Sally führte den Richter über die große Treppe hinauf in die erste Etage, wo sich Liliths Zimmer befanden. Henri Richardson, der zum ersten Mal im Haus war, schaute sich dabei ein wenig um. Nicht ohne einen winzig kleinen Anflug von Neid musste er feststellen, die Montgomerys lebten recht luxuriös. Das Haus war mit edlen Möbeln bestückt, den Fußboden bedeckten entweder feine Marmorfließen, geschliffenes Holzparkett oder teure Teppiche. Die Wände zierten Gemälde, die wohl Vorfahren Sallys zeigten. Von einem blickte ihm Adrian Montgomery entgegen. Neben dem Bild des verstorbenen Hausherrn hing das von Sallys Stiefmutter Lilith. Auch eines von Sally als Kind war dabei.
„Darf ich Euch meinen Gatten Raimon vorstellen?“, wandte sich Sally an Henri, der zu ihr aufgeschlossen war. „Raimon, das ist Mister Richardson, der Richter aus Trowbridge“, stellte sie auch ihrem Gemahl den Mann vor.
„Mister Richardson, willkommen“, begrüßte Raimon den Richter und reichte ihm seine Hand.
„Leider ist der Anlass unseres Kennenlernens kein Guter“, sagte der Richter, nachdem er den Gruß erwidert hatte. „Schreiten wir nun also zur Tat. Wo finde ich Mistress Lilith?“
„Gleich hier“, antwortete Raimon und zeigte auf die Tür hinter ihm.
Eben kam das Mädchen mit den beiden Bütteln die Dienstbotentreppe herauf. „Gut, dass ihr schon da seid“, rief der Richter seinen Männern entgegen.
„Du kannst dich zurückziehen. Ich brauche dich heute nicht mehr“, sagte Sally leise zu dem Dienstmädchen.
„Danke Mistress. Ich wünsche eine gute Nacht“, entgegnete das Mädchen, knickste höflich und verschwand genau so leise wie es gekommen war.
„Da sind wir, Herr“, meldete sich Larry zur Stelle. „Wie lautet Euer Befehl?“
„Wir gehen jetzt dort hinein“, der Richter zeigte auf die Tür hinter sich. „Dort wird Mistress Lilith gefangen gehalten. Wie ich sehe, habt ihr alles dabei. Fesselt die Dame, egal, wie sehr sie sich auch sträubt.“ Zu Sally und Raimon sagte er aber, sie sollten vor der Tür warten, bis er sie ruft.
„Jawohl, Herr“, erwiderten Vinnie und Larry im Chor. Raimon öffnete die Tür und die beiden Büttel stürmten hinein.
Mistress Lilith saß in einem Sessel, mit dem Rücken der Tür zugewandt. Die Männer bauten sich vor ihr auf. Richter Richardson kam hinzu. „Mistress Lilith Montgomery. Im Namen des Gesetzes und Kraft meines Amtes als Richter von Trowbridge nehme ich Euch in Gewahrsam. Erhebt Euch und streckt Eure Arme nach vorn“, sagte Henri Richardson laut und deutlich.
Lilith aber gab keinen Mucks von sich. Gegen ihre sonstige Gewohnheit wetterte sie auch nicht lauthals.
„Mistress Montgomery, habt Ihr mich verstanden“, sagte der Richter nun noch einmal laut und deutlich. Dabei tippte er an Liliths Schulter. „Ach du lieber Gott“, stieß Henri auf einmal entsetzt aus.
„Was ist los?“, fragte Raimon von der Tür her und betrat das Zimmer.
„Die Mistress scheint tot zu sein“, erwiderte Henri und fühlte den Puls an der Hauptschlagader des Halses. „Ja, da ist nichts mehr zu machen“, bestätigte er seine vorhergehende Aussage.
„Wie kann das sein?“, fragte Raimon entsetzt. „Noch vor etwa einer Stunde führte ich sie eigenhändig in ihr Zimmer und verriegelte die Tür. Da war sie noch am Leben und erfreute sich bester Gesundheit.“
„Raimon, was ist mit Lilith?“, wollte nun auch Sally wissen.
„Lilith ist tot“, erwiderte Raimon, hielt Sally aber davon ab, den Raum zu betreten. „Bitte komme nicht näher, es ist kein schöner Anblick für dich.“
Sally kam trotzdem herein. Sie konnte nicht glauben, was Raimon eben gesagt hatte. Mit eigenen Augen musste sie es sehen.
Raimon trat sofort zu seiner Gattin und hielt sie fest. „Bitte, gehorche mir, wenigstens einmal“, sagte er leise zu ihr. „Geh zu Edwina. Sie wird sich um dich kümmern.“
„Nur ungern“, erwiderte Sally. „Immerhin ist es mein Haus, in dem diese Frau zu Tode gekommen ist.“ Sie gab sich notgedrungen geschlagen.
„Danke“, flüsterte Raimon ihr zu und gab ihr einen Kuss.
„Es ist wirklich besser, wenn wir Eurer Gemahlin in ihrem Zustand diesen Anblick ersparen“, sagte Richter Richardson, nachdem Sally gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Doch auch für Euch wird das kein gewöhnlicher Anblick sein“, warnte er Raimon.
