Als hätte sich das Wetter mit dem Anlass des Tages abgesprochen, stürmte und regnete es. Dunkle Wolken jagten einer Meute spielender Hunde gleich über den Himmel. Die Bäume, die den Rand des Familienfriedhofes säumten, bogen sich im Wind, dass das Holz knarrte. Es klang, als würden sie über die Kräfte murren, denen sie alles entgegen setzen mussten. Beinahe sah es so aus, als würden die Stämme brechen wie Streichhölzer. Doch sie hielten stand.
Die Menschen, die sich versammelt hatten, schauten starr auf den mit Blumen geschmückten Sarg, der auf zwei Holzböcken über dem offenen Grab stand und darauf wartete, in die dunkle Erde hinabgelassen zu werden. Sie konnten es immer noch nicht glauben, dass ihr geliebter Freund Adrian nicht mehr unter ihnen weilte.
Sally hielt mühsam ihren Trauerschleier aus zarten Spitzen fest, den der Wind ihr vom Kopf zu reißen drohte. Sie fühlte sich so fehl am Platze. Eigentlich wollte sie gar nicht hier an diesem unwirtlichen Ort sein, sondern sich lieber in ihrem Zimmer ihrer Trauer hingeben. Doch sie war es ihrem Vater schuldig, ihm die letzte Ehre zu erweisen.
Den Worten des Priesters hörte sie schon längst nicht mehr zu. Viel lieber dachte sie an die vielen schönen Stunden und die vielen herrlichen Jahre, die sie mit ihrem Vater verbringen konnte und die nun unwiderruflich verloren waren. Sie mochte gar nicht daran denken, was aus ihr geworden wäre, wenn er sie damals nicht aufgenommen hätte. Dann würde sie garantiert in dem Kloster, in das ihre Mutter gebracht wurde, als Dienstmagd den Schwestern dienen.
Mit Tränen in den Augen schaute Sally zu Lilith, die neben ihr starr wie eine Statue am Grab stand und keine Miene verzog. Sally wurde den Gedanken nicht los, dass ihre Stiefmutter irgend etwas mit Adrians tödlichem Unfall zu tun hatte. Zu gefasst kam sie ihr vor, als Sir Selwyn ihr die schlimme Nachricht überbrachte. Beweisen konnte sie jedoch nichts.
Sally schluchzte leise. Selwyn, der hinter ihr stand, trat zu ihr und stützte sie liebevoll. Aufmunternd nickte er ihr zu. Tapfer lächelte Sally und tupfte sich die Tränen mit ihrem Taschentuch ab.
Die Zeit schien still zu stehen. Die Trauerfeier nahm kein Ende. Immer wieder fand der Priester gute Worte über den Verstorbenen, mit denen er die Trauergemeinde zu trösten versuchte. Erst nachdem Lilith ihm ein Zeichen gab, endlich zum Ende zu kommen, sprach er letzte Worte, die den Verstorbenen in die Ewigkeit begleiteten.
Erst als Selwyn Sally vorsichtig am Arm ergriff, um sie zurück zum Haus zu begleiten, bemerkte die junge Frau, dass die Trauerfeier bereits zu Ende war. Sie stand allein mit dem besten Freund ihres Vaters vor dem offenen Grad und starrte immer noch in die tiefe Gruft, in der nun der Sarg lag.
„Wir sollten nun gehen“, sagte Selwyn leise zu ihr, worauf Sally nickte. Noch ein letzter Blick, dann wandte sie sich ab. Adrians bester Freund führte sie behutsam den langen, gepflegten Kiesweg entlang, auf dem man zum Haus gelangte.
„Vielen Dank“, sagte Sally zu ihrem Begleiter, als sie die Eingangshalle betraten. Dort wartete bereits ein Diener, der ihre Mäntel entgegen nahm, um sie an die Garderobe zu hängen. Sie nickte ihm dankend zu und wollte die Treppe hinauf gehen.
„Entschuldigt, Miss Sally, die Gäste warten bereits auf Euch“, ließ der Diener leise vernehmen, als er sah, dass die junge Frau hinauf ins Obergeschoss wollte.
