Nachdem Sir Selwyn und Garrick Moore die Nacht im Gasthaus in Canterbury verbracht hatten, machten sie sich am nächsten Morgen auf den Weg nach Dover. Dort vermuteten sie, Spuren der vermissten Sally Montgomery zu finden. Unterwegs besprachen die beiden Männer ihre weitere Vorgehensweise.
„Ihr bringt Euch keineswegs in Gefahr“, mahnte Garrick Sir Selwyn zum wiederholten Male. Er war zwar froh, nun nicht mehr allein nach Miss Sally suchen zu müssen, trotzdem war es ihm mulmig zumute. Sir Selwyn würde sich garantiert zu wehren wissen, falls es gefährlich werden sollte. Doch mutwillig in Gefahr wollte er ihn nicht bringen. Wer weiß, zu was die Ganoven, die die Gesuchte entführt hatten, noch fähig waren.
„Mister Moore, was haltet Ihr eigentlich von mir!“, fuhr Sir Selwyn den neben ihm reitenden Kundschafter an. „Ich bin kein kleiner Junge mehr, der sich ängstlich an den Rockzipfel seiner Mutter klammert. Es geht hier immerhin um meine zukünftige Ehefrau.“ Sir Selwyn war aufgebracht wie selten zuvor.
„Sir, natürlich weiß ich, zu was Ihr durchaus fähig seid. Ich bin auch froh, dass Ihr Euch an der Suche nach Miss Sally beteiligt. Vier Augen sehen mehr als nur zwei. Auch ich bin nicht vor Irrungen gefeit. Ihr solltet Euch aber trotzdem der Gefahr bewusst sein, in die wir geraten könnten.“ Garrick redete mit Engelszungen auf seinen Begleiter ein. „Ich würde Euch nie Euren Mut absprechen. Daher bitte ich Euch, sobald es gefährlich für Euer Leib und Leben wird, Euch sofort zurück zu ziehen und sich in Sicherheit zu begeben. Ich habe keine Lust, auch noch nach Euch suchen zu müssen.“
Selwyn gab sich ungern geschlagen. Er war eine Kämpfernatur und wollte dies zum Ausdruck bringen. Natürlich hatte der Detektiv recht. Was brachte es ihm, Sally befreit zu wissen, wenn er womöglich sein Leben dafür lassen musste. „Wenn Ihr es so wünscht, werde ich mich natürlich an Euren Rat halten“, sagte er zu ihm, obwohl er nichts lieber täte als an vorderster Front zu kämpfen. Den Rest des Weges blieb er eher schweigsam und hing seinen Gedanken nach. Er dachte an Sally, die er lieber heute als morgen in seine Arme schließen würde. Doch erst mussten sie die junge Frau finden.
In Dover angekommen, suchten sich die beiden Männer als erstes eine geeignete Unterkunft zum Übernachten. Nahe des Hafens wurden sie fündig. Das Gasthaus war zwar einfach, aber zum Übernachten fanden es die Herren ausreichend. Dank Sir Selwyns aristokratischen Auftretens und großzügig im Voraus bezahlten Geldes für die Unterkunft, war es ihnen vergönnt, ein Zimmer für sich allein beziehen zu können. Dorthin konnten sie sich ungestört zurückziehen und sich besprechen. Sie wollten ein paar Tage bleiben, um ihre Suche von dort aus in Ruhe weiterführen zu können.
Der Wirt war anfangs nicht sehr angetan von Sir Selwyns Verhalten. Doch als er die Münzen in den Händen hielt, die ihm der edle Herr überreichte, änderte er abrupt seine Meinung. Wann schon hatte er in dieser miesen Gegend so gut zahlende Gäste bewirten können. Katzbuckelnd bot er den Männern das beste Zimmer des Hauses an.
„Bitte sehr, Sir. Ich hoffe, es ist Euch genehm“, lispelte der Wirt durch seine Zahnlücken, als er hinter den beiden Herren das Zimmer am Ende des Ganges im oberen Stockwerk des Gasthauses betrat. Eifrig riss er das winzige Fenster auf, um frische Luft hereinzulassen. Der Luftzug, der hereinwehte, wirbelte Staub auf, der sich auf den wenigen Möbeln abgesetzt hatte. „Ich werde sofort nach der Magd schicken. Sie wird Euch alles richten. Meine Knechte werden auch ein zweites Bett bringen.“ Der Wirt wieselte herum wie ein Derwisch, um es den Gästen so genehm wie möglich zu machen.
