Die Nacht war zwar nicht einmalig für Sabrin, trotz allem aber aufregend. Obwohl sie bereits einmal bei einer Geburt assistieren durfte, war die, die Mistress Genefa hinter sich hatte, etwas Besonderes für die junge Dirne. Hätte ihr vor ein paar Tage jemand gesagt, sie würde bald erneut solch einem Wunder beiwohnen dürfen, hätte sie denjenigen als verrückt erklärt.
Sabrin war sehr erstaunt, wie ruhig alles ablief. Auch wie besonnen Mistress Genefa war. So beherrscht, als würde sie gar keine Schmerzen erleiden bei diesem für eine Frau sehr schmerzhaften Vorgang. Sie konnte es kaum glauben, dass es ohne großes Geschrei der Hausherrin ablief. Auch die Wehmutter strahlte eine Ruhe aus, die sich scheinbar auf die Gebärende und alle im Zimmer Anwesenden übertrug. Wenn sie an ihre Freundin denken musste, die ihr Kind im Hurenhaus zur Welt brachte, klingelten ihr noch heute die Ohren von deren Schreien.
Der Morgen dämmerte bereits, als Sabrin endlich zur Ruhe kam und schlafen konnte. Umso erschrockener war sie, als um acht Uhr Mistress Genefas Zofe Mary an ihrem Bett stand und sie weckte.
„Miss Sabrin, es ist bereits acht Uhr“, sagte die Zofe und berührte die Schlafende an der Schulter. Mary musste schon etwas Geduld aufbringen, um Sabrin zu wecken.
Unwillig murrte Sabrin. „Was ist denn los?“, murmelte sie verschlafen.
„Entschuldigt, Miss, es ist bereits acht Uhr“, widerholte die Zofe.
„Oh, so spät schon“, stieß Sabrin aus. „Da muss ich mich beeilen. In einer Stunde treffen Mister Rynards Freunde ein.“ Sabrin schälte sich aus ihren Decken und schwang die Beine aus dem Bett. Suchend schaute sie sich um. „Wo, zum Teufel, ist mein Kleid? Hatte ich es am Abend nicht hier hingelegt?“ Suchend schaute sich Sabrin um, konnte es aber nirgends entdecken.
„Mistress Genefa befahl der Magd, es in die Waschküche zu bringen. Sie ließ eines ihrer Kleider für Euch bereitlegen. Ich hoffe, es passt Euch.“ Mary ging zur Wand, wo sie eine Tür öffnete, die Sabrin am Abend gar nicht aufgefallen war. Die Tür verschmolz mit der Tapete der Wand und war fast unsichtbar war. Zum Vorschein kam eine Art eingebauter Schrank, der für Sabrin einige Geheimnisse barg.
Die junge Frau stand staunend in der Tür. Da hing auch das Kleid aus besten Leinen. Auch ein Mieder, Strümpfe und Unterröcke waren vorhanden.
„Ich helfe Euch“, sagte Mary und hielt ihr einen Unterrock entgegen. Dann folgte das Korsett, das sie Sabrin eng schnürte. „Ihr seid so schlank, Ihr bräuchtet gar kein Mieder“, lobte die Zofe Sabrins Figur. Nachdem sie es fertig geschnürt hatte, half sie ihr, die Strümpfe anzuziehen und in das Kleid zu schlüpfen.
Sabrin staunte, als sie in einen Spiegel sah und sich betrachtete. Andächtig strich sie über den Stoff, der sich am Oberteil an sie schmiegte wie eine zweite Haut. Sogar ihr recht kleiner Busen wurde gut zur Geltung gebracht.
„Ich frisiere Euch noch“, sagte Mary. Sie führte Sabrin zurück ins Schlafzimmer, wo sie sie an einer Spiegelkommode Platz nehmen ließ. Mit einer Bürste kämmte sie Sabrins langes Haar, bis es glänzte und sich in natürlichen Locken auf deren Schultern kringelte. Dann flocht sie kleine Zöpfe, die sie zum Schluss zu einer kunstvoll gestalteten Frisur zusammensteckte.
Sabrin lächelte Mary im Spiegel zu. „Das sieht sehr schön aus. Danke schön“, sagte sie zu der Zofe, deren Wangen sich vor Freude über das Lob leicht röteten.
„Nichts zu danken. Das tue ich gerne für Euch“, erwiderte Mary. Nach einem Blick auf die Uhr, die auf dem Kaminsims stand, sagte sie noch: „Ihr müsst Euch sputen. Die anderen Gäste müssten schon bald eintreffen.“
„Dann gehe ich mal in die Höhle des Löwen“, meinte Sabrin. „Obwohl es mir mit so leerem Magen nicht wahrlich angenehm ist.“
„Mistress Genefa hat im kleinen Salon einen Imbiss vorbereiten lassen. Den gibt es nach der Besprechung“, verriet Mary.
