Während Raimon und Sally mit Delmores Kindern auf dem Weg nach Exmouth waren, saßen Garrick Moore und Sir Selwyn Wellington in Dover in der Gaststube ihrer Unterkunft. Die beiden grübelten und wussten nicht weiter.
„Ich bin am Ende meines Lateins“, gab Garrick genervt zu. Selwyn, der genau wie er selber, recht missmutig dreinschaute, nickte nur. „Wo mögen die beiden nur sein. Nichts, aber auch gar nichts, brachte uns auf der Suche nach Miss Sally nur einen winzigen Schritt weiter“, murrte der Agent. Er hieb mit der Faust auf den Tisch, dass die beiden Krüge Bier, die darauf standen, verdächtig wackelten. Sein Begleiter griff beherzt zu und bewahrte die Krüge davor, ihren Inhalt endgültig auf dem Tisch zu verteilen.
„Ich verstehe es auch nicht. Was haben wir nur falsch gemacht?“, erwiderte Selwyn. „Du hast die beiden, ohne es zu wissen, mit in die Stadt gebracht und seitdem ist ihre Spur so verwischt, dass wir keine Chance haben, sie zu finden. Wie geht so etwas nur?“
„Frag mich mal was Einfacheres“, knurrte der Detektiv und nahm einen großen Schluck Bier. Mühsam unterdrückte er ein Rülpsen, denn das gehörte sich in Gesellschaft eines Adligen nicht. Es war schon eine sehr große Ehre für ihn, dass Selwyn ihm das intimere Du angeboten hatte.
„Fassen wir mal alles zusammen, was wir bisher in Erfahrung bringen konnten“, begann Selwyn nach einer Weile. „Der Henker hat, beziehungsweise hatte hier einen Bruder namens Delmore. Das Wissen verdanken wir Miss Sabrin, die ganz plötzlich und wie aus heiterem Himmel bei Mistress Genefa in Dilton Marsh auftauchte. Dieser Delmore wurde vor ein paar Wochen hingerichtet, weil er seine Ehefrau und deren Liebhaber in die Hölle geschickt hat. So viel wissen wir nun.“
„Hm“, machte Garrick nur und nickte.
„Hatte dieser Schuster keine Kinder? Weißt du was davon?“, fragte Selwyn.
„Keine Ahnung. Angeblich ja. Falls er Kinder hatte, können die nicht wie vom Erdboden verschluckt sein. Menschen verschwinden nicht einfach, ohne eine Spur zu hinterlassen. Irgendwie sind die Leute hier in der Stadt so verstockt, dass kein Wort aus ihnen herauszubekommen ist“, erwiderte der Spion. „Wenn dieser Henker Sally hierher gebracht hat, kann er sie doch nur zu seinem Bruder geschafft haben. Dass der inzwischen schon in der Hölle schmort, brachte seinen Plan wohl durcheinander. Also muss neu geplant werden. Nur was?“ Garrick überlegte eine Weile. „Vielleicht sollten wir die Wächter am Stadttor nochmal befragen. Wenn jemand was weiß, dann sie.“
„Ehrlich gesagt, ist mir inzwischen das Geld zu schade, um es den verstockten Leuten hier in den Rachen zu werfen. Sie führen uns nur in die Irre und bringen uns keinen einzigen Schritt weiter“, sagte Selwyn darauf.
„Lord Kimberley meinte aber, ich hätte freie Hand. Geld würde keine Rolle spielen.“
„Ach, der“, schimpfte Selwyn aufgebracht. „Der sitzt mit seinem breit gedrückten Arsch nur zu Hause in seinem Sessel und redet viel, wenn der Tag lang ist. Er weiß nicht, was wirklich draußen los ist. Dafür sind wir beide hier und tun die Arbeit für den werten Herrn.“
„Da magst du recht haben. Aber er ist nun mal mein Auftraggeber“, sagte Garrick mürrisch, der den guten Lohn für diesen Auftrag die Themse hinab schwimmen sah.
„Klar, das verstehe ich“, sagte Selwyn und schaute Garrick an. „Nur sind wir hier aber inzwischen an einem Punkt angekommen, wo wir gar nicht weiterkommen. Vielleicht sollten wir woanders suchen. Sally ist dem Anschein nach schon gar nicht mehr in der Stadt. Überleg doch mal. Wir gehen davon aus, dass sie immer noch als Mann verkleidet durch die Weltgeschichte läuft und suchen auch nach einem Mann. Wahrscheinlich sind wir genau da auf dem Holzweg.“
„Du meinst, Sally könnte inzwischen wieder als Frau mit dem Scharfrichter unterwegs sein?“ Garrick riss erstaunt den Mund auf. Auf diese Idee war er noch gar nicht gekommen.