„Ja, ja, schon gut“, erwiderte Sir Selwyn genervt. „Lasst auch einen Badezuber und heißes Wasser bringen. Wir wünschen zu baden.“ Selwyn wedelte mit der Hand, um den Wirt nach draußen zu scheuchen. Immer wieder katzbuckelnd entfernte sich dieser endlich.
„Was für ein Schleimer“, sagte Garrick, nachdem der Mann die Tür hinter sich geschlossen hatte.
„Unser Aufenthalt hier wird nicht lang sein“, erwiderte Selwyn. „Das werden wir schon aushalten. Ich habe schon in schlechteren Kaschemmen nächtigen müssen. Außerdem werden wir hier nur zum Schlafen sein. Da wird uns der Kerl hoffentlich in Ruhe lassen.“ Selwyn lief rastlos in dem kleinen Raum auf und ab. „Was gedenkt Ihr, als nächstes zu tun?“, wollte er von Garrick wissen, der den Trubel unten auf der Straße beobachtete.
„Ich würde sagen, unser nächster Weg wird uns zum Hafenmeister führen. Dort möchte ich mich nach allen ausgelaufenen Schiffen der letzten Zeit erkundigen. Vielleicht erinnert sich jemand an Franklin und Henry. Die beiden müssten mit einem Fuhrwerk hier angekommen sein. Das Fuhrwerk oder die Pferde müssen irgendwo geblieben sein, wenn sie zuletzt auf einem auslaufenden Schiff nach Amerika gesichtet wurden. Ich denke nicht, dass sie zu Fuß in die Stadt gekommen sind.“
Sir Selwyn hörte aufmerksam zu. Der Detektiv musste recht haben. Die Schlüsse, die er zog, kamen nicht von ungefähr. Die beiden Gauner mussten schneller unterwegs gewesen sein als es zu Fuß möglich sein konnte. Dazu kam nur ein Fuhrwerk oder ein Pferd in Frage. Da Sally angeblich betäubt gewesen sein sollte, konnten sie das Mädchen kaum bis Dover getragen haben.
„Seid Ihr Euch sicher, dass wir hier Dover an der richtigen Stelle sind?“, wollte Selwyn wissen.
„Ob wir hier richtig sind, das kann ich nicht sagen“, erwiderte der Kundschafter wahrheitsgemäß. „Falls wir es wider Erwarten nicht sein sollten, müssen wir halt an anderen Orten weitersuchen. Ein Mensch kann nicht verschwinden, ohne jedwede Spur zu hinterlassen. Auch Miss Sally nicht.
Während die beiden Männer über ihr weiteres Vorgehen diskutierten, klopfte es an die Tür. Nach einem „Herein“ betrat eine dralle junge Magd mit einem wogenden Busen mit zwei schweren Eimern bewaffnet ins Zimmer. Hinter ihr zerrte ein Knecht einen großen Badezuber herein.
„Sire, Ihr wolltet baden“, sagte die Magd. „Ich bringe sogleich noch zwei weitere Eimer Wasser, Seife, Lappen und Tücher zum Abtrocknen.“
„Ja, ja, schon gut“, versuchte Selwyn das Mädchen abzuwimmeln, die sich ungewöhnlich lange in seiner Nähe aufhielt und ihn anhimmelte.
„Wenn Ihr dann noch etwas benötigen solltet, lasst einfach nach mir rufen. Dann werde ich Euch alles bringen“, plapperte die Magd ohne Punkt und Komma.
