine Wange geschmiert hatte.
„Wir gehen jetzt erst einmal in euer ehemaliges Haus. Ein letztes Mal dürfen wir noch da übernachten“, kündigte Raimon den Kindern an. Die Drei schauten sich traurig an.
„Aber da ist doch niemand mehr“, sagte Travis.
„Ich weiß, wir werden auch nur eine Nacht bleiben. Morgen in aller Frühe reisen wir ab“, erwiderte Raimon. „Ihr könnt alle noch einmal in eurem Bett schlafen und dann heißt es Abschied nehmen. Wir können leider nicht hierbleiben.“
Traurig nickten die Kinder. „Muss Vater hierbleiben?“, wollte Barnet wissen, der wohl von den Kindern am meisten am Vater hing.
„Ja, leider“, erklärte Sally. „Dein Vater kann nun nicht mehr mit uns kommen. Ich habe euch vorhin alles erzählt. Fragt bitte, wenn ihr noch etwas wissen wollt. Ich weiß, es ist schwer für euch, für uns genau so. Euer Vater fehlt euch. Doch nun sind wir für euch da. Ihr werdet sehen, es wird euch in Exmouth sehr gefallen.“
Mit den Kindern im Schlepptau gingen Sally und Raimon nun zurück in Delmores ehemaliges Haus. Die Aufregung hatte die Kinder stumm gemacht. Ängstlich schauten sie sich um. Je näher sie ihrem Zuhause kamen, desto ruhiger wurden sie. Bis Faylynn auf einmal anfing, zu weinen.
„Ach Kleine“, tröstete Sally das Mädchen. Sie nahm es auf den Arm und trug sie den restlichen Weg. Die Kleine schmiegte sich an sie und schon bald war sie eingeschlafen. Lächelnd streichelte Sally ihre Wange. „Wir sollten sie nachher gleich zu Bett bringen“, sagte sie zu Raimon.
In Delmores Haus nahm Raimon Sally das Mädchen ab. Vorsichtig trug er es nach oben und legte es in das große Elternbett. Die Jungen blieben noch auf und saßen noch einige Zeit mit Sally und Raimon in der Küche. Sie stellten Fragen über Fragen, die die Erwachsenen gerne beantworteten.
Als sie später alle in ihren Betten lagen, hörten Sally und Raimon plötzlich nackte Füße über den Flur tapsen. Die Tür öffnete sich leise, herein kamen Travis und Barnet. „Tante, Onkel, dürfen wir zu euch ins Bett?“, fragte die Jungen. „Faylynn darf auch.“
„Kommt schon her, ihr Rasselbande“, flüsterte Sally schmunzelnd. „Aber leise, eure Schwester schläft schon.“
Flugs schlüpften die Jungen mit unter die Decke und schmiegten sich an die Erwachsenen. Raimon erinnerte sich an seine Kinder, die taten das auch immer gern. Nur Sally war das nicht gewohnt, doch das warme Gefühl, das die Kinder in ihr auslösten, war herrlich. „Ob unsere Kinder das später auch tun?“, fragte sie Raimon flüsternd.
Der Angesprochene lächelte. „Ganz bestimmt, Liebes“, erwiderte er. „Ich freue mich schon sehr darauf.“
„Ich auch“, sagte Sally ehrlich. Vielleicht schon bald würden sie eigene Kinder haben. Mit diesem Gedanken schlief sie ein und träumte von einer Horde Kinder, die an ihrem Rockzipfel hingen, während sie am Herd stand und Essen kochte.
Am nächsten Morgen waren alle bereits früh wach. Die Aufregung über die bevorstehende Reise trieb sie aus dem Bett. Sally bereitete noch ein Frühstück vor, das sie gemeinsam einnahmen. Die Reste des Essens packte sie als Wegzehrung ein.
Nun stand nur noch der Besuch von Delmores Grab bevor. Sally, und auch Raimon fürchteten sich davor. Doch als sie vor dem aufgeschütteten Erdhügel vor den Toren der Stadt standen, war die Angst wie weggeblasen. Die Kinder nahmen das Ganze gelassener auf, als sie gedacht hatten. Faylynn redete mit ihrem Vater, als würde er noch unter ihnen weilen. Auch die Jungen sprachen noch ein paar Worte und verabschiedeten sich. Sie hatten verstanden, dass ihr Vater sie nicht begleiten konnte.
„Onkel, Tante, wir können gehen“, sagten die Kinder nach einer Weile. „Vater ist einverstanden, dass wir mit euch gehen.“
Sally und Raimon atmeten erleichtert auf. „Dann kommt“, sagten sie und reichten den Kindern ihre Hände. Sie führten sie zu dem kleinen Gespann, das Raimon auf die Schnelle besorgt hatte und das sie nach Exmouth bringen sollte. Die Kinder machten sich zwischen den Kisten mit ihrem Hab und Gut auf der kleinen Ladefläche bequem, während Sally und Raimon vorne auf dem Kutschbock Platz nahmen. Der Henker trieb das Pferd an, das sofort in einen leichten Trab fiel. So ging es über Stock und Stein aus der Stadt heraus, die hinter ihnen immer kleiner wurde, bis auch die letzten Konturen der Schutzmauern verschwammen.