Nachdem sich Doktor Armstrong verabschiedet hatte, verließen Raimon und Richter Richardson das Zimmer der Toten. Auf dem Flur kam ihnen Sally entgegen, die eben zu ihnen kommen wollte.
„Der Doktor hat sich bereits verabschiedet. Ihr wisst davon?“, fragte sie die Männer. „Mir wollte er aber nichts über das Ergebnis der Untersuchung sagen. Er hätte es eilig, meinte er.“
„Wir sind garantiert nicht die Einzigen, die ein Anliegen an ihn haben“, erwiderte Raimon lächelnd. „Armstrong ist ein sehr kompetenter Mann. Auch wenn sein Aussehen recht eigentümlich ist. Daran sollte man die Leute ja nicht beurteilen.“
„Armstrong ist der beste Arzt in der Umgebung. Als Leibarzt ist er wärmstens zu empfehlen. Ihr habt ja bald einen nötig in Eurem Zustand“, mischte sich Henri Richardson in das Gespräch der Eheleute ein. „Ich konnte mit Armstrongs Hilfe bereits viele verzwickte Fälle lösen. Gerade Morde mit Gift sind sehr schwer aufzulösen. Bei Mistress Lilith hat er wohl sofort Eins und Eins zusammen gezählt und die richtigen Schlüsse daraus gezogen. Die leere Flasche Laudanum ist mir gestern Abend gar nicht aufgefallen. Nicht einmal die Einstichstelle in der Ellenbeuge der Verstorbenen haben wir entdeckt.“ Man sah es dem Richter an, dass es ihn arg ärgerte, die Male nicht gesehen zu haben.
„So genau haben wir Sallys Stiefmutter gestern Abend auch nicht angesehen, außerdem trug sie ein Kleid mit langen Ärmeln“, sagte Raimon darauf. „Wer hätte denn zu diesem Zeitpunkt geglaubt, dass sie sich selbst vergiftet hat und auch noch mit solch einem bösartigen Mittel.“
„So wie ich es jetzt verstehe, hat Lilith sich selbst das Leben genommen. Ich verstehe nur nicht, warum sie das getan hat“, meinte Sally. Obwohl sie ihre Stiefmutter nie richtig mochte, sie war die Frau, die sie groß gezogen hat. Ein wenig trauerte Sally um sie, aber nicht so sehr wie um ihren geliebten Vater. Ihren Vater vermisste sie sehr, Lilith nicht.
„Eure Stiefmutter hat sich auf zweierlei Arten umgebracht“, erklärte Richter Richardson. „Als erstes nahm sie Laudanum, danach spritzte sie sich Strychnin. Sie muss das Mittel irgendwie flüssig gemacht haben, das gibt es sonst nur in fester Form.“
„Von Laudanum stirbt man aber nicht“, meinte Sally darauf.
„Von Laudanum selbst nicht. Jedenfalls nicht von der Menge, die Lilith wahrscheinlich eingenommen hat. Das Opiat war nur Mittel zum Zweck“, entgegnete Richter Richardson. Dann erklärte er die Theorie Doktor Armstrongs.
Sally hörte genau zu. „Das klingt für mich plausibel“, sagte sie, nachdem der Richter geendet hatte. „Wie geht es jetzt weiter?“, fragte sie dann. „Es wäre gut, wenn wir meine Stiefmutter so bald wie möglich beerdigen könnten.“
„Das könnt Ihr gerne tun“, antwortete Henri. „Ich werde heute noch einen Boten mit den beiden Ampullen nach London zu Mister Moore schicken. Doktor Armstrong wollte mir die Adresse des Apothekers in London hinterlegen. In seiner Eile hat er das bestimmt vergessen. Ich werde ihn wohl oder übel noch einmal aufsuchen müssen.“
Sally lächelte und zog ein zusammengefaltetes Papier aus ihrer Tasche. „Das müsst Ihr nicht. Der Doktor gab mir das, bevor er das Haus verließ und bat mich, an Euch weiter zu leiten.“
„Das ist ja bestens. Herzlichen Dank“, rief Richter Richardson erfreut aus. „Ich werde Euch nun auch verlassen und den Boten nach London schicken. Eigentlich müssen wir Mister Moore gar nicht belästigen. Der Bote kann den Auftrag gleich selbst erledigen und den Apotheker befragen. Da kann er die Antwort gleich mit zurück bringen.“
„Tut, was Ihr für notwendig haltet“, sagte Raimon. „Wir danken Euch für Euer schnelles Eingreifen, auch wenn das Ende nicht so gekommen ist, wie wir angenommen haben.“
„Nichts zu danken“, antwortete Richardson und verabschiedete sich.