„Überlege doch mal“, erklärte Selwyn. „Als Mann könnte sie jederzeit auffliegen. Es ist verboten für Frauen, Männerkleidung zu tragen. Die Gefahr, dass die Maskerade aufgedeckt wird, ist viel zu hoch. Auch ein Henker wie Raimon könnte sie vor der Strafe, die darauf steht, nicht bewahren. Vermutlich haben sie auch die Kinder bei sich, die nun ja ohne Eltern und auf sich allein gestellt sind.“
Garrick kratzte sich am Kinn. Nachdenklich starrte er in seinen Bierkrug. „Du hättest Detektiv werden sollen und nicht ein Doktore“, meinte er dann lachend zu Selwyn, dessen Gedankengänge nachvollziehbar waren.
„Ich ziehe nur meine Schlüsse aus den Ergebnissen unserer Erkundungen. Da ist nicht viel Besonderes dran. Du kannst es doch auch“, erwiderte Selwyn. „Also, was machen wir nun?“, fragte er noch.
„Reiten wir zurück nach Dilton Marsh“, meinte Garrick nach einiger Überlegung. „Hier können wir nichts mehr ausrichten. Aber vielleicht kommen wir auf dem Rückweg auf des Rätsels Lösung.“
„Tun wir das“, erwiderte Selwyn. Ganz einerlei war ihm es nicht, Dover zu verlassen, ohne genau zu wissen, ob Sally noch in der Stadt war oder nicht. Doch dann entschied er sich anders. Warum er das tat, konnte er auch nicht erklären. Sein Instinkt sagte ihm, dass er hier noch eine Spur von Sally finden würde. „Warte“, sagte er zu Garrick. „Mir fiel eben noch etwas anderes ein.“
Erstaunt schaute Garrick von seinem Bier auf. „Welcher Floh beißt dich nun wieder?“, fragte er kopfschüttelnd.
„Wenn der Bruder des Henkers hingerichtet wurde, muss es vorher ein Verfahren gegeben haben. Wer ist dafür zuständig? Na… dämmert es dir?“
„Ah, du meinst, wir sollten…“, Garrick hüpfte aufgeregt auf seinem Stuhl herum.
„Genau, wir sollten mal zum Richter gehen und dem auf den Zahn fühlen. Wenn einer etwas weiß, dann er“, vollendete Selwyn Garricks Satz.
„Aber das wird doch auch wieder was kosten. Diese Richter sind doch alle korrupt“, warf der Detektiv Zweifel ein.
„Na und… die paar Kröten habe ich auch noch, um dem Richter sein Wissen zu entlocken“, meinte Selwyn bis über beide Ohren grinsend. Er kramte ein paar Münzen aus seiner Hosentasche und legte sie auf den Tisch. „Worauf wartest du noch oder willst du hier Wurzeln schlagen?“, drängte er Garrick zum Aufbruch.
„Sag mir“, wandte sich Selwyn eine halbe Stunde später an den Mann, der vor dem Rathaus Wache hielt. „Wer ist der Richter dieser Stadt. Wir“, er zeigte auf Garrick, der neben ihm stand, „müssen ihn in einer dringenden Angelegenheit sprechen.“
„Wer will das wissen?“, blaffte der Kerl ihn grimmig an. „Da könnte ja jeder kommen.“
Selwyn baute sich vor dem Flegel auf. „Sehen wir aus wie jeder?“, knurrte er ihn an. „Gebe mir sofort Auskunft, oder ich werde mich über dich beschweren!“
Der Wachmann wurde blass. Dass sich jemand über ihn beschweren wollte, hatte er zwar noch nie erlebt, aber die beiden Herren hier sahen nicht so aus, als wäre mit ihnen gut Kirschen essen. „Thomas Watson ist der Name des Richters“, gab er schnell Auskunft, um das drohende Unheil abzuwenden.
„Geht doch“, knurrte Selwyn. „Wo finden wir ihn? Sprich endlich, du Depp!“
„Um die Zeit nimmt er zu Hause mit seiner Gemahlin und den Kindern sein Mittagsmahl ein“, sagte der Wachmann. „Es ist besser, heute Nachmittag wieder hier zu erscheinen. Der Herr lässt sich ungern beim Essen stören.“
„Das ist uns egal“, meldete sich nun Garrick zu Wort. „Sag uns, in welchem Haus der Richter wohnt. Es ist garantiert nicht weit.“
„Da habt Ihr recht, werter Herr“, erwiderte der Wachmann katzbuckelnd. „Gleich dort drüben, das Haus mit dem Erker. Dort wohnt Mister Watson.“ Er zeigte auf das größte Haus am Platz, das dem Prunk des Rathauses in keinster Weise nachstand.