Sally schüttelte nur den Kopf. „Ich kann nicht“, flüsterte sie. Sie wirkte bleich. Schon spürte sie, wie es ihr schwindelte und ihr schwarz vor Augen wurde. Panisch tastete sie nach dem Geländer, um Halt zu finden.
Selwyn, der am Fuße der Treppe stehen geblieben war, sprang zu ihr, um sie aufzufangen. „Langsam“, warnte er sie und nickte dann dem Diener dankend zu. „Du solltest dich ausruhen“, sprach er beruhigend auf die junge Frau ein. „Die letzten Stunden waren zu anstrengend für dich. Komm, ich begleite dich nach oben, damit du dich ausruhen kannst.“
„Rufe bitte Adelaide“, bat Sally allerdings. Der Diener kam dieser Aufforderung sofort nach.
Selwyn währenddessen begleitete Sally nach oben und wollte sie zu ihrem Zimmer bringen. Als sie den Gang entlang gingen, kam ihnen bereits Adelaide, vom Dienstbotenaufgang kommend, entgegen.
„Miss Sally“, rief sie mit sorgenvoller Miene entgegen. „Ist etwas geschehen? Ihr seid so blass.“
„Ich bin nur müde“, entgegnete Sally, die bleich wie eine gekalkte Wand war.
„Mache dir keine Gedanken, Miss Sally ist nur erschöpft von der ganzen Aufregung“, beruhigte nun auch Selwyn die Zofe. „Begleite sie bitte zu ihrem Zimmer und sorge dafür, dass sie sich ausruht.“
„Ihr sorgt Euch zu sehr um mich“, meinte Sally zu Selwyn. „Vielen Dank dafür.“
„Nichts zu danken. Das tue ich gerne“, erwiderte Adrians bester Freund. „Und nun ruhe dich aus. Das ist jetzt ärztlicher Befehl.“
„Yes, Sir!“, salutierte Sally und stand spaßeshalber stramm, obwohl ihr gar nicht zum Spaßen war.
Lächelnd und mit klopfendem Herzen sah er der jungen Frau nach, die sich nun mit ihrer Zofe entfernte.
Selwyn währenddessen beschloss, der Witwe Adrians die Aufwartung zu machen und ihr sein Beileid auszudrücken. Als er die Treppe hinab ging, hörte er, wie Lilith mit zwei ärmlich gekleideten Männern sprach.
„Was wollt ihr hier? Ich habe doch gesagt, ihr sollt euch hier nicht blicken lassen“, zischte sie die beiden an. „Es ist viel zu gefährlich! Wenn das jemand bemerkt! Nicht auszudenken…“ Lilith führte theatralisch ihre Hand an die Stirn und wischte sich imaginären Schweiß ab.
„Aber Mylady. Ihr sagtet uns, nach ausgeführtem Auftrag bekommen wir den Rest unseres Lohnes“, sagte der eine. „Es sind nun schon fünf Tage vergangen und wir haben unser Geld immer noch nicht erhalten.“
„Natürlich! Das versprach ich euch. Aber doch nicht jetzt! Und nicht hier! Ich sagte euch doch, ich lasse euch eine Botschaft zukommen, wenn der ganze Trubel vorüber ist. Seht doch, das ganze Haus ist voll von Menschen, die an Adrians Trauerfeier teilnahmen.“
„Wer weiß, wann wir unser Geld bekommen werden. Wir brauchen es jetzt und nicht erst in einigen Tagen, oder gar Wochen. Vielleicht werden wir unser Geld sogar nie sehen“, knurrte einer.
„Ihr bekommt euer Geld schon noch. Ich konnte noch nicht mit dem Nachlassverwalter sprechen. Sobald das geschehen ist und ich frei über mein Erbe verfügen kann, lasse ich euch rufen“, versuchte Lilith die beiden aufgebrachten Männer zu beschwichtigen. „Murrt nicht, sonst bekommt ihr gar nichts mehr und ich lasse euch wegen Mord an meinem Gatten am nächsten Baum aufknüpfen“, drohte sie, als sie bemerkte, dass die beiden Männer nicht auf sie eingehen wollten.
