Sally und Raimon weilten bereits zwei Wochen auf dem Anwesen der Longbirds in Dilton Marsh. Die beiden hatten sich von den Strapazen der letzten Monate gut erholt und genossen die Tage im Kreise ihrer Freunde.
Auch die Kinder fühlten sich bei den Freunden ihrer Ziehmutter wohl. Die viele frische Luft tat ihnen gut. Ihre Gesichter hatten durch den häufigen Aufenthalt im Freien bereits eine gesunde Farbe angenommen. Die Jungen stromerten durch die angrenzenden Wälder und jagten so manch einsamen Wanderer einen mächtigen Schreck ein. Nicht nur einmal kamen sie total verdreckt nach Hause. Sally und Edwina lachten darüber nur, während Genefa empört die Hände über dem Kopf zusammenschlug und zeterte wie ein Waschweib.
Genefas Töchter und Faylynn hatten sich inzwischen angefreundet. Faylynn genoss es, endlich einmal Mädchen als Spielkameraden zu haben. Allerdings blieben ihr dadurch die Unterrichtsstunden, die die Gouvernante den Mädchen gab, nicht erspart. Sie machte gute Miene zum bösen Spiel und folgte den Unterweisungen notgedrungen.
Besonders Sally war glücklich, Genefa um sich zu haben. Gerade jetzt in der Schwangerschaft tat es ihr gut, mit einer Frau über das Kommende, für sie noch Unbekannte sprechen zu können. Genefa, die bereits vier Geburten hinter sich hatte, konnte ihr die größten Ängste nehmen. Doch auch noch anderes quälte Sally, worüber sie mit ihrer Freundin noch nicht sprechen wollte – sie hatte das erste Mal seit langer Zeit Heimweh.
„Es wird Zeit, dass ich zu Hause nach dem Rechten sehe“, rückte Sally eines Morgens endlich mit der Sprache heraus. „Es bedrückt mich schon einige Zeit, dies noch nicht getan zu haben. Ich bin lange genug weg gewesen und sehne mich nach Hause. Wir werden morgen Vormittag aufbrechen.“
„Wie schade“, erwiderte Genefa sichtlich bestürzt über Sallys Ansage. „Bist du dir wirklich sicher, uns noch vor der Niederkunft zu verlassen? Es sind doch nur noch zweieinhalb Monate. Mir wäre es sehr viel wohler, wenn du dein Kind hier zur Welt bringen würdest.“
„Wir können doch nicht ewig hierbleiben“, entgegnete Sally. „Außerdem sind noch Edwina und Adelaide bei mir und die Bediensteten zu Hause. Eine gute Hebamme haben wir im Dorf, die binnen kürzester Zeit bei mir sein kann.“
„Außerdem kribbelt es mir mächtig in den Fingern, Sallys Stiefmutter auf den Zahn zu fühlen“, warf Raimon ein und grinste schelmisch.
„Du willst dich doch wohl nicht wieder als Henker betätigen“, meinte Rynard lachend. „Ich glaube, das käme bei den Damen der Gesellschaft nicht so gut an.“
Raimon überlegte. „Das wäre gar nicht so schlecht“, gab er dann zu. „Ich könnte garantiert so manches Geheimnis aus Lilith herauskitzeln. Meine Folterinstrumente haben die Reise hierher mit angetreten. Also wäre das gut machbar.“
„Warum will Onkel Raimon Mistress Lilith quälen?“, fragte plötzlich Genefas Tochter Kaitelynn und schaute Raimon ängstlich an.
„Ich glaube, wir sollten vor meinen Kindern nicht über solche fürchterlichen Dinge sprechen. Sie wissen nichts über deinen Beruf. Das sollte möglichst so bleiben“, sagte Genefa erschrocken. „Hab keine Angst, Liebes, Onkel Raimon wird so etwas schlimmes natürlich nicht tun. Er ist ja kein Unhold“, beruhigte sie dann Kaitelynn.
„Wirklich?“, fragte die Kleine lieber noch einmal nach und schielte zu Raimon hinüber. Das Kind schien sich nicht sicher zu sein, ob die Erwachsenen die Wahrheit sagten.