Noch am selben Tag schickte Henri Richardson einen Boten nach London. Mit genügend Geld und einem guten Pferd ausgestattet, kam der Mann gut voran. Wenn alles gut ging und er ohne große Aufenthalte vorwärts kam, könnte der Reiter in etwa vier Tagen zurück in Trowbridge sein. Am ersten Tag ritt er, bis es stockfinster war und er es dem Pferd nicht mehr zumuten konnte, durch die Finsternis zu hetzen. Er schlief in einer abgelegenen Scheune eines Bauern und brach bereits vor dem Morgengrauen wieder auf.
In London fand der Mann das Haus des Apothekers schnell. Der Gesuchte war sehr bekannt. Über den unverhofften Besuch aus Trowbridge freute sich der Alte sehr und war sofort bereit zu helfen. Auf Anhieb erkannte er seine Ampullen wieder. Endgültige Gewissheit gab ihm ein Blick auf den Boden der kleinen Flaschen.
„Die sind von mir ausgegeben worden“, bestätigte er damit Doktor Armstrongs Annahme. „Wer und wann gekauft haben könnte, muss ich in meinem Buch nachsehen.“
„Bitte tut das“, erwiderte der Bote aufgeregt. Die Spur des Giftes war ihm sicher.
„Wartet. Ich schaue sofort nach. Alle Ein- aber auch Verkäufe verzeichne ich penibel genau mit Datum. Sogar die Namen der Kunde vermerke ich, sowie das, was in welcher Menge sie bei mir kauften“, antwortete der Apotheker. Seine mausgrauen Augen folgten seinem Zeigefinger Zeile für Zeile auf den einzelnen Seiten des Buches nach unten. Endlich fand er einen Eintrag. „Hier“, sagte er, „kommt und schaut selbst. Mistress Lilith war vor elf Monaten das letzte Mal bei mir. Die Dame kam immer zu mir und kaufte, wenn sie in der Stadt war. Sie erwarb beim letzten Mal zwei Flaschen Laudanum und eine Tüte Strychnin und…“, der Mann stutzte, „eine Flasche Äther hat sie auch verlangt. Mich wunderte es, dass sie gleich zwei Flaschen Laudanum kaufte und fragte nach. Sie hätte große Einschlafschwierigkeiten, erklärte sie mir. Auch das Strychnin machte mich stutzig. Es wären eine Menge Ratten im Haus, sagte sie mir als Grund des Kaufes. Aber etwas war noch anders als sonst“, der Apotheker klopfte mit den Fingern auf die Platte seines Verkaufstresens. „Ach, jetzt erinnere ich mich. Ein Herr war bei ihr, dem sie das Äther übergab. Es war aber nicht ihr Gatte, aber es muss kurz vor dessen tödlichem Unfall gewesen sein. Ihren Ehemann kannte ich persönlich. Aber diesen Unbekannten an ihrer Seite nicht.“
„Das ist wahrlich sehr eigenartig“, erwiderte der Bote. „Erinnert Ihr Euch an sein Aussehen?“
„Das war gerade das Abnorme daran. Der Kerl gab sich als Arzt aus, er würde hier in der Stadt seine Klientel haben. Seine Kleidung entsprach aber nicht dem, was er mir gegenüber behauptete. Außerdem kenne ich jeden einzelne Arzt in London persönlich“, erzählte der Apotheker. „Mir kam es so vor, als wäre er ständig vor irgendetwas auf der Flucht. Sein Anzug, wenn man noch Anzug zu diesem abgewetzten Fetzen sagen kann, war sehr verschlissen und schmutzig. Er selber roch schlimmer als jeder Schweinekoben. Ich hatte keinen guten Eindruck von ihm und war froh, als er wieder weg war. Mich wunderte es trotzdem sehr, dass sich eine edle Dame wie Mistress Montgomery mit solch einem Landstreicher abgab. Da sie aber anstandslos zahlte, stellte ich keine weiteren Fragen. Mehr kann ich dazu leider nicht sagen. Aber vielleicht fällt mir später noch etwas ein.“
„Das ist schon mehr, als ich erwartet habe“, erwiderte der Bote. „Ich bin noch bis Morgen in der Stadt. Im roten Ross habe ich Quartier bezogen. Ich danke euch sehr. Die neuen Informationen werden Richter Richardson sehr weiterhelfen.“
„Wartet, mir fiel eben noch etwas ein“, rief der Apotheker dem Boten nach „Ich sah, wie Mistress Lilith dem Mann Geld gab, nachdem sie den Laden verlassen hatten. Ein zweiter Mann kam dazu, der genau so abgerissen aussah wie der Erste. Die beiden müssen sich überschwänglich bedankt haben. Sie lachten und verbeugten sich mehrmals sehr tief vor der Mistress.“
„Herzlichen Dank“, sagte der Bote und verließ endgültig den Verkaufsraum. Auf dem Weg zu seiner Herberge machte er sich Gedanken über die Beschreibung, die der Apotheker ihm gegeben hatte. Er konnte sich bei bestem Willen nicht vorstellen, wer die beiden unbekannten Männer gewesen sein sollten. Den Namen Sir Selwyns hatte er im Buch des Apothekers nicht entdeckt. Wellington war Arzt, ein gut situierter sogar. Es gab auch keinen Grund, warum er über Mistress Montgomery Äther kaufen sollte. Wenn, dann tat er es selbst oder er schickte einen seiner Gehilfen. Auch die Kleidung passte nicht zu dem Arzt.