„Das ist wahrlich nicht weit“, sagte Selwyn und drückte dem Wachmann eine kleine Münze in die Hand. „Das nächste Mal bist du Fremden gegenüber ein wenig freundlicher“, gab er ihm einen Ratschlag. Zu Garrick gewandt, sagte er aber: „Komm, mein Freund. Der Richter wartet.“ Damit wandte er sich ab und strebte auf das genannte Haus zu.
„Der Herr ist beim Mittagsmahl, bei dem er nicht gestört werden will“, sagte wenig später ein hochnäsiger Vasall zu Selwyn und sah die Besucher von oben herab an. Garrick und Selwyn standen vor dem imposanten Portal und blickten zu dem Bediensteten hoch.
„Das ist uns egal, ob der Richter gestört werden will oder nicht. Wir sind in einer wichtigen Mission unterwegs und brauchen Auskünfte, die uns nur der dein Herr geben kann. Also melde uns gefälligst an“, erwiderte Selwyn so ruhig wie möglich. Er drängte hinter dem Diener ins Haus und stand nun mit Garrick wartend im Flur.
Grimmig vor sich hin murmelnd schlich der Diener die Treppe hinauf und klopfte fast zaghaft an eine Tür. Von oben hörten sie eine mürrische Stimme, worauf der Diener nur leise antwortete.
Ungeduldig kratzte Selwyn sich am Kinn. „Dieser Richter scheint eine arg ungemütliche Person zu sein“, sagte er leise zu Garrick. „Es will doch gelacht sein, wenn wir den nicht zähmen können.“ Selwyn lächelte verschmitzt und schüttelte den Beutel Münzen, den er in seiner Hosentasche verstaut hatte.
„Bitte die Herren“, hörten sie plötzlich von oben die Stimme des Dieners. „Der werte Herr Watson erwartet Euch.“ Garrick und Selwyn gingen in die obere Etage, wo sie ins Speisezimmer des Richters geführt wurden.
Am Tisch saß ein Herr, wie ihn am Tag vorher bereits Raimon und Sally erlebt hatten. Ihm gegenüber hatte eine Dame Platz genommen, die einen großen, wogenden Busen vor sich hertrug und ihre Suppe löffelte. An den Seiten des Tisches saßen drei kleine Buben und zwei Mädchen, die den eintretenden Fremden neugierig entgegenblickten.
„Mary, die Herren haben ein Anliegen“, sagte der Richter zu der Frau. „Gehe doch mit den Kindern hinaus.“ Sofort erhob sich die Angesprochene, winkte die Kinder zu sich und ging mit ihnen in die Küche.
„Meine Gemahlin“, sagte Watson. „Ein sehr gehorsames Weib. So wie es sich gehört.“ Er sah die Besucher fragend an. „Was führt Euch um diese unchristliche Zeit zu mir?“, wollte er wissen.
Selwyn trat vor und verbeugte sich vor Watson. Obwohl sein Stand höher war als der des Richters, sah er es für notwendig, den Mann ein wenig zu bauchpinseln. „Mein Name ist Sir Selwyn Wellington“, nannte er nicht ohne Grund seinen vollen Namen. „Meine Begleitung ist Garrick Moore, ein Detektiv aus London“, stellte er auch Garrick vor.
„Willkommen Sir Wellington, Mister Moore“, begrüßte nun der Richter die beiden recht freundlich. „Nehmt doch Platz.“ Er griff nach einer kleinen Glocke, die er betätigte. Darauf kam ein weiterer Bediensteter herein. „Bring noch zwei Teller und Gläser für die Herren“, befahl er ihm.
„Das ist nicht nötig“, wehrte Selwyn ab.
„Doch, doch. Ihr seid meine Gäste.“
„Nun gut. Wir möchten uns nicht sträuben und Eure Gastfreundschaft beleidigen“, sagte Selwyn, innerlich grinsend.
„Führe meinen Befehl aus“, wandte sich der Richter nun erneut an den Diener und scheuchte diesen mit einer Handbewegung hinaus. „Nun zu Euch, meine Herren“, sagte er dann zu Selwyn und Garrick. „Was führt Euch zu mir?“
Selwyn übernahm mit einem kurzen Seitenblick auf Garrick das Wort. Kurz erklärte er, was und wen sie suchten und warum. Nachdem er geendet hatte, warteten sie auf Watsons Reaktion.