„Dann werdet Ihr Euch erklären müssen, warum Ihr uns des Mordes anklagt“, sagte der eine, dabei hämisch lachend. „Dann werdet Ihr wohl gleich neben uns aufgeknüpft werden. Eine nette Gesellschaft, die uns gefallen könnte.“
Lilith sah ein, dass sie nicht gegen die Männer ankam. „Ist ja gut“, beschwichtigte sie. „Ich kann euch zur Zeit als Anzahlung nur einen Teil meines Schmuckes anbieten. So viel Bares habe ich nicht im Haus.“ Dass sie ihren geliebten Schmuck weggeben musste, gefiel ihr gar nicht. Doch das war immer noch besser, als ewig in der Schuld der zwielichtigen Männer zu stehen, die sich garantiert ihren Lohn von ihr holen würden. Egal wie.
„Na gut, dann eben den Schmuck. Das ist erst einmal besser als gar nichts“, gaben die beiden nach.
„Heute Abend am bekannten Treffpunkt?“, fragte Lilith. „Dorthin werde ich euch meinen Schmuck bringen. Was dann noch fehlt, erhaltet ihr, sobald ich über mein Geld verfügen kann.“
Die beiden Männer stimmten zu. „Aber kommt allein! Keine Zeugen!“ Damit verließen sie den Hauseingang und verschwanden durch den Garten.
Lilith schloss schnell die Tür hinter sich und lehnte sich von innen dagegen. Ihr Gesicht war leichenblass. „Worauf habe ich mich nur eingelassen?“, flüsterte sie, dabei am ganzen Körper zitternd. „Reiß dich zusammen, niemand darf etwas bemerken!“, sprach sie zu sich selbst. Forsch, wie man es sonst von ihr gewohnt war, streckte sie sich und ging zurück zur Trauergesellschaft, die sich im Esszimmer versammelt hatte und dort den Leichenschmaus abhielt.
Als Lilith an der Treppe vorbei ging, konnte sich Selwyn gerade noch hinter einer der großen Säulen verstecken. Doch die Hausherrin war so in Gedanken versunken, dass sie den heimlichen Lauscher nicht bemerkte.
Aufatmend sah Sir Selwyn der Hausherrin nach. „Das ging ja gerade nochmal gut“, dachte er erleichtert darüber, dass sein heimliches Lauschen weder von ihr noch von den beiden eigenartigen Besuchern bemerkt wurde. „Nur in was hat Lilith sich da verstrickt? Soll sie wirklich an Adrians Tod Schuld haben? Dem muss ich nachgehen.“ Vorsichtig schaute Selwyn hinter der Säule hervor, hinter der er Zuflucht gefunden hatte. Doch weder in der Halle, noch in den Gängen war jemand zu entdecken. So trat er auf die Treppe hinaus und ging ins Esszimmer zu den anderen Gästen.
Als Selwyn wenig später Lilith folgte, war bereits das Essen aufgetragen worden. Der Tisch war voll besetzt, nur zwei Plätze waren noch frei.
„Oh, Selwyn, ich habe dich schon vermisst“, sagte die Hausherrin erfreut, als er nach einem knappen Gruß für die Anwesenden zu seinem Platz gehen wollte. „Wo bist du denn gewesen? Nach der Trauerfeier konnte ich dich nirgends entdecken.“
Selwyn blieb stehen und drehte sich zu Lilith. „Entschuldige mein spätes Erscheinen. Eine Patientin benötigte meine Aufmerksamkeit. Miss Sally fühlte sich unwohl.“
„Schon wieder Sally!“, antwortete Lilith schnippisch. „Madame braucht wohl neuerdings nur noch Extrawürste?“ Die Eifersucht auf ihre Stieftochter war ihr anzumerken. „Nicht mehr lange und Adrians heißgeliebte Prinzessin kann sich im Kloster verausgaben. Bereits nächste Woche wird sie nach Canterbury reisen, um der dortigen Abtei beizutreten. Die Schwestern dort werden ihr die Flausen schon austreiben und ihr Benehmen beibringen.“
„Lilith, du wirst doch Miss Sally nach diesem grausamen und schrecklichen Ereignis mit ihrem Vater nicht aus ihrer gewohnten Umgebung reißen wollen?“ Selwyn war sichtlich geschockt. Wie konnte Lilith nur so erbarmungslos und herzlos sein?
