Je mehr sich Selwyn der Hafenstadt Dover näherte, desto unruhiger wurde er. Seine Gedanken waren nur noch bei Sally, der er hoffentlich bald seine Liebe gestehen konnte. Dass sie ihn womöglich gar nicht wollte, oder gar keine Gefühle für ihn hegte, daran wagte er nicht zu denken. Wie meinte Genefa vor gar nicht allzu langer Zeit? Er benahm sich wie ein verliebter Gockel. Wobei sie damit sogar recht hatte. Er, der edle Sir Selwyn Wellington, war verliebt bis über beide Ohren.
Dass er noch vor Sally Dover erreichen könnte, hatte Selwyn längst abgeschrieben. Durch den starken Regen hatte er viel zu viel Zeit verloren. Außerdem wollte er sein Pferd schonen, nachdem es auf den ersten Meilen vor Erschöpfung beinahe zusammengebrochen war. Es zu hetzen, war falsch und es sollte ihm eine Lehre sein. Er hatte es zu sehr angetrieben. Doch daraus hatte er gelernt und nun eine gemächlichere Gangart eingelegt. Auch wenn dies bedeuten sollte, Sally und ihren Begleiter zu verfehlen. In diesem Fall müsste er halt weitersuchen, bis er irgendwann Erfolg haben würde.
Selwyn musste an den ihm noch unbekannten Scharfrichter denken, unter dessen Obhut seine Liebste lange Zeit lebte und mit dem sie nun auf dem Weg nach Dover war. Was für ein Typ Mann er wohl war? Mochte Sally ihn? Liebte sie ihn womöglich sogar? Letzteres schloss Selwyn aus. Sally war eher eine Person, die ihre Liebe nicht so ohne weiteres verschenkte. Was war, wenn der Henker Sally nun für sich selbst beanspruchte? Nein, das konnte sich Selwyn auch nicht vorstellen. Ein Henker und eine adlige Lady? Wo gab es denn so etwas? Höchstens im Märchen, aber nicht in der Realität.
Als Selwyn endlich Dover erreichte, war das Stadttor bereits geschlossen. Der Wachmann, der auf sein Klopfen ein Guckloch in der kleinen Seitentür öffnete und ihn neugierig beäugte, wies ihn ab. „Seid Ihr ein Bürger Dovers?“, fragte er den Reisenden, was Selwyn leider verneinen musste. „Dann tut es mir leid. Kommt morgen früh bei Sonnenaufgang wieder“, sagte der Wächter und schloss die Luke, ehe Selwyn noch etwas erwidern konnte.
Erbost über diese Frechheit hämmerte Selwyn gegen das Tor. „Macht auf, Gott verdammt nochmal!“, schrie er so laut er konnte und schlug so lange auf das Holz ein, bis seine Hände schmerzten. Zu seinem Pech goss einer der Wächter auch noch einen Eimer Fäkalien über ihm aus.
„Ich sagte doch, kommt bei Sonnenaufgang wieder“, schrie der Mann ihn hämisch von oben herab an. Dabei lachte er dröhnend. „Hau ab, sonst machen wir dir Beine!“
Mit Dreck besudelt und stinkend wie ein Wiedehopf schlich Selwyn zu seinem Pferd, das brav am Wegesrand stand und sich genüsslich am Gras labte. „Du hast es gut, Großer. Keine Sorgen, immer einen vollen Bauch“, sagte Selwyn zu seinem Ross und tätschelte dessen Hals. „Suchen wir uns einen gemütlichen Schlafplatz.“
Gemächlich trottete das Pferd hinter Selwyn her. Man könnte annehmen, es war froh, dass es diesen stinkenden Dreckspatzen nicht auch noch tragen musste.
„So schmutzig und stinkend kann ich mich in keinem Gasthaus blicken lassen“, machte Selwyn Selbstgespräche. „Oder was meinst du?“, wandte er sich dann an seinen getreuen vierbeinigen Freund. Als hätte das Pferd die Worte verstanden, wieherte es und schüttelte den Kopf.