„Wirklich, ich schwöre bei allem, was mir heilig ist“, mischte sich nun Raimon in das Gespräch zwischen Mutter und Tochter ein. Er sagte dies aber nicht nur aus Spaß. Nie im Leben würde er sich an Sallys Stiefmutter die Finger schmutzig machen. Auch wenn er sie bis jetzt nur vom Hörensagen her kannte, sah er sie als eine Person an, die von Grund auf schlecht war und auch nur Schlechtes im Sinn hatte. Darüber zu urteilen, lag ihm aber fern. Dazu gab es Richter. Genügend Beweise für Liliths Machenschaften lagen vor. Da musste er sie nicht noch zusätzlich torquieren, um ihr ein Geständnis zu entlocken. Garrick Moore hatte eine gute Vorarbeit geleistet, die ausreichte, um Lilith und ihre Handlanger zu überführen.
„Du lässt dich nicht noch einmal überreden, einige Zeit länger hierzubleiben?“, fragte Genefa Sally nach einer Weile. „Ihr könnt wirklich so lange bleiben, wie ihr wollt oder bis euer Kind geboren ist und du dich von der Niederkunft erholt hast.“ Genefa wollte und wollte nicht aufgeben, ihre Freundin zu einem längeren Bleiben zu überreden.
„Ach, Genefa. So glaube mir doch endlich“, erwiderte Sally. „Mich zieht es nach Hause. So gerne ich auch hier bei dir und deiner Familie bin. Ich möchte endlich nach Hause. Ich habe Heimweh.“
„Gut, wenn du gehen willst, dann kann ich dich nicht aufhalten“, gab sich Genefa geschlagen. Ganz wohl war ihr nicht, die Freundin in ihrem Zustand ziehen zu lassen. „Versprich mir aber, mich sofort rufen zu lassen, wenn ihr Hilfe benötigt. Vor allem, wenn euer Kind zur Welt kommt.“ Raimon und Sally versprachen es.
Am nächsten Morgen stand der Wagen bereit. Sally und Raimon wollten den nehmen, den sie auf der Reise nach Dilton Marsh benutzt hatten. Genefa aber bestand darauf, dass sie in der gut gefederten Kutsche der Longbirds fuhren und auf dem Wagen nur ihr Gepäck transportierten. Das wäre besser für Sally, war ihr gut gemeintes Argument.
Die Schwangere verdrehte die Augen. „Ich bin nur in anderen Umständen und nicht krank“, stöhnte sie ein wenig genervt über so viel Fürsorge um ihr Wohl.
„Lass sie doch“, meinte Raimon nur und grinste.
„Sie benimmt sich wie eine Glucke“, fauchte Sally ihn an.
„Ist schon gut, Liebes. Rege dich doch nicht auf“, versuchte der Scharfrichter seine aufgebrachte Herzensdame zu beruhigen. „Aufregung ist nicht gut in deinem Zustand“, musste er sie dann aber doch noch foppen.
Kaum hatte er die letzten Worte ausgesprochen, bekam er von Sally eine Kopfnuss.
„Gnade, Gnade“, winselte Raimon herzerweichend und hielt Sallys Hände fest. Er kam mit seinem Gesicht ganz nah an ihres. „Du siehst zauberhaft aus, wenn du dich so aufregst“, flüsterte er ihr zu und küsste sie auf den Mund.
Sally wurde rot. „Lass das, was sollen die anderen von uns denken, wenn wir uns so unzüchtig benehmen.“
„Dass wir hier ein junges Paar vor uns haben, das sich liebt und sich auch nicht scheut, dies öffentlich zu zeigen“, tönte Rynard lauthals, der von ihnen unbemerkt neben sie getreten war und ihr Geplänkel mitbekommen hatte.
„Siehst du, wie du uns blamierst. Rynard macht sich schon lustig über uns“, schimpfte Sally.
„Warum ihr Weiber immer so zickig sein müsst, vor allem, wenn sie kurz vor der Niederkunft stehen“, maulte Genefas Gemahl. „Wir Männer haben überhaupt keine Chance gegen euch. Wir dürfen nicht einmal sagen, wie liebreizend unsere Gattinnen sind. Dabei wollen wir doch nur das Beste für euch.“ Er verzog das Gesicht, als würde er gleich weinen wollen.
