Obwohl es Sabrin im Herzen schmerzte, Edwina im Hurenhaus zurücklassen zu müssen, war sie froh, dem verhassten Ort den Rücken zuwenden zu können. Sabrin war, genau wie Sally, ungewollt in die Lage gekommen, als Dirne arbeiten zu müssen. So wie Sally befürchtete auch sie, Rodney wieder in die Hände zu fallen. Zum Glück schlief der eben mit seinen Freunden seinen Rausch aus. Sie musste lächeln, als sie an Edwina denken musste, die die Männer mit Mohnsaft betäubt hatte. So konnten Sally, Sabrin und Raimon genug Wegstrecke zwischen den Verfolgern und ihnen herausholen.
Sabrin musste auch an Sally denken, die nun hoffentlich bald in Sicherheit sein müsste. Schade war nur, dass sie sich entschlossen hatte, nicht zu ihren Freunden zurückzukehren. Nun war sie mit Raimon auf dem Weg nach Dover zu dessen Bruder. Sie hoffte sehr, dass sie selbst in Dilton Marsh Sallys Freundin Genefa Longbird finden konnte. Vielleicht war sie in der Lage, Mistress Genefa dazu zu überreden, Sally aus Dover zurück zu holen. Doch erst musste sie die Frau finden. Alles Weitere würde sich bestimmt ergeben.
Während sich die drei Flüchtigen immer weiter von Exmouth entfernten, wurde es im Hurenhaus langsam hektisch. Rodney war aus seinem Rausch erwacht und verlangte lautstark nach neuem Branntwein. Sein Geschrei ließ auch seine Kumpane erwachen.
„Was schreist du so herum?“, fragte einer von ihnen und streckte sich laut gähnend. „Mir brummt der Schädel wie ein Bienenschwarm“, murrte er dann.
„Edwina! Weib! Bring uns was zu trinken!“, forderte Rodney schon wieder. Auch er griff sich an den Kopf, da diesen ein stechender Schmerz durchzog. „Was war das vorhin nur für ein Gesöff“, grummelte er vor sich hin. Schwankend stand er auf und taumelte zur Tür. Fast wäre er erneut gefallen, wenn er sich nicht am Türpfosten festgehalten hatte. „Edwina!“, brüllte er erneut nach der Alten. Er schaute den Flur hinunter, wo die Frau eben aus ihrer Kammer geschlurft kam.
„Was schreist du so? Ich komme ja schon“, schimpfte die Frau.
„Wir haben Durst. Bring uns was“, forderte Rodney.
„Elendes Saufpack“, murrte Edwina, trollte sich aber schnellstens, um Rodney das Gewünschte zu bringen. Sie kannte den Mann gut genug. Unter Alkohol wurde er meist zur Bestie.
„Hol mir Sabrin her“, befahl ihr Rodney, als sie einen Krug Branntwein brachte und auf den Tisch stellte.
„Die ist nicht da“, erwiderte Edwina.
„Wo ist dieses Flittchen schon wieder. Wenn man die einmal braucht, ist sie nie da!“ Rodney war wütend. Vor Zorn schwoll ihm schon wieder eine Ader am Hals.
„Was weiß ich. Seit wann bin ich ihr Kindermädchen?“, antwortete die Alte und sah den Hurenwirt forsch an.
„Dann lass es! Darum kümmern wir uns später“, spie Rodney ihr entgegen. „Raus mit dir! Wir haben etwas zu besprechen, das nicht für deine Ohren gedacht ist“, fuhr er sie dann noch an, worauf Edwina schleunigst das Weite suchte.
„Hoffentlich sind die Mädchen schon aus der Stadt und in Sicherheit. Ich wünsche es ihnen“, seufzte die Frau, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Und so Gott es will, kommen sie auch gesund und munter an ihrem Ziel an.“
„Die Hure Sabrin ist nicht da. Vielleicht finden wir sie nachher im Haus des Henkers“, sagte Rodney zu seinen Kumpanen, die am Tisch auf ihren Stühlen saßen und krampfhaft versuchten, wach zu bleiben. „Wir sollten uns beeilen, ehe alle flüchten können.“ Er sah seine Kameraden forsch an, die ihm mit müden Augen entgegenblickten.
„Lass uns erst noch einen trinken. Ich habe Durst wie ein Pferd“, sagte einer der Männer. Er nahm seinen vor ihm stehenden Becher und hielt ihn Rodney hin. „Du willst uns doch nicht verdursten lassen“, knurrte er ihn an, als dieser nicht gleich reagierte
Murrend füllte Rodney allen den Becher. Dann prosteten sie sich zu und wünschten sich Erfolg bei der Hurenjagd.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit machten sich Rodney und seine Kameraden auf den Weg zum Haus des Henkers. Mit reichlich viel Alkohol im Blut liefen sie laut grölend durch die Gassen der Stadt. Sie pöbelten und schubsten die Passanten, die ihnen nicht schnell genug aus dem Weg gingen. Die meisten wichen ihnen erschrocken aus, sie kannten Rodney und seine Bande. Niemand hielt sie freiwillig auf.
Bevor sie bei Raimons Haus ankamen, hielt Rodney seine Freunde auf. „Die müssen nicht gleich mitbekommen, dass wir im Anmarsch sind. Sonst sind die Vögelchen ausgeflogen, ehe sie uns ins Netz gehen“, erklärte Rodney wichtigtuend. „Am besten, wir teilen uns auf und kommen gleichzeitig von mehreren Seiten.“ Der Hurenwirt war wie aus heiterem Himmel wach. Der vorher genossene Alkohol war ihm nicht mehr anzumerken. „Du gehst dort herum“, bestimmte er dem einen den Weg, den anderen schickte hinten ums Haus, sein bester Freund sollte von rechts kommen. Er selber wollte von der Straßenseite aus eindringen.