„Wie du meinst“, sagte Selwyn und schlug sich ins Gebüsch. „Da müssen wir heut Nacht halt mit dem Himmelszelt vorliebnehmen.“
Der Mann sah sich suchend um und entdeckte ein trockenes Plätzchen in der Nähe. Dichte Baumkronen bildeten ein Dach. Am Fuße des Stammes konnte er es sich bequem machen. Auch für das leibliche Wohl seines Pferdes war gesorgt. In direkter Nähe wuchs saftiges Gras und ein kleines Bächlein plätscherte vorbei. Das Pferd strebte sofort dem Bach zu und steckte sein Maul ins kühle Nass.
Erst jetzt bemerkte er selber, wie durstig er war. Selwyn hockte sich daneben und tat es ihm gleich. Er teilte gerne mit seinem vierbeinigen Begleiter, der ihn treu ergeben bis nach Dover getragen hatte.
Angeekelt sah Selwyn an sich herab. Wie gut, dass er Kleidung zum Wechseln mitgenommen hatte. Schnell zog er die beschmutzten aus und stieg ins Wasser, um sich zu reinigen. Das Wasser war eisig kalt und raubte ihm erst einmal den Atem. Er musste sich bemühen, nicht wie eine keusche Jungfer zu quieken. Mutig setzte er sich in die Bachmitte und wusch sich. Zitternd schimpfte er über die Kälte, aber wenigstens stank er nicht mehr so gotterbärmlich.
Nachdem er auch noch seine Kleidung gewaschen hatte, hing er sie zum Trocknen an die Äste des Baumes. Danach zog er seine Wechselkleidung an und bereitete sein Nachtlager zwischen den Baumwurzeln vor. Er schaute noch einmal nach seinem Pferd, das er in der Nähe angebunden hatte. Zufrieden und gesättigt stand es dösend da und ließ sich nicht stören.
Selwyn packte den kärglichen Rest seines Proviants aus. Viel war nicht mehr da. Sein Brot hatte er bereits zu Beginn seiner Reise wegwerfen müssen, da es durch einen plötzlich auftretenden Regenschauer ungenießbar geworden war. Aber da war noch Käse und Wurst, sogar ein paar Schlucke Wein gab sein Trinkschlauch noch her.
Am nächsten Morgen war Selwyn bereits lange vor Sonnenaufgang wach. Das kalte Wasser des Baches trieb auch den letzten Rest des Schlafes aus seinem Gesicht. Voller Elan bereitete er sich auf seine Reise zu seinem Ziel vor. Er ließ das Pferd nochmals im Bach trinken und eine Weile am Gras fressen. Dann machte er sich auf den Weg zum Stadttor.
Schon von weitem konnte Selwyn die Menschenmenge ausmachen, die bereits darauf wartete, dass die Tore geöffnet wurden. Voll beladene Ochsenkarren reihten sich ein. Dazwischen standen Frauen mit Kiepen, in denen sie ihre Waren zum Markt trugen. Kinder sprangen umher und trieben Schabernack mit den Wartenden. Hier und da hörte Selwyn, wie jemand mit den Rotzlöffeln schimpfte und Ohrfeigen verteilte. Ein Bauer, der auf dem Bock seines Ochsenkarrens hockte, schlug mit seiner Peitsche nach einem der Buben, der flink beiseite sprang und sich hinter einem ebenfalls wartenden Mann versteckte. Trubel weit und breit am frühen Morgen.
„Lümmel, elender“, hörte Selwyn den Ochsenführer schimpfen. Der Knabe lachte nur und streckte ihm die Zunge raus.
Als endlich das Tor geöffnet wurde, drängten die Ersten voran. Doch die Torwache hielt sie auf und kontrollierte jeden Einzelnen. Auch Selwyn wartete geduldig, bis er an der Reihe war. Erst wollte er den Wachmann zur Rede stellen, aber dann besann er sich. Wahrscheinlich war bereits Wachablösung gewesen und der Mann, der ihn letzte Nacht abgewiesen hatte, schon längst nicht mehr im Dienst. Trotzdem fragte er den Mann nach Sally und Raimon.
„Guter Mann“, begann er. „Ist Euch bekannt, ob in den letzten Tagen ein großer und kräftiger Mann in Begleitung eines Jünglings hier angekommen ist?“ Es folgte eine Beschreibung der beiden gesuchten Personen.