„Ich bin den Anblick von Toten gewöhnt. Mich schreckt so schnell nichts ab“, gab der Henker zu.
„Seid Ihr Arzt?“, fragte Henri neugierig.
„So etwas Ähnliches“, antwortete Raimon. „In meinem früheren Leben war ich Scharfrichter. Meiner Gattin zuliebe habe ich diesen Beruf aufgegeben und bin ihr mit meinen beiden Neffen und meiner Nichte hierher gefolgt“, erzählte Raimon. Ihm war es lieber, der Richter erfuhr von seiner Vergangenheit von ihm persönlich als aus fremden Munde.
„Ich bin, ehrlich gesagt, sehr erstaunt“, erwiderte Richardson. Aber dann lenkte er das Gespräch zurück zur Toten. Die Ursache ihres Ablebens musste geklärt werden. „Was meint Ihr, woran Mistress Lilith verstorben ist`“, fragte er.
„Das ist mir gerade auch unerklärlich. Sie erfreute sich bester Gesundheit, soweit ich dies beurteilen kann. Ich tippe auf ein schnell wirkendes Gift oder sie ist einfach so gestorben. Letzteres fände ich zu viel Zufall“, antwortete Raimon. „Äußerliche Schäden an ihrem Körper, die sichtbar sind, kann ich auf den ersten Blick nicht feststellen. Um mir ein genaueres Bild machen zu können, müsste ich die Tote entkleiden und untersuchen.“
„Sollten wir dazu nicht einen Arzt zu Rate ziehen?“, wollte der Richter wissen.
„Wenn Ihr mir nicht vertraut, was ich Euch keinesfalls übel nehme, dann tut das. Immerhin bin ich der Gatte der Stieftochter der Verstorbenen, hätte ein Motiv, die Dame aus dem Weg zu räumen und war obendrein ein Scharfrichter.“ Raimon sagte diese Worte nicht ohne Grund. Der Richter könnte auf die Idee kommen und ihm die Schuld an Liliths Tod zuschieben wollen.
„Gibt es, außer Sir Selwyn Wellington, einen weiteren Arzt in Trowbridge und Umgebung? Ich denke, Wellington wird meine Gattin nicht im Haus haben wollen, nachdem was er sich ihr gegenüber geleistet hat“, fragte er deshalb.
Richardson überlegte, kam aber nicht auf den Namen des Arztes aus dem Nachbarort Bradford-on-Avon.
„Sire, entschuldigt. Ihr meint Doktor Godric Armstrong“, meldete sich Vinnie zu Wort, der mit Larry beiseitegetreten war, um die Herren bei ihren Ermittlungen nicht im Wege zu stehen.
„Genau den meine ich!“, lobte Henri seinen Büttel. „Doktor Armstrong hat uns schon öfter geholfen, ungeklärte Todesfälle aufzudecken.“
„Dann holen wir diesen Armstrong“, sagte Raimon.
„Denkt Ihr, wir können ihn jetzt noch belästigen? Es ist weit nach Mitternacht“, erwiderte Henri.
„Ihr habt Recht. Es ist wahrlich sehr spät. Verlegen wir das Ganze auf morgen früh“, hieß Raimon den Einwand ebenfalls als gut. „Darf ich Euch ein Bett für die Nacht anbieten? Jetzt noch zurück nach Trowbridge zu fahren und in der Frühe erneut hierher zu kommen, wäre zu viel verlangt.“
„Wenn es Euch nichts ausmacht, gerne“, antwortete der Richter. „Ich habe zwar nichts dabei, aber Toilettenartikel und ein Nachthemd kann ich bestimmt von Euch erhalten.“
„Natürlich“, entgegnete Raimon. Dann wandte er sich an die beiden Büttel. „Was ist mit euch? Im Dienstbotentrakt ist auch Platz für euch.“
„Wir würden gerne zurückfahren“, erwiderte Larry. „Wir könnten im gleichen Atemzug Eurer Gemahlin Bescheid geben, dass es hier länger dauert“, boten sie dem Richter an.
„Gut, dann macht das. Ich habe meiner guten Frau zwar gesagt, es wird spät. Aber wenn ich gar nicht nach Hause komme, wird sie sich auch sorgen. Haltet euch aber bereit, falls ich euch hier noch einmal brauchen sollte.“
„Jawohl, Sire“, antworteten die Büttel im Duett. „Wir wünschen, gut zu ruhen.“
„Dann geht jetzt“, befahl Henri und die Büttel machten sich auf den Rückweg nach Trowbridge.
„Am besten, wir verschließen die Tür, damit niemand hereinkommen kann“, schlug Raimon dem Richter vor. „Den Schlüssel verwahrt Ihr.“
„Vorher sollten wir die Tote auf das Bett legen und sie abdecken“, erwiderte Henri Richardson. „Auch wenn sie eine Verbrecherin war, diesen Respekt sollten wir ihr zollen.“
Nachdem das getan und das Zimmer fest verschlossen war, zeigte Raimon dem Besucher sein Zimmer. Von Sally wusste er, dass Lilith immer darauf geachtet hatte, dass Räume für unverhofft übernachtende Gäste vorbereitet waren. „Leider kann ich Euch keine Mahlzeit mehr anbieten. Die Dienstboten schlafen bereits alle. Es war auch für sie ein langer Tag“, entschuldigte sich Raimon.