„Ja, da war gestern so ein grobschlächtiger Kerl bei mir und stellte mir Fragen wegen seinem Bruder und dessen Kindern“, antwortete der Richter mit vollem Mund. „Er machte keinen Hehl daraus, der Henker von Exmouth zu sein.“
„Wie wir bereits hörten, ist dessen Bruder, ein Schustermeister, vor ein paar Wochen hingerichtet worden“, sagte Selwyn.
„Das ist wahr. Ein grausamer Bursche, der seine Gattin hinterlistig umgebracht hat. Na ja, die Frau hatte es nicht anders verdient. Eine Hure war sie, die ihm ständig Hörner aufgesetzt hat. Ihrem Liebhaber hat er auch gleich den Garaus gemacht. Na ja, um diesen windigen Burschen ist es auch nicht schade“, wusste der Richter zu erzählen. „Aber was hat das mit dieser Miss Sally zu tun?“
„Die Miss wurde gegen ihren Willen entführt“, erwiderte Selwyn.
„Doch wohl nicht von diesem Raimon?“, fuhr der Richter empört auf.
„Nein, nicht von Raimon, sondern wahrscheinlich von Handlangern ihrer Stiefmutter. Leider können wir das nicht beweisen. Aber wir wollten Sally zurückholen, in den Schoß ihrer Freunde, wo sie vor ihrer Stiefmutter sicher ist.“
„Dieser Scharfrichter stellte das Weib als seine Gemahlin vor“, gab Watson zum Besten.
Selwyn wurde blass. „Wie kann das sein?“, brachte er stotternd hervor. Sally als Gattin eines Henkers? Unmöglich! Er konnte es sich nicht vorstellen. „Wo wollten die beiden hin?“, fragte er, nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte.
„Erst wollten sie ins Waisenhaus, die Kinder seines Bruders holen und dann wollten sie die Stadt verlassen. Ich erlaubte ihnen noch, eine Nacht im konfiszierten Haus des Schustermeisters zu bleiben. Dieser Raimon war nicht in der Lage, das Haus auszulösen, daher bleibt es im Besitz der Stadt.“
„Habt Ihr Kenntnis, ob die Kinder schon abgeholt wurden und wo sich das Haus des Schusters ist.“
„Mit den Kindern, das kann ich nicht sagen. Dazu müsstet Ihr das Waisenhaus aufsuchen und dort nachfragen“, erwiderte der Richter. Es folgte eine Erklärung, wo sie dieses und das Haus des Schusters finden konnten.
„Herzlichen Dank für Eure Auskünfte“, bedankte sich Selwyn und stand auf. „Eure Köchin ist eine Meisterin“, sagte er dann und nahm noch einen Schluck vom Wein, der zum Essen kredenzt wurde. „Garrick, es wird Zeit, gehen wir zum Findelhaus“, wandte er sich an den Detektiv, der gerade die letzten Bissen seines Essens in den Mund schob.
Auch Garrick bedankte sich, wie es sich gehörte. Danach verließen er und Selwyn das Haus des Richters. „Und nun?“, fragte er.
„Auf zum Waisenhaus“, erwiderte Selwyn und stürmte voran.
Die Wegbeschreibung des Richters war besser, als Selwyn und Garrick angenommen hatten. Anders als am Tag zuvor Sally und Raimon, fanden sie das Haus auf Anhieb, in dem die elternlosen Kinder untergebracht waren.
Nach einem Klopfen öffnete Wina ihnen die Tür. Staunend schüttelte sie den Kopf. Die Kinder des gehenkten Schusters mussten aber sehr gesucht sein, wenn heute schon wieder jemand nach ihnen fragte. Wina führte die Männer in den Garten, wo sich Rosemary, die Oberin des Hauses, mit ein paar Kindern befand. Sie unterrichtete sie gerade im Lesen.
„Oh, schon wieder Gäste“, sagte Rosemary und stand von der Bank auf. „Ihr könnt gehen, für heute ist die Lehrstunde beendet“, sagte sie zu den Kindern, die erfreut aufsprangen und lachend ans andere Ende des Gartens stürmten, wo sie sich einem Spiel zuwandten.
Fragend schaute die Mutter Oberin Selwyn und Garrick an.
„Entschuldigt die Störung“, begann Selwyn als Erster. „Wir wollten nicht bei Eurem Unterricht stören“, entschuldigte er sich.