„Doch, das werde ich! Adrian war damit einverstanden. Noch kurz vor seinem Tod haben wir darüber gesprochen“, sagte Lilith darauf. Dass sie log, wussten alle Anwesenden, die das Verhältnis Liliths zu ihrer Stieftochter kannten. Einige raunten missbilligend.
„Also Lilith, das glaubst aber nur du“, fuhr nun Lady Ophelia, die Ehefrau Lord Kimberleys, hoch. „Ich weiß dies von meinem Gatten, der mir vom Streit zwischen dir und Adrian berichtet hat. Wenn du Adrians einziges Kind einfach so in ein Kloster abschiebst, sind wir die längste Zeit Freundinnen gewesen!“ Sie wand sich ihren neben ihr sitzenden Gatten zu. „Cedric, sag du doch auch mal was!“
„So ist es und nicht anders“, stimmte ihr nun Lord Cedric zu. „Adrian klagte nicht nur einmal über dein schlechtes Verhältnis zu seiner Tochter und deine Lieblosigkeit ihr gegenüber. Dass du nun auch noch lügst und Adrian in schlechtes Licht rücken willst, schlägt dem Fass den Boden aus. Er wird sich im Grabe umdrehen, wenn du deinen Plan verwirklichst und Sally von ihrem Zuhause wegschickst.“
„Nun fällst du mir auch noch in den Rücken“, empörte sich Lilith. Ihr Gesicht war vor Wut rot angelaufen. „Dass dies auch noch auf seiner Beerdigungsfeier geschieht, das wird ihn im Grabe umdrehen und nicht diese infame Lüge, die ich angeblich verbreite.“ Liliths Stimme überschlug sich beinahe.
„Du bleibst also dabei“, erkannte Selwyn richtig. „Sally kann einem nur leid tun, mit solch einer herzlosen Stiefmutter beschlagen zu sein und auch noch mit ihr unter einem Dach leben zu müssen, auch wenn dies nur noch wenige Tage sein werden. Es tut mir leid, aber in dem Fall wirst du von mir keine Hilfe mehr erwarten können. Ich werde ab sofort stets um Sallys Wohlergehen bemühen, ob dir das gefällt oder nicht. Adrian war mein bester Freund. Ich bin es ihm schuldig, mich um seine Tochter zu kümmern, wenn du es schon nicht tust oder tun willst.“ Selwyn ging mit schnellen Schritten zur Tür. Mit einem „Einen schönen Tag noch“, verabschiedete er sich. Im Hinterkopf aber entwickelte er bereits einen Plan, wie er Miss Sally vor diesem grausamen Schicksal erretten konnte. Damit würde auch er Sally seine Gefühle gestehen, die ihn bereits vor vielen Jahren, als sie noch zu jung für die Liebe war, für sie empfunden hatte. Dass er damit auch einen Herzenswunsch Adrians erfüllen wurde, wusste er. Nur was würde Sally dazu sagen?
„Wir gehen auch!“, platzte plötzlich Lord Cedric heraus. „Ophelia komm! Mit dieser Dame will ich nichts mehr zu tun haben.“ Die angesprochene Gattin erhob sich ebenfalls. Ohne ein Wort des Abschieds verließ das Paar das Esszimmer.
Eine lähmende Stille breitete sich nun unter den Zurückgebliebenen aus. Niemand wagte es, als Erster ein Wort herauszubringen. Nur Liliths hektischer Atem war zu hören.
„Ich gehe auch“, sagte Sallys Busenfreundin Genefa und verließ, genau wie kurze Zeit vorher Lord Cedric und dessen Gattin, ohne Abschiedsworte die Trauergesellschaft.