„Sehr schön. Ich bin nämlich sehr hungrig. Die gute Landluft ist scheinbar daran schuld“, erwiderte Sabrin und rauschte davon.
Als sie wenig später an Mistress Genefas Tür klopfte, wurde sie sofort hereingebeten. Die Hausherrin saß aufrecht im Bett und hielt ihren neugeborenen Sohn im Arm. Um sie herum saßen drei kleine Mädchen, die der Besucherin neugierig entgegenblickten.
„Tritt nur ein, Sabrin“, sagte Genefa und winkte sie zu sich.
Die Frau knickste und kam zaghaft näher.
„Komm nur, komm. Wir beißen nicht“, meinte Genefa lächelnd. „Darf ich dir meine drei Prinzessinnen vorstellen? Das sind Elizabeth, Kaitelynn und Jocelyn.“
„Guten Morgen, Miss Sabrin“, kam es von den Mädchen im Chor.
„Guten Morgen“, grüßte Sabrin zurück und knickste erneut.
„Den jungen Mann hier kennst du ja schon“, sagte Genefa und strahlte über ihr ganzes Gesicht. Ihr Mutterglück machte sie noch schöner.
Sabrin lächelte der Hausherrin entgegen. „Natürlich“, erwiderte sie. „Der kleine Mann hat uns in letzter Nacht in helle Aufregung versetzt.“ Wie verliebt blickte sie auf den Säugling, der die ihm zukommende Aufmerksamkeit der Frauen genoss. „Habt Ihr schon einen Namen?“, fragte Sabrin neugierig.
„Mein Gatte und ich sind uns bereits einig. Er soll Gideon heißen.“
„Was für ein schöner Name“, staunte Sabrin.
„Hätten wir ihn sonst gewählt?“, meinte Genefa darauf scherzend und gab ihrem Prinzen einen Kuss auf die Stirn.
Im Flur kamen Schritte näher. Dann wurde kurz an die Tür geklopft und Mary trat ein. „Mistress Genefa, Eure Gäste sind eingetroffen“, meldete sie.
„Sehr gut, lass sie bitte ein“, erwiderte die Hausherrin. „Rufe bitte meinen Gatten und nimm die Kinder mit“, befahl sie Mary noch.
„Kommt Kinder“, sagte Mary zu den Mädchen, nachdem ihr Genefa den Säugling in die Arme gelegt hatte.
„Wir wollen aber hierbleiben“, sagte Elizabeth trotzig. „Sir Selwyn spielt immer so schön mit uns. Das wird er heute bestimmt auch tun wollen.“
„Elizabeth! Ihr tut, was ich euch sage. Sir Selwyn wird später ganz bestimmt mit euch spielen“, wies Genefa ihre Älteste zurecht. „Und nun geht bitte mit Mary. Sie wird euch das Frühstück geben und sich dann mit euch beschäftigen. Euer Vater, ich und unsere Gäste haben etwas Wichtiges zu besprechen.“
Nur widerwillig folgten die drei Mädchen der Zofe, die bereits vor der Tür stand und die Gäste in Mistress Genefas Zimmer bat.
Sabrins Herz klopfte aufgeregt. Schüchtern blickte sie den Hereinkommenden entgegen.
Die Hausherrin stellte Sabrin ihre Freunde vor. „Hoffentlich kann ich mir alle Namen merken“, dachte sich die junge Frau. Doch ehe sie sich weitere Gedanken machen konnte, kam auch Rynard dazu.
„Wie ich sehe, sind bereits alle versammelt“, rief er erfreut aus. „Vorgestellt habt ihr euch schon?“, wollte er wissen. Alle nickten. „Da können wir gleich zum Grund unseres außergewöhnlichen Treffens kommen. Aber ehe wir beginnen, muss ich euch sagen, dass ich leider den Detektiv nicht erreichen konnte. Mein Bote kam unverrichteter Dinge zurück.“
„Mister Moore ist nach Dover unterwegs, um dort etwas in meinem Auftrag zu erledigen. Allerdings reist er inkognito“, gab Lord Cedric bekannt.
„Da er bisher nichts Neues über Sally in Erfahrung bringen konnte, ist seine Anwesenheit nicht so wichtig. Ich hoffe, er sucht trotzdem weiter“, erwiderte Genefa. „Dafür hat unser Gast uns viel zu erzählen. Dass Garrick sich gerade jetzt in Dover befindet, trifft sich außerordentlich gut.“ Sie wandte sich an Sabrin, die bereits wie auf Kohlen von einem aufs andere Bein trat. „Bitte Sabrin, du hast das Wort.“
Die junge Frau räusperte sich. Doch der Frosch, der sich klammheimlich in ihrem Rachen verkrochen hatte, ließ sich nicht so einfach vertreiben. Nachdem sie sich einige Male geräuspert hatte, begann sie zu sprechen.