„Das macht nichts“, erwiderte der Richter. „Ich aß mit meiner Gattin eben zu Abend, als ich hierher beordert wurde. Bis zum Frühmahl werde ich bestimmt nicht verhungern“, scherzte er noch.
„Dann wünsche ich eine gute Nachtruhe“, sagte der Scharfrichter und zog sich zurück.
Richardson schaute Raimon nachdenklich hinterher. „Ein wahrlich eigenartiger Zeitgenosse“, führte er Selbstgespräche. „Aber auch sehr offen. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass er ein Henker war. Wer gibt schon freiwillig zu, einen unehrlichen Beruf ausgeführt zu haben. Jemand, der etwas zu verbergen hat, ganz bestimmt nicht. Oder?“, er hielt inne. „Er will etwas verbergen und den Verdacht von sich ablenken.“ Der Richter lief auf und ab. „Nein, der Scharfrichter war es ganz bestimmt nicht. Da bin ich mir sehr sicher“, sagte er dann laut. „Er hat seine Schwiegermutter nicht getötet. Entweder wurde sie von jemand anderen ums Leben gebracht oder sie tat es selbst.“ Henri sinnierte weiter. „Falls sie es nicht selbst getan hat, wie soll der Mörder ins Zimmer gekommen sein? Gibt es einen geheimen Gang, von dem Lilith nichts wusste? Stieg er durchs Fenster ein? Hatte sie Feinde? Wenn ja, wer?“ Fragen über Fragen, die sich der Richter noch nicht beantworten konnte.
Raimon ging noch einmal nach draußen, um frische Luft zu schnappen. Auch er überlegte, wie Lilith zu Tode gekommen sein könnte. Für ihn kam nur ein schnell wirkendes Gift infrage. Doch wie sollte die Frau daran gekommen sein?“
Vor dem Haus traf er den Knecht, der die Fenster der Mistress sicherte. „Du kannst jetzt schlafen gehen. Die Mistress muss nicht mehr bewacht werden“, sagte er zu dem Mann, der krampfhaft ein Gähnen unterdrückte.
„Und wenn sie wieder versucht, zu fliehen? Ich möchte nicht daran schuld sein, dass sie ihrer gerechten Strafe entgeht“, antwortete der Untergebene.
„Darüber musst du dir keine Gedanken mehr machen. Mistress Lilith wird nicht mehr das Weite suchen können“, beruhigte Raimon ihn.
„Aber sie hat es schon versucht. Aus dem Fenster wollte sie klettern“, berichtete der Mann aufgeregt. „Sie muss wohl ein sehr schlechtes Gewissen haben, dass sie die Flucht auf die Art und Weise versuchte. Zum Glück ist es ihr nicht gelungen.“
„Ich habe davon gehört. Sehr gut, dass du so aufmerksam warst“, lobte Raimon den Knecht. „Über den Dienstbotenaufgang hat sie es auch versucht, nachdem sie den Butler Walter in die Irre geführt hatte.“ Raimon holte kurz Luft. „Die Mistress ist tot“, sagte er dann doch. „Ist dir irgendetwas ungewöhnliches aufgefallen?“
Der Arbeiter riss erstaunt den Mund auf. Nachdem er Raimon sagte, dass er nichts bemerkt habe, sprach der Henker weiter. „Wir wissen auch noch nicht, wie das passieren konnte. Das soll Doktor Armstrong mit meiner Hilfe herausfinden. Bitte reite in der Frühe nach Bradford-on-Avon und bitte den Herrn hierher. Erkläre ihm, warum wir ihm herbei rufen und auch, dass Richter Richardson aus Trowbridge noch im Haus ist und ihn hier erwartet.“
„Ich werde alles zu Eurer Zufriedenheit ausführen“, beeilte sich der Knecht zu antworten.
„Ach ja, bitte keine Gerüchte in die Welt setzen, ehe wir Ergebnisse haben. Vor dem Frühmahl werden Mistress Sally und ich alle Bediensteten zusammenrufen und euch über den Vorfall informieren“, hielt Raimon den Angestellten noch einmal kurz zurück, ehe der die Tür zum Dienstbotentrakt hinter sich schloss.
Raimon ging noch nicht nach oben. Die Fackeln vor dem Haus waren fast heruntergebrannt. So nutzte er das wenige Licht, um sich im Beet vor Liliths Fenstern umzuschauen. Trotz schlechter Sicht sah er etwas Gläsernes blinken. „Was ist das denn?“, fragte er, bückte sich und schob ein Büschel vertrocknetes Gras beiseite. Er hob es auf, schaute es sich genauer an und erkannte, es war eine kleine Ampulle. Ob er mit dem Fund der Wahrheit ein wenig näher kam?