„Ja, geht nur alle und lasst mich mit meinem Kummer allein“, schrie Lilith ihr nach. Sie richtete sich auf: „Raus hier! Alle! Sofort!“ Keifend und völlig unbeherrscht jagte sie die verbleibende Trauergesellschaft aus dem Haus. Kopfschüttelnd ließen sie den Hinauswurf zu.
„Die arme Sally“, dachte Genefa, als sie das Esszimmer hinter sich gelassen hatte und nun in der Eingangshalle stand. Sie blickte hoch ins Obergeschoss, wo sich Sallys Räume befanden. „Ich muss meiner lieben Freundin unbedingt helfen. Sie darf nicht im Kloster landen!“ Entschlossen ging Genefa die Treppe hinauf zu Sallys Zimmer. Auf ihr Klopfen öffnete ihr Adelaide die Tür.
„Mistress Genefa, Ihr hier? Solltet Ihr nicht unten bei der Trauergesellschaft sein?“, wurde sie von Adelaide begrüßt.
„Ja, sollte ich. Doch ich ging lieber freiwillig und der Rest wurde von der tobenden Hausherrin hinausgeworfen“, erklärte sie. „Ich muss unbedingt mit Sally sprechen. Jetzt gleich. Führe mich bitte zu ihr“, forderte Genefa die Zofe auf.
„Miss Sally schläft. Sir Selwyn hat ihr viel Ruhe verordnet. Ich darf sie nicht stören“, versuchte das Mädchen die hereinstürmende Frau zu bremsen.
„Das macht nichts. Es ist dringend. Also wecke bitte Sally“, erwiderte Genefa. „Nein, warte, das tue ich selbst“, hielt sie Adelaide zurück und stürmte in Sallys Schlafzimmer.
„Oh Gott, oh Gott“, jammerte Adelaide, sich die Haare raufend, als sie der forsch voranschreitenden Freundin ihrer Herrin nachblickte.
Bedachtsamer als sie wollte schloss Genefa die Tür hinter sich. Entgegen ihrem Vorsatz, der Freundin die unschönen Neuigkeiten sofort zu berichten, entschied sie sich anders, als sie die krank aussehende Sally bleich in ihrem Bett liegen sah. Vorsichtig setzte sie sich auf die Kante des Bettes, um die Schlafende nicht zu wecken.
„Meine arme Sally, meine geliebte Freundin, wie kann ich dir nur helfen?“, fragte sie sich. Genefa nahm behutsam Sallys Hand und streichelte sie. Der Gedanke, sie bald zu verlieren, quälte sie ungemein. Dass Sally ihr noch nichts vom Vorhaben ihrer Stiefmutter erzählt hatte, schmerzte sie allerdings noch mehr. Hatte die Freundin so wenig Vertrauen zu ihr? Sie waren doch schon viele Jahre immer die besten Gefährtinnen, die sich alles anvertrauten und Freud und Leid miteinander teilten.
Nach für Genefa ewig langer Zeit wurde Sally unruhig. Sie schien zu träumen. Immer wieder rief sie: „Nein, Lilith, geh weg! Lass mich!“ Dann wurde sie ruhiger. Ihr Gesicht schien zu strahlen. „Vater, geliebter Vater“, sagte sie mit zärtlich klingender Stimme. „Vater, wo bist du? Lass mich nicht allein!“, schrie sie auf einmal und fuhr hoch.
„Pst, du hast nur böse geträumt“, versuchte Genefa sie zu beruhigen. „Es war nur ein Traum, verstehst du. Beruhige dich.“ Zärtlich strich sie der Freundin das Haar, das sich aus ihrer Frisur gelöst hatte, aus dem verschwitzten Gesicht.
Endlich wurde Sally richtig wach. „Genefa! Was tust du hier?“, fragte sie, erstaunt über die Anwesenheit ihrer Freundin.