Die Anwesenden warteten gespannt, bis sich Sabrin gesammelt hatte. Aufmerksam hörten sie ihr dann zu, ohne sie zu unterbrechen.
Auch Adelaide, die natürlich bei diesem Treffen mit dabei war, zwang sich, Sabrin nicht zu unterbrechen. Jedes Wort der Dirne saugte sie auf wie ein trockener Schwamm Wasser. Dabei schüttelte sie verständnislos den Kopf. Sie verstand es nicht, dass ihre Herrin und Freundin so tief fallen konnte. Nie und nimmer konnte sie sich vorstellen, dass Sally als Hure gearbeitet hatte. Am liebsten hätte sie laut geschrien und die Berichterstatterin geschüttelt. Doch sie hielt sich zurück. Dafür schnäuzte sie sich in ihr Taschentuch.
„Ist alles in Ordnung mit dir“, fragte Lady Ophelia, die neben Sallys ehemaliger Zofe saß.
„Ich glaube es nicht“, erwiderte Adelaide schluchzend. „Miss Sally und eine Dirne, zu guter Letzt noch ein unehrenhafter Henker.“
„Ach, Kleine. Viel wichtiger ist es doch, dass unsere Freundin lebt und nun in Sicherheit ist.“ Lady Ophelia tätschelte das Mädchen am Arm. „Beruhige dich doch“, redete sie weiter auf die Zofe ein.
Sabrin hatte ihren Bericht inzwischen beendet. Nun saß sie abwartend auf ihrem Stuhl. Sallys Freunde waren alle geschockt. Keiner wagte es, als erster das Wort zu ergreifen.
„Ja, dann meine ich mal, dass das ausgesprochen gute Nachrichten sind“, durchbrach Lady Ophelia die aufgekommene Stille. „Auch wenn unsere Freundin einen unschönen Beruf ausüben musste, bleibt sie unsere Freundin.“ Sie wandte sich an Cedric, der peinlich berührt zu Boden starrte. „Cedric, du bist doch auch meiner Meinung“, sagte sie zu ihm. Als er sich immer noch nicht äußerte, stieß sie ihn an.
„Natürlich, Liebes“, entgegnete er endlich.
Auch Sir Selwyn war hin und her gerissen von Sabrins Bericht. „Wenn ich dieses Schwein erwische, der Sally in diese Lage gebracht hat“, stieß er wutentbrannt aus. Dabei ballte er die Hände zu Fäusten und demonstrierte, was er tun wollte.
„Da müssen wir nicht weit gehen, um den, in diesem Falle die Schuldige, zu finden“, sagte Genefa, die aufrecht in ihrem Bett saß und von dort aus die um sie versammelten Freunde beobachtete. „Wie Lady Ophelia bereits zu Adelaide sagte, die Hauptsache ist, Sally lebt und ist in Sicherheit. Wie ich Sabrin verstanden habe, ist sie nun mit diesem Henker zu dessen Bruder nach Dover unterwegs. Auch wenn mir dabei alle Haare zu Berge stehen, dieser Henker scheint ein ganz besonderer Mensch zu sein, dem viel an unserer Freundin liegt.“ Genefa sah in die Runde. Ehe sie weitersprechen konnte, erhob Lord Cedric das Wort.
„Mister Moore ist ebenfalls auf dem Weg nach Dover, wenn er nicht sogar schon dort angekommen ist. Er hat zwar von mir einen anderen Auftrag erhalten, aber da Sally nun wieder Vorrang hat, sollte er sich zuerst um sie kümmern. Ich werde noch heute einen Boten zu meinem Detektiv schicken und ihm das übermitteln lassen.“
„Das kommt gar nicht in Frage“, unterbrach Selwyn den Lord. „Ich werde natürlich höchstpersönlich nach Dover reiten und dort mit Garrick nach Sally suchen.“ Er sah sich nach Sabrin um. „Weißt du den Namen des Bruders von Raimon“, fragte er sie.
„So wie ich mich erinnere, muss dessen Name Delmore sein. Ganz genau erinnere ich mich aber nicht“, erwiderte Sabrin.
„Das macht nichts“, sagte Selwyn und wandte sich erneut an die anderen. „Was meint ihr zu meinem Vorschlag?“ Alle stimmten zu. Somit war es beschlossene Sache.