Während das Mädchen mit den Gästen sprach, war der Knecht nicht untätig. Er hatte inzwischen den Badezuber mitten im Raum aufgestellt. Das mitgebrachte Wasser schüttete er in den Zuber. „Komm schon, Mädchen. Die Herren wollen ungestört sein. Dein Geplapper nervt sie ganz bestimmt“, herrschte er die Magd an. „Komm endlich!“, fuhr er sie nochmals an, als sie immer noch nicht reagierte und Selwyn weiterhin anhimmelte. Er zerrte das Mädchen hinter sich her, das ihm widerstrebend folgen musste. Kurz schaute sie nochmals zu Sir Selwyn, der sie bereits nicht mehr wahrnahm und sich angeregt mit Garrick unterhielt.
„Wenn du beim Servieren in der Gaststube auch so fleißig wärst wie bei diesen beiden Gästen, würde dich unser Herr sehr viel weniger züchtigen“, schimpfte der Knecht mit ihr.
Garrick und Sir Selwyn hatten das kurze Intermezzo mit der Magd bereits wieder vergessen. Der Kundschafter hatte seiner Begleitung beim Baden den Vortritt gelassen. Er selber hatte den kleinen Tisch zum Fenster gezogen. Eigentlich hatte er das Talglicht anzünden können. Doch das Licht war beinahe aufgebraucht. Ob der Wirt für Nachschub sorgen könnte, wusste er nicht. So sparte er den kärglichen Rest lieber für die Nacht auf. Nun saß Garrick vor dem Fenster und blätterte in seinen Aufzeichnungen.
„Ich denke, hier am Hafen befindet sich nicht nur eine Spelunke“, sagte Garrick zu Sir Selwyn. „Wir sollten dort mit der Suche beginnen. Den Hafenmeister werden wir heute Abend nicht mehr in seinem Kontor finden. Daher denke ich, morgen früh wird das unser erster Weg sein. Die Zeit bis dahin sehen wir uns in den Gasthäusern um.“ Er wollte noch sagen, auch in den Hurenhäusern. Doch das verkniff er sich lieber. Damit wäre Sir Selwyn garantiert nicht einverstanden. Er selber war aber der Meinung, auch diese Möglichkeit in Betracht ziehen zu müssen. So nahm er sich vor, die Hurenhäuser allein abzusuchen.
Sir Selwyn und Garrick Moore erreichten am späten Abend schon recht angeschickert eine kleine Spelunke, in denen meist Matrosen oder Mannschaften von Handelsschiffen verkehrten. Die Seeleute waren meist nur wenige Tage an Land und versoffen oder verhurten ihre schwer verdiente Heuer in den Trinkstuben nahe des Hafens. Es gab Wein, Weib und Gesang. Am meisten aber Weib, vor allem für die Matrosen, die auf ihren Schiffen natürlich keine Frauen mit an Bord hatten.
Garrick spitzte die Ohren, wagte es aber auch, andere Trinker nach Sally zu fragen. Doch keiner hatte etwas gehört oder gesehen.
Sir Selwyn selbst hatte neben ein paar edel gekleideten Herren Platz genommen. Angeregt unterhielt er sich mit ihnen. Es waren Handelsleute, die mit ihrem Schiff kostbare Gewürze und Tuche aus Genua nach Dover gebracht hatten. Die Handelsleute erzählten von Piraten, die auf hoher See Handelsschiffe überfielen und ausraubten. Die Besatzung der Schiffe wurde dann meist an Sklavenhändler verkauft. Vor allem junge Mädchen waren sehr begehrt. Sie selber wären dieses Mal auf ihrer Reise nach Dover verschont geblieben und hofften nun, auch auf der Rückreise nach Genua würde ohne Hindernisse vonstatten gehen.
Sir Selwyn sprach seine Tischnachbarn auf die Sklavenschiffe an. Er wollte wissen, ob in der letzten Zeit in Dover eines ausgelaufen ist.
„Ihr wollt Euch wohl auf die Schnelle noch einen Sklaven zulegen?“, grölte einer der Kaufmänner und schlug vor Lachen mit der flachen Hand auf den Tisch.
„Gott bewahre mich vor Sklaven. Das ist abartig“, erwiderte Selwyn angeekelt. „Ich bin auf der Suche nach meiner Braut, die vor ein paar Tagen entführt wurde.“ Er hängte sich mit seiner Aussage zwar ein wenig weit aus dem Fenster, aber so erhoffte er sich, mehr von den Männern erfahren zu können.