Der Wachmann überlegte eine Weile. „Nicht, dass ich wüsste“, sagte er dann. „Aber vielleicht sind sie hier angekommen, während ich keinen Dienst hatte, oder sie sind auf einem anderen Weg in die Stadt gelangt. Denkt daran, dass man auch auf dem Seeweg hineinkommen kann.“
„Den Seeweg kann ich ausschließen“, erwiderte Selwyn. „Aber trotzdem, habt Dank für Eure Auskunft. Ich muss mich nun wohl in der Stadt umschauen. Vielleicht finde ich meine Freunde.“
„Viel Glück“, rief der Wachmann Selwyn noch nach, während sich dieser bereits entfernte.
Selwyn schaute sich auf dem Weg durch die Stadt genau um. Jedem, der ihm nur annähernd bekannt vorkam, schaute er ungeniert nach. Das schlimmste für ihn war, dass er nicht genau wusste, wie Sally nun aussah. Er konnte doch nicht einfach nach ihr fragen und die Beschreibung eines Mannes geben. Sabrin hatte Sallys Aussehen zwar genau beschrieben, aber ganz genau konnte er sich daran nicht erinnern. Vor Aufregung, endlich eine Nachricht über den Verbleib der Vermissten zu erhalten, war ihm alles andere wichtiger, als Sabrin zuzuhören.
Die Haarfarbe und das Gesicht konnte sich nicht verändert haben, nur die Kleidung und die Länge der Haare, deren Farbe auch für eine Frau außergewöhnlich auffällig war. Dieses Blond, das ganz leicht rötlich schimmerte, wenn Licht darauf fiel, sah man nicht jeden Tag. So schaute sich Selwyn nach einem großen Mann in Begleitung eines Jünglings um.
Bis Selwyn den Hafen erreichte, fiel ihm niemand auf, der auch nur im Entferntesten den Gesuchten ähnelte. So begab er sich erst einmal zu dem Gasthaus, in dem Garrick Moore inkognito Quartier genommen hatte. Zum Glück hatte er sich den Namen des Etablissements gemerkt, den Lord Cedric ihm genannt hatte. Da Garrick unter einem anderen Namen reiste, musste er natürlich nach Edward fragen und nicht nach Garrick.
Es war gerade Zeit zum Morgenmahl, als Selwyn in der Herberge eintraf. Als er sein Pferd davor anhielt und abstieg, kam sofort ein aufmerksamer Knecht herangeeilt, der ihm das Tier abnahm. „Wenn Ihr wünscht, werde ich es versorgen“, sagte der Mann zu ihm, als er ihm die Zügel übergab.
„Gerne, danke schön“, entgegnete Selwyn und gab ihm ein paar Münzen als Lohn im Voraus, damit sein Reittier auch gut versorgt werde. Danach betrat er die Herberge. In der Gaststube saßen schon einige Männer an den Tischen und nahmen ihr Frühstück ein. Selwyn sah sich um, konnte Garrick aber nirgends entdecken. Daher wandte er sich an die Wirtin, die eben, ein riesiges Tablett balancierend, aus der Küche kam.
„Willkommen, der Herr“, begrüßte sie ihn aufmerksam. „Möchtet Ihr essen?“
„Wenn es möglich ist, gerne“, erwiderte Selwyn. „Aber vorher könnt Ihr mir vielleicht eine Auskunft erteilen.“
„Fragt einfach“, antwortete die Wirtin.
„Hat hier ein Edward Windham Quartier genommen?“, fragte Selwyn. „Er ist mein Freund. Ich habe mich mit ihm hier verabredet, mich aber leider verspätet.“
„Ja, der ist hier“, sagte die Frau. „Aber wahrscheinlich schläft er noch. Er hat oben eine eigene Kammer bezogen, was mich ein wenig verwundert.“
„Warum?“, wollte Selwyn wissen.
„Für einen einfachen Händler ist es eigentlich nicht üblich, eine eigene Kammer zu beziehen. Aber er wird wohl seine Gründe dafür haben“, gab die Frau bereitwillig Auskunft.