„Entschuldige, wenn ich dich geweckt habe“, entgegnete die Busenfreundin. „Ich muss dir etwas Wichtiges mitteilen. Dann habe ich noch eine Frage an dich.“
„Was hast du mir zu sagen, dass du mich wecken musstest?“, wollte Sally wissen. „Ich bin so müde. Am liebsten würde ich für immer schlafen.“ Sally sah bemitleidenswert aus, doch Genefa konnte jetzt darauf keine Rücksicht nehmen. Das Problem mit Sallys Stiefmutter war zu akut, was es für sie unmöglich machte, noch länger zu warten und Däumchen zu drehen.
„Deine Stiefmutter will dich bereits nächste Woche nach Canterbury schicken“, berichtete Genefa ihrer Freundin ohne Umschweife, was sie eben im Esszimmer von Lilith erfahren hatte.
Sally wurde blass. „So schnell schon? Das wusste ich nicht. Ich dachte, sie lässt mir noch ein wenig Zeit“, presste sie gequält heraus.
„Ja, so schnell schon. Doch da werden wir eine Lösung finden. Sir Selwyn, Lord und Lady Kimberley haben auch schon dagegen protestiert, haben die Gesellschaft noch vor den anderen verlassen und deiner Stiefmutter die Freundschaft gekündigt. Doch was für mich am wichtigsten ist, warum hast du mir nichts erzählt? Sind wir keine Freundinnen? Sally! Du weißt doch, ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst.“ Genefa konnte sich kaum beruhigen.
Sally wurde rot. „Ich wollte dich nicht mit meinen Problemen belasten“, versuchte sie die Freundin zu beschwichtigen.
„Für was sind Freundinnen da?“, fuhr Genefa hoch. „Wie lange weißt du das schon?“
„Seit einem Jahr“, gab Sally zu.
„So lange schon! Sally, wir hätten längst eine Lösung finden können“, schimpfte Genefa nicht ohne Grund. „Nun, wo dein Vater nicht mehr am Leben ist, wird es noch schwieriger werden. Aber lass uns überlegen. Noch haben wir eine Woche Zeit.“
Sally atmete erleichtert auf und war froh, dass ihre Freundin ihr nicht zu sehr zürnte und ihr helfen wollte. „Wir sollten vielleicht Sir Selwyn und die Kimberleys mit einbeziehen“, sagte Sally nach einiger Überlegung.
„Sir Selwyn ja, die Kimberleys nein. Letztere sind mir nicht vertrauenswürdig genug. Vor allem Kimberleys Gattin dreht sich zu leicht nach dem Wind“, warf Genefa ihre Gedanken ein.
„Hm, du hast vielleicht recht. Lord Kimberley war ein guter Freund meines Vaters. Wie nahe sie sich standen, kann ich nicht sagen. Mir wäre es lieber, wenn wir nur Sir Selwyn in unseren Plan einweihen“, gab auch Sally ihre Meinung kund.
„Was ist mit Adelaide?“, wollte Genefa wissen.
„Ich glaube, wir lassen auch sie außen vor. Um eines möchte ich dich allerdings bitten. Nimm sie in deinen Haushalt auf, falls ich hier weggehen muss“, erwiderte Sally.
„Du wirst nicht nach Canterbury gehen müssen“, widersprach die Freundin. „Wie ich meinen Gatten erklären soll, für was ich eine zweite Zofe benötige, weiß ich noch nicht. Doch ich verspreche dir, Adelaide zu mir zu holen und für sie zu sorgen. Notfalls kann sie bei mir als Kindermädchen arbeiten. Im Haushalt deiner Stiefmutter kann sie keinesfalls bleiben.“ Sie strich sich liebevoll über ihren Bauch, der sich bereits ganz wenig gerundet hatte.