„Für heute wäre sowieso gleich Schluss gewesen“, erwiderte Rosemary und sah Selwyn interessiert an. Der Mann gefiel ihr, er war so anders als sein Begleiter, der sie mürrisch anblickte. „Aber nun sagt, was Euch zu mir führt.“
„Es geht um die Kinder des hingerichteten Schustermeisters. Sind sie noch hier?“, fragte Selwyn.
„Das ist ja eigenartig“, entgegnete die Frau. „Die Kinder wurden gestern von ihrem Onkel und ihrer Tante abgeholt und haben mit ihnen unser Haus verlassen.“
„Auch das noch“, entfuhr es Selwyn. Ein höchst böser Fluch entfuhr seinem Mund, was ihm eine Rüge der Oberin einbrachte. „Entschuldigt“, sagte er zu ihr. „Wir waren uns sicher, hier eine Spur zu finden. Wisst Ihr, wohin sie mit den Kindern gegangen sind?“
„Natürlich weiß ich das“, sagte die Oberin. „Sie wollten heute mit ihnen zurück nach Exmouth reisen.“
„Wie haben sich die Erwachsenen vorgestellt?“, fragte Garrick nach.
„Der Mann stellte sich als Raimon vor, er wäre der Henker in Exmouth, was ich ihm auch glaubte. Die Frau wäre seine Gattin, was ich allerdings nicht glaubte. Sie war so anders als er, sie hatte ein sehr gutes Benehmen, fast so wie das einer adligen Dame. Doch sie nahm die Kinder gleich liebevoll in ihre Obhut, als wären es ihre eigenen.“
„Ihr habt richtig erkannt“, sagte Selwyn. „Ob die Dame wirklich die Gemahlin des Scharfrichters war, das kann ich nicht sagen, es könnte aber möglich sein. Wir suchen die Frau schon lange Zeit.“ Dann erzählte er von Sallys Stiefmutter und deren hinterlistigen Intrige.
„Oh, wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich die Büttel gerufen und den Henker festnehmen lassen. Sie machten nicht den Eindruck, als wäre die Frau in seiner Begleitung ungewollt bei ihm.“
„Wir glauben nicht, dass der Henker sie entführt hat. Allerdings wissen wir auch nicht, welche Rolle er in der Sache spielt. Aber das bekommen wir noch heraus“, meinte Selwyn. „Sind sie noch in der Stadt?“, wollte er noch wissen.
„Das glaube ich nicht. Sie wollten nur noch eine Nacht bleiben, heute Morgen mit den Kindern an das Grab ihres Vaters gehen und dann nach Exmouth abreisen“, erklärte Rosemary.
„Wir gehen und schauen im Haus des Schusters nach, ob sie noch da sind. Vielleicht haben wir Glück“, schlug Garrick vor.
„Tun wir das“, stimmte ihm Selwyn zu. Galant verbeugte er sich vor Rosemary, die zart errötete. Selwyn gefiel ihr wahrlich sehr. Wenn er nur noch ein wenig bleiben könnte. Doch sein Begleiter trieb ihn zur Eile an.
„Habt herzlichen Dank“, sagte Selwyn noch zu der Frau, während Garrick ihr nur kurz zum Abschied zunickte.
So schnell es ging, strebten die beiden Gefährten dem Haus des Schustermeisters entgegen. Eile war angesagt. Nun schimpften sie sich als Dummköpfe, ihre Pferde im Mietstall zurückgelassen zu haben, um zu Fuß zu gehen. Mit den Tieren wären sie viel schneller voran gekommen.
Am Haus des Schusters angekommen, sahen sie sich um. Genau wie am vorherigen Tag Raimon, erstaunte sie der heruntergekommene Zustand des Anwesens.
Garrick klopfte an die Vordertür. Im Haus blieb es ruhig. Auch nach einem nochmaligen Klopfen rührte sich im Inneren nichts. So traten sie einfach ein, um selbst nachzuschauen. Doch sie fanden niemanden vor.
„Da sind wir wohl wieder einmal zu spät gekommen“, sagte Garrick missmutig.
„Es sieht ganz danach aus“, erwiderte Selwyn. „Und nun?“
„Wir sollten nach Exmouth reisen“, schlug Garrick vor. „Uns bleibt nun nichts weiter übrig, als dort weiter nach Sally zu suchen. So viele Henker wird es da wohl nicht geben.“
„Na dann, holen wir die Pferde, zahlen unsere Zeche und danach machen wir uns auf den Weg“, rief Selwyn aus und stürmte energisch voran. Garrick blieb nichts anderes übrig, als dem Freund zu folgen.