Die Männer teilten sich wie besprochen auf. Jeder schlich so leise es ging, an das Haus des Henkers heran. Inzwischen war es dunkel genug, dass es nicht auffiel, wie sie sich heranpirschten. Nur Rodney ging ganz offiziell auf der Straße, um an die Vordertür zu klopfen.
Das Haus des Henkers lag im Dunkeln. Normalerweise war Raimon um diese Tageszeit zu Hause, wenn er nicht zu hilfesuchenden Menschen gerufen wurde, oder die Hurenhäuser der Stadt kontrollierte. Nur heute war es für Rodney verdächtig still. Ihm schwante nichts Gutes.
„Raimon, mach auf!“, rief Rodney laut und polterte gegen die Vordertür. „Raimon, wir haben zu reden! Du hast etwas, was dir nicht gehört!“ Immer wieder hämmerte der Hurenwirt an die Tür. Doch nichts rührte sich. Totenstille im Haus. Nun doch etwas erstaunt, schaute Rodney sich um. Gerade kam einer seiner Kumpane um die Ecke. Kopfschüttelnd blickte er ihn an.
„Der Henker scheint ausgeflogen zu sein“, sagte Rodney zu ihm.
„Um die Zeit ist er doch meist zu Hause“, kommentierte sein Saufkumpan.
„Was steht ihr hier rum? Wollt ihr nicht reinkommen?“, hörten sich plötzlich den einen, der sich von hinten an das Haus heran geschlichen hatte und nun in der Haustür stand. Auch der zweite kam jetzt dazu.
Rodney fuhr herum. Lachend schlug er seinem Kumpel auf die Schulter. „Gut gemacht“, lobte er ihn, als er sah, dass der die Tür von innen geöffnet hatte. Schnell schlüpften sie ins Haus, damit sie nicht auffielen und Nachbarn vielleicht sogar noch Alarm schlugen, der wiederrum die Stadtwache anlocken würde.
Drinnen schauten sie sich um. Anfangs wollten sie Kerzen anzünden, aber dann entschieden sie sich dagegen. Sollte der Henker doch unverhofft zurückkommen, würde er sofort Verdacht schöpfen und ihnen nicht in die Falle gehen. Obwohl sie zu viert waren, hätten sie gegen den Riesen von Henker nicht viel auszurichten. Der Kerl war stark wie ein Bär, der jeden seiner Gegner ohne weiteres mit einem einzigen Fausthieb in die Hölle schicken könnte.
„Suchen wir das Haus Kammer für Kammer ab. Viel ist es ja nicht“, bestimmte Rodney. „Du kommst mit mir“, sagte er zu dem ihm am nächsten stehenden Kumpan. „Wir gehen hier rein“, er zeigte auf die Tür, die zum Wohn- und Schlafraum führte. „Ihr sucht draußen im Hof und im Nebengelass nochmal alles ab.“
Die Kumpane schwirrten aus. Das Tageslicht erlaubte es gerade noch so, die Kammern zu durchsuchen. In jede noch so kleine Ecke schaute er. Die Kleidertruhe wurde durchsucht, auch in die Kiste, in der der Henker seine Salben aufbewahrte, schaute er hinein. Alles, was als mögliches Versteck genutzt werden konnte, wurde inspiziert. Doch nirgendwo konnten die Flüchtigen entdeckt werden.
„Die sind ganz bestimmt längst über alle Berge“, kommentierte Rodneys Kumpan die erfolglose Suche.
„Halt dein Maul, das sehe ich selber“, knurrte Rodney und trat mit voller Wucht gegen die Truhe. Außer, dass ein paar Staubwolken aufwirbelten, geschah nichts.
Nun kamen auch die anderen, die Hof und Garten abgesucht hatte, herein.
„Und…?“ Rodney sah den beiden neugierig entgegen.
„Keine Spur von Raimon gefunden. Von Sally und Sabrin auch nicht. Die sind eindeutig weg.“
„Verdammte Scheiße! Das gibt es doch nicht“, fluchte der Hurenwirt. „Wenn ich die in die Pfoten kriege!“ Am liebsten hätte er im Henkerhaus alles kurz und klein geschlagen. Doch das hätte ihm Raimon sehr übel genommen. „Jetzt fehlen uns schon zwei Dirnen. Wenn das so weitergeht, können wir die Hütte bald dicht machen.“
„Wo bekommen wir nun neue Weiber her?“, fragte einer seiner Freunde.
„Was weiß ich. Darum hat sich immer Aelfric selbst gekümmert. Ich war nur sein Handlanger, der nichts zu sagen hatte“, knurrte Rodney. „Aber scheiß erst einmal auf die Weiber. Gehen wir einen trinken. Auf den Schreck brauche ich einen guten Schluck.“
Rodney stapfte hinaus, seine Kumpane im Schlepptau. Krachend knallte die Tür hinter ihnen zu, dass sie beinahe aus den Angeln fiel. Im nahe gelegenen Wirtshaus fanden sie einen guten Tropfen, der wie Öl durch ihre Kehlen rann. Schon bald wusste keiner mehr von den vier Kumpanen, wie sie hergekommen waren und was sie suchten. Sally, Sabrin, aber auch der Henker waren vorerst vergessen.