Sally schaute sie an. „Sag jetzt nicht, du…“
„Genau, Rynard und ich erwarten unser viertes Kind. Da ist eine Kinderfrau doch nicht falsch, oder?“
„Ich freue mich für euch“, erwiderte Sally. „Gratuliere. Hoffentlich wird es diesmal ein Junge. Sonst macht dein Mann dir noch mehr Kinder, bis er endlich den gewünschten Erben hat.“
„Ach, was… er liebt alle Kinder, auch wenn es nur Mädchen sind. Irgendwann wird er schon seinen Erben bekommen. Wenn nicht diesmal, dann vielleicht beim nächsten Mal.“ Genefa stand auf. „Nun möchte ich dir etwas Ruhe gönnen. Ich komme morgen Nachmittag zum Tee und bringe auch Sir Selwyn mit. Bis dahin haben wir bestimmt eine Idee, wie wir dir helfen können.“
„Nein, noch besser ist, ich komme zu dir. Mit Lilith im Nacken solch ein heikles Thema zu besprechen, ist mir nicht geheuer. Wenn sie etwas herausfinden sollte, daran mag ich gar nicht denken. Lass aber bitte Sir Selwyn eine Nachricht zukommen, dass er mich morgen gegen drei Uhr hier abholen soll“, entgegnete Sally, womit Genefa einverstanden war.
Am Abend schlich Lilith wie ein Dieb aus dem Haus. Sie achtete sehr genau darauf, nicht gesehen zu werden. Der aufregende Nachmittag hing ihr zwar noch in den Knochen, doch darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie hatte bis eben in ihrem Zimmer gesessen und nachgedacht, wie sie die ungeliebte Stieftochter am schnellsten loswerden konnte. Bei ihren Überlegungen kam sie auf die Idee, die beiden Ganoven auf sie anzusetzen, damit sie sie beseitigten, so wie sie bereits Adrian aus dem Weg geräumt hatten.
Schnell schlüpfte Lilith durch die kleine Pforte, die zu einem Pfad führte, der an einem kleinen See endete. Den Weg wandelte sie oft mit ihren Freundinnen bei schönem Wetter. Doch heute hatte sie diesen Weg dazu auserkoren, sie zum wiederholten Male zu einem Treffen mit den beiden zwielichtigen Personen zu bringen. Dass sie dabei beobachtet wurde, bemerkte sie nicht.
Wie es Selwyn angenommen hatte, kam Lilith, als es dunkel geworden war, aus dem Haus und entfernte sich. Von ihr unbemerkt, folgte er ihr. Selwyn kannte sich aus, somit hatte er keine Probleme, sich zu orientieren.
Immer weiter entfernte sich Lilith vom Haus und vom Grundstück. Ohne sich umzublicken strebte sie dem kleinen See zu. Dort wurde sie bereits erwartet.
Selwyn versteckte sich in einem nahen Gebüsch, um das Gespräch zwischen den drei Personen zu belauschen. Was er zu hören bekam, ließ ihn erschauern. Dass Lilith skrupellos war und alles aus dem Weg räumte, konnte er sich denken. Aber dass sie so gewissenlos war, erst ihren Ehemann und nun auch noch ihre Stieftochter ermorden zu lassen, daran wollte er nicht glauben. Doch das, was Adrians Witwe mit den Gaunern besprach, ließ ihn erschauern. Er hatte genug gehört. Es reichte ihm aus, um Lilith und ihre Gehilfen zu überführen und sie an den Galgen zu bringen. Er musste nur die Zeit abwarten und dann unverhofft zuschlagen.
Am nächsten Nachmittag saß Lilith in ihrem Zimmer und dachte nach. Sally musste aus dem Weg geräumt werden, doch auf welche Weise? Es musste wie ein Unfall aussehen, um keinerlei Verdacht zu erregen.
Da hörte sie, wie unten eine Kutsche vorfuhr und dann nach ihrer Stieftochter gefragt wurde. Lilith spähte, neugierig geworden, aus dem Fenster hinaus. Sie erblickte die Kutsche von Sir Selwyn. Einer seiner Diener stand unten an der Treppe, die zum Eingangsportal führte und wartete. Gleich darauf kam Sally heraus und ging zur Kutsche. Lilith sprang auf und lief so schnell wie sie konnte, nach unten.
„Wo willst du hin?“, keifte sie, als Sally in die Kutsche einsteigen wollte, mit der Sir Selwyn vorgefahren war, um sie abzuholen.