„Das ist natürlich eine sehr pikante Sache“, erwiderte ein junger Mann. „Wer lässt sich schon gerne die Braut entführen. Wie kommt Ihr darauf, dass sie sich auf einem Sklavenschiff befindet.“
„Das letzte Mal wurde meine Braut hier in Dover am Hafen gesichtet“, berichtete Selwyn. „Am selben Tag ankerte hier ein Sklavenschiff, das wenig später auslief.“
„Am besten wird es sein, Ihr erkundigt Euch beim Hafenmeister persönlich“, riet der eine. „Doch ob er auch genaues über Passagiere oder Waren Kenntnis hat, das kann ich nicht sagen. Obwohl… Sklaven werden als Waren bezeichnet, die bekannterweise zollpflichtig sind.“
„Herzlichen Dank“ erwiderte Selwyn. „Ich mache mich gleich auf den Weg zum Hafenmeister und erkundige mich.“
„Nicht so eilig, junger Mann“, wurde er aufgehalten. „Um diese Zeit ist auch der fleißigste Hafenmeister nicht mehr in seinem Kontor. Also setzt Euch an den Tisch und trinkt noch ein wenig mit uns. Es ist unsere letzte Nacht hier in Dover. Morgen früh laufen wir in Richtung Genua aus.“
„Das ist gut gemeint“, erwiderte Selwyn und legte ein paar Münzen auf den Tisch. „Die nächste Runde geht auf mich“, sagte er noch und verabschiedete sich.
Vor der Tür blieb Selwyn stehen und holte tief Luft. Der Gestank im Gastraum reizte sein sensibles Riechorgan. Er war froh, den übervollen Raum verlassen zu können. Draußen war es allerdings auch nicht viel besser. Einer der Fischhändler hatte anscheinend seinen Abfall auf der Straße neben dem Gasthaus entsorgt. Nun gammelte dieser still vor sich hin und verbreitete einen widerwärtigen Gestank. Fliegen kreisten aufgeregt über dem Haufen. Auch einige Ratten fühlten sich angezogen und taten sich an den Resten gütlich. Angeekelt wandte sich Selwyn ab und wäre beinahe noch über ein riesiges Nagetier gestolpert, das ihm laut fiepend vor die Füße gelaufen war.
„Habt Ihr schon genug?“, hörte Sir Selwyn die Stimme des Kundschafters hinter sich. Garrick hatte bemerkt, dass sein Begleiter das Gasthaus verlassen wollte und war ihm gefolgt.
„Die Luft da drinnen ist widerwärtig“, erwiderte Selwyn. „Hier draußen übrigens auch. Habt Ihr etwas herausfinden können?“
„Bisher nicht. Keiner hat Miss Sally gesehen“, antwortete Garrick.
„Ich habe leider auch keine Neuigkeiten“, sagte Selwyn, noch bevor Garrick fragen konnte. „Doch habe ich einen Tipp bekommen, dass der Hafenmeister uns wahrscheinlich helfen könnte. Aber auf die Idee sind wir schon selbst gekommen.“ Enttäuscht wandte sich Selwyn ab. „Ich gehe schon mal vor“, sagte er noch zu Garrick und entfernte sich ohne weitere Worte.
Garrick Moore blickte Sir Selwyn besorgt nach. „Hoffentlich macht er keinen Alleingang“, dachte er sich. Für ihn selbst war solch eine Suche schon gefährlich. Man wusste ja nie, an welches Gesindel man geriet. Ein falscher Schritt, oder eine Frage an die falsche Person, schon konnte die Suche erfolglos zu Ende sein oder man landete im schlimmsten Fall gleich in einem abgelegenen Gülleloch und wurde nie wieder gesehen.
Gedankenverloren schritt der Kundschafter durch die dunklen Gassen der Hafenstadt. Normalerweise konnte er in den Gasthäusern und unter dem niedrigen Volk mehr erfahren als anderswo. Doch in dem Fall Sally Montgomery lief er bisher nur gegen Wände. Keiner hatte sie gesehen, nirgendwo war sie angekommen. Sie war und blieb spurlos verschwunden.