„Genug geplänkelt! Wir wollen los“, bestimmte Sally resolut, der das Getue der Männer ein wenig zu weit ging. „Ihr Lieben, Genefa, Rynard. Habt Dank für alles“, sagte sie zur Hausherrin und deren Gatten. „Nun ist die Zeit gekommen, Abschied zu nehmen. Aber seid gewiss, wir sehen uns bald wieder.“
„Soll das eine Drohung sein?“, scherzte Rynard. Vorsorglich sprang er ein wenig beiseite.
„Du unmöglicher Kerl“, schimpfte Genefa und trat mit Tränen in den Augen zu ihrer Freundin. „Ich lasse dich nur ungern gehen, das weißt du.“
„Ich weiß, Genefa“, seufzte Sally, der es schwer fiel, die Freundin weinen zu sehen. „Spätestens zur Taufe sehen wir uns. Rynard und du werden die Paten meines ersten Kindes sein, genau so wie wir es abgesprochen haben.“ Sie blickte zu Genefas Gatten. „Das ist nun eine Drohung!“, gab sie lachend zum Besten, worauf Rynard, Genefa und Raimon schmunzelten.
Auch Raimon und Rynard nahmen Abschied. „Mach´s gut, mein Freund. Bald ist es vorbei mit der Ruhe, wenn der kleine Schreihals da ist. Aber was rede ich, du kennst dich ja bestens aus.“ Rynard klopfte Raimon auf die Schulter. „Ich hätte nie gedacht, jemals einen Scharfrichter meinen Freund nennen zu dürfen. Ja, ich nenne dich Freund. Das bist du mir in dieser kurzen Zeit geworden. Lebe wohl und sei gut zu unserer Sally.“
„Das werde ich“, versprach Raimon.
Auch Sabrin wurde noch verabschiedet. Sie stand ein wenig verlassen an der Seite und beobachtete die Zeremonie. „Wir werden uns wohl nicht so bald wiedersehen“, sagte Sally zu ihr.
„Ich reise Ende der Woche ab nach London zu Garrick. Er erwartet mich schon“, erwiderte Sabrin. „Wir wollen zusammen das Haus herrichten lassen, in dem wir nach unserer Vermählung wohnen werden. Bis dahin bin ich unter den Fittichen seiner Mutter.“
„Grüße ihn von uns und alles Gute für euch. Ihr passt gut zusammen. Werdet glücklich miteinander“, entgegnete Sally. „Zu eurer Hochzeit können wir leider nicht kommen. Die fällt gerade in die Zeit meiner Niederkunft. Da mag ich ungern reisen.“
„Das macht nichts. Dafür kommen wir zur Taufe eures Kindes. Auch wenn ich nicht die Patentante werde. Schicke mir einen Boten, wenn es so weit ist.“ Sabrin lächelte zu Raimon hinüber, dem sie alles Glück der Welt wünschte. Raimon hatte es verdient, nach diesem schweren Schicksalsschlag, der ihn vor Jahren ereilte. Nun hatten sie alle ihr Glück gefunden, sie, Sally und auch der ehemalige Scharfrichter von Exmouth.
„Auf geht´s“, rief Raimon und half Sally beim Einsteigen in die Kutsche. Faylynn, Adelaide und Edwina hatten bereits Platz genommen und warteten schon darauf, dass es losging. Die Jungen saßen mit vorn auf dem Kutschbock. Der Kutscher ließ die Peitsche knallen und die Pferde trabten an. Eine Staubwolke hinter sich herziehend, fuhren sie den breiten Weg zum Tor hinunter. Noch ein kurzer Blick zurück, ein letztes Winken, dann waren die zurückbleibenden Freunde nicht mehr zu sehen. Schon bald hatten sie den vorausfahrenden Wagen mit ihrem Gepäck eingeholt. Nun fuhren sie hintereinander in Richtung Trowbridge.
Dass ihre Abfahrt mit Argusaugen beobachtet wurde, merkten die Reisenden allerdings nicht. Ein blonder, schlanker Mann in einem edlen Reitanzug stand etwas abseits des Weges im Gebüsch und starrte der Kutsche hasserfüllt hinterher. Das Pferd, das er am Zügel hielt, kratzte ungeduldig mit den Hufen.