„Das geht Euch gar nichts an“, sagte Sally hochnäsig und wollte sich von einem Diener in das Gefährt helfen lassen.
„Elizabeth Susan Montgomery! Ich verbiete dir, so mit mir zu sprechen!“ Liliths Stimme überschlug sich. Sie krächzte wie eine heisere Krähe.
„Ihr habt mir gar nichts zu verbieten. Ihr seid nicht meine Mutter!“, erwiderte Sally kühl wie ein Eisblock. „Danke Goeffrey“, sagte sie zu dem Diener, der ihr in die Kutsche half und sich dann mit vorn auf den Kutschbock setzte. Dann ließ der Kutscher die Peitsche knallen und die Pferde setzten sich in Bewegung.
Kopfschüttelnd und vor sich hin schimpfend blickte Lilith dem sich entfernenden Gefährt hinterher. Doch so einfach wollte sie sich von Sally nicht auf der Nase herumtanzen lassen. „Bald wirst du nicht mehr so lachen“, sagte sie zu sich selbst und ging zurück ins Haus, um weiter an ihren Plänen zu schmieden.
„Schön, dass du endlich da bist“, wurde Sally eine Stunde später von ihrer Freundin Genefa begrüßt. „Sir Selwyn, willkommen“, begrüßte sie auch Selwyn, der Sally abgeholt und zu ihr begleitet hatte. Auch Genefas Gatte hieß die Gäste willkommen. Daraufhin trafen sich alle in der Bibliothek, wo bereits ein kleiner Tisch für den Nachmittagstee gedeckt war. Genefa hielt Sally allerdings noch zurück, ihr war eben ein Gedanke aufgekommen, den sie unbedingt loswerden musste.
„Sir Selwyn schaut dich immer so komisch an. Er ist bestimmt in dich verliebt“, Genefa kicherte wie ein junges Mädchen und benahm sich keinesfalls wie eine verheiratete Frau, der bereits drei Kinder am Rockzipfel hingen und ein viertes in ihrem Bauch heranwuchs.
„Du spinnst doch“, widersprach Sally und knuffte die Freundin in die Seite.
Genefa blieb stehen und wartete bis die beiden Männer sie nicht mehr hören konnten. „Da kommt mir gerade eine Idee“, platzte sie heraus und fuchtelte aufgeregt mit ihren Händen vor Sallys Nase herum.
„Sag schon“, verlangte diese, die Genefas eigenartige Einfälle bereits zur Genüge kannte.
„Heirate doch Sir Selwyn. Damit wärst du alle Probleme und Lilith ein für alle Mal los.“
„Genefa!“, rief Sally aus. „Wie kann ich Sir Selwyn heiraten? Ich liebe ihn nicht einmal. Außerdem könnte er mein Vater sein!“
„Sei doch leise!“, schimpfte Genefa, dabei immer noch kichernd. „Überlege doch einfach mal! Sir Selwyn scheint dich zu lieben. Nein! Er liebt dich, da bin ich mir sicher. Du würdest es gut haben bei ihm. Bei dir wird die Liebe zu ihm auch noch kommen. Du darfst dich nur nicht dagegen sträuben und musst es zulassen. Rynard habe ich anfangs auch nicht geliebt. Aber nun… er ist mein Leben.“ Genefa schaute sehnsüchtig zur Tür, hinter der eben ihr Gatte und Sir Selwyn verschwunden waren. „Dass Sir Selwyn dein Vater sein könnte, weiß ich selber. Das macht doch nichts, Rynard ist auch zwanzig Jahre älter als ich und ist immer noch ein guter Liebhaber.“
„Letzteres will ich gar nicht wissen“, schimpfte Sally errötend. „Ich kann und will Selwyn nicht heiraten. Basta! Nun komm, die Herren werden bestimmt schon auf uns warten.“ Sie griff nach Hand ihrer Freundin und wie zwei Kinder liefen sie fröhlich lachend Hand in Hand zur Bibliothek. Doch in Sallys Gedanken blieb Genefas Idee hängen und nistete sich dort ein. Sollte das, was sie für Sir Selwyn empfand, doch Liebe sein?