„Ach, deswegen“, sagte Selwyn nur, ließ sich aber nicht auf weitere Debatten ein. „Zeigt mir die Kammer“, befahl er der Frau.
„Sofort! Lasst mich nur mein Tablett abstellen“, erwiderte die Wirtin. Sie eilte zu dem voll besetzten Tisch und stellte den Männern ihre Suppe hin. Dann wandte sie sich wieder Selwyn zu. „Folgt mir bitte“, forderte sie ihn auf und stieg vor ihm die enge Treppe ins Obergeschoss hinauf.
„Mister Windham, Besuch für Euch“, rief sie laut, nachdem sie an eine Tür in der Mitte des Ganges geklopft hatte. „Mister Windham, Besuch!“, kündigte sie Selwyn nochmals an.
Endlich rührte sich der Gerufene. Genervt riss er die Tür auf und wollte die Wirtin eben anschnauzen. Da sah er Selwyn, der neben ihr stand und ihn breit grinsend ansah.
„Ihr!?“, stieß Garrick aus. „Kommt rein“, sagte er dann und griff nach Selwyns Ärmel, um ihn in die Kammer zu zerren. „Und Ihr, lasst uns allein“, befahl er der Wirtin.
„Wie Ihr wünscht“, erwiderte diese und entfernte sich. An der Treppe blieb sie nochmals stehen und blickte zurück. Doch der Gast hatte die Kammertür bereits hinter sich geschlossen. Die Versuchung, zu lauschen, war groß, aber ihr Gatte rief nach ihr. So eilte sie schnell nach unten. Sie wusste, er mochte es nicht, wenn sie seiner Aufforderung nicht sofort gehorchte.
„Was macht Ihr denn hier?“, fragte Garrick ganz verdattert, als sie alleine waren. „Ihr wisst bestimmt, ich bin inkognito im Auftrag Lord Cedrics hier. Also Vorsicht bitte! Niemand darf erfahren, wer ich wirklich bin und in wessen Auftrag ich unterwegs bin.“
„Das ist mir bekannt“, erwiderte Selwyn. „Ich will zu Euch. Es gibt Neuigkeiten von Sally. Leider wart ihr bereits abgereist, als die Nachricht eintraf“, erzählte er weiter. „Dass Ihr gerade jetzt hier in Dover seid, das trifft sich gut. Sally müsste inzwischen nämlich auch eingetroffen sein.“
„Was? Hier? Das gibt es doch nicht!“, stotterte Garrick erstaunt. „Erzählt! Woher wisst Ihr das? Wochenlang suchte ich nach ihr und fand nichts heraus. Und nun kommt Ihr daher und erzählt, als wäre nichts gewesen, sie befände sich hier in Dover.“
Selwyn begann daraufhin die ganze Geschichte zu erzählen, die er von Sallys Freundin Sabrin gehört hatte. Garrick hörte genau zu. Als Selwyn berichtet, dass Sally nun als Mann unterwegs wäre und in Begleitung eines bärenstarken Scharfrichters ist, wurde Garrick blass. Er erinnerte sich an den eigenartigen Jüngling, der fast wie ein Mädchen anmutete. Dieser war mit einem großen und sehr kräftigen Mann unterwegs.
„Ich glaube, ich kenne die beiden“, sagte Garrick, nachdem Selwyn seinen Bericht beendet hatte.
„Woher?“, fragte Selwyn ganz baff.
„Ich traf sie unterwegs, als ich auf dem Weg nach Dover war. Ich nahm sie auf meinen Wagen mit“, erklärte Garrick dem verdutzt dreinblickenden Freund. „Der Große erzählte mir von einem Bruder, den er und sein Sohn besuchen wollen.“
„Wisst Ihr, wo die zwei nun sind?“, wollte Selwyn wissen. Sein Herz schlug vor Aufregung ganz hart. Sally war in greifbarer Nähe. „Sagt schon! Wo ist sie?“, schrie er den Detektiv fast an. Am liebsten wollte er ihn schütteln, damit die Worte aus ihm heraus purzelten.
„Ich weiß es nicht“, brachte der nach einer Weile hervor.
Selwyn fühlte sich, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen werden. So nah und doch so fern. Es war zum Mäuse melken!