Der Bote entschloss sich kurzerhand, Mister Moore doch aufzusuchen, der ebenfalls in dieser Gegend wohnte. Er ließ sich vom Knecht der Herberge sein Pferd geben und ritt zu dem Detektiv.
„Das ist aber eine Überraschung“, begrüßte Garrick Moore den Boten des Richters. Die zwei Männer kannten sich bereits über Richter Richardson, für den Garrick ab und an Erkundigungen einzog. Der Detektiv entschuldigte sich aber auch für den Lärm, der derzeit im Haus war. Handwerker wären dabei, es zu renovieren und neu einzurichten.
Der Bote berichtete vom Grund seines Hierseins und dass er Informationen von Mister Moore erhoffte, die die Untersuchung vorantreiben könnten.
Auch Sabrin kam hinzu, die gehört hatte, dass ein Gast im Haus war.
„Darf ich Euch meine liebreizende Braut vorstellen“, sagte Moore zu dem Boten, der Sabrin anstarrte wie eine Schlange ihre Beute.
„Ich hörte bereits, dass Ihr auf Freiersfüßen wandelt“, riss sich der Bote zusammen und lächelte. „Ist es endlich einer Frau gelungen, Euch einzufangen und Ketten anzulegen. Sogar eine äußerst hübsche Dame habt Ihr an Eurer Seite.“ Ein wenig neidisch schaute der Bote zu Sabrin. „Miss, lasst ihn ja nie wieder aus Euren Fängen. Er ist ein guter Mann.“
Sabrin lächelte errötend und Garrick Moore kratzte verlegen mit dem Fuß. Aber dann besann er sich auf seine Hausherrenpflichten und bat den Besucher in den Salon. Dort bot er ihm Tee und Gebäck an, was er gerne annahm.
Sabrin war neugierig und folgte den Herren. Gespannt lauschte sie den Nachrichten aus Trowbridge. „Was haltet Ihr davon, wenn Garrick und ich Euch morgen zurück begleiten?“, schlug sie nach einer Weile vor. „Garrick kann sein Wissen gleich direkt an den Richter weitergeben und ich sehe meine Freundin Sally wieder.“
„Was ist mit unserer Hochzeit und dem Umbau des Hauses?“, fragte der Bräutigam. „Wir sind erst kurz in der Stadt. Es ist noch so viel zu tun. Wir wollen doch gleich nach der Vermählung hier einziehen.“
„Du hast doch gute Leute, die trotzdem arbeiten, auch wenn du nicht vor Ort bist“, erwiderte Sabrin. „Heiraten können wir auch in Trowbridge. Es wäre so schön, wenn Sally auch dabei sein könnte. Sie ist meine allerbeste Freundin. Schau mal, sie hatte schon abgesagt, weil unsere Vermählung in die Zeit ihrer Niederkunft fällt. So schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe. Sally kann dabei sein und ich erlebe die Geburt ihres ersten Kindes. Das wäre doch schön.“ Die junge Frau schaute ihren Bräutigam verliebt an, dass er gar nicht anders konnte, als der Bitte zuzustimmen.
„Wir treffen uns morgen zum Morgengrauen an Eurer Herberge. Meine Braut wird in der Kutsche reisen, ihr Mädchen ebenfalls. Ich reite mit Euch“, sagte Garrick entschlossen. Der Bote stimmte dem zu.