Selwyns Herz schlug ein wenig schneller, als er daran denken musste, seine geliebte Sally bald wieder im Arm halten zu können. Er wollte sofort um ihre Hand anhalten, egal, was die anderen vom ihm dachten und es wohl nicht gerne sahen, dass Sally als Dirne gearbeitet hatte. Doch das war ihm einerlei. Er liebte sie und wollte sie nie wieder loslassen, wenn er sie in Dover aufgespürt hatte. „Am besten wäre es, wenn ich gleich aufbrechen könnte“, sagte Sir Selwyn.
Genefa musste lächeln. Liebe verlieh wohl doch Flügel. Selwyn schien bereits über den Wolken zu schweben. „Aber nicht, ohne dich vorher zu stärken“, erwiderte sie. „Ich habe im Salon einen Imbiss vorbereiten lassen. Geht schon einmal vor. Ich komme gleich nach.“
„Meine Liebe, du solltest dich noch schonen“, warf Lady Ophelia besorgt ein. „Du bist erst vor wenigen Stunden Mutter geworden und brauchst Ruhe. Lass dir doch ein Frühstück aus der Küche bringen.“
„Ophelia, ich bin nicht krank“, warf Genefa lachend ein. „Ich habe sehr gut geschlafen und fühle mich munter wie ein Fisch im Wasser. Ein wenig Bewegung tut mir nach den letzten Wochen, die ich fast bewegungslos verbringen musste, ganz gut. Ich fühlte mich wie eine Tonne auf zwei Beinen. Aber keine Sorge, ich werde mich nicht überanstrengen. Ein kleiner Imbiss wird mir auch guttun. Ich bin sehr hungrig.“ Genefa schwang die Beine aus dem Bett. „Geht schon mal! Ich muss mich noch ankleiden“, scheuchte sie ihre Freunde aus dem Zimmer. „Adelaide, hilfst du mir bitte?“, wandte sie sich an die Zofe, die den anderen folgen wollte. „Rynard kümmert sich inzwischen um die anderen.“
„Gerne Mistress“, erwiderte Adelaide. Eifrig sorgte sie sich dafür, dass Genefa gepflegt aussah und den anderen folgen konnte. Als sich die Hausherrin vor den Spiegel setzte, lächelte sie ihr entgegen. „Ich freue mich so sehr“, sagte sie. „Miss Sally wird bald wieder bei uns sein.“
„Was willst du dann tun?“, fragte Genefa sie.
„Wie meint Ihr das?“
„Nun ja, ich denke, du wirst bestimmt wieder in Sallys Dienste treten wollen“, erwiderte Genefa.
Adelaide bekam glänzende Augen. „Ihr würdet mir das erlauben? Immerhin stehe ich jetzt in Euren Diensten“, sagte sie.
„Wie könnte ich dich zurückhalten? Ich weiß, wie sehr du Sally magst und lieber heute als morgen in ihre Dienste zurück möchtest. Es ist deine Entscheidung, meine Zustimmung hast du.“
„Ihr meint, ich dürfte zurück zu Sally?“ Adelaide begann vor Glück zu weinen.
Genefa stand auf und nahm die weinende Zofe in ihre Arme. „Aber natürlich. Auch wenn ich dich sehr vermissen werde, jetzt wo der kleine Gideon da ist und ich dich eigentlich als Kindermädchen bräuchte. Auch meine Mädchen werden dich vermissen, sie lieben dich sehr.“ Tröstend strich sie Adelaide die Haare aus dem Gesicht. „Und nun weine nicht mehr. Lächle, wir sollten uns freuen, dass unsere Freundin bald wieder unter uns weilen wird.“ Dann setzte sie sich abermals auf den Stuhl vor dem Spiegel. „Bist du erstarrt oder soll ich mich selbst frisieren? Für was bezahle ich dich eigentlich?“, mahnte sie Adelaide scherzend, die sich flugs daranmachte, Genefas Wunsch nachzukommen.
Als Genefa und Adelaide wenig später den kleinen Salon betraten, hatten sich die Freunde dort bereits versammelt. Während Sir Selwyn ungeduldig auf und ab schritt, hatte die anderen ihre Plätze eingenommen und unterhielten sich angeregt. Auch Sabrin saß mit am Tisch, neben ihr Lady Ophelia, die aufgeregt auf sie einredete und viele Fragen stellte.
„Da seid ihr ja endlich!“, rief Sir Selwyn Genefa entgegen. „Ich dachte schon, du wirst nie fertig. Gut siehst du aus, meine Liebe. Aber dass du mich letzte Nacht nicht gerufen hast, das verzeihe ich dir nie.“
Genefa lächelte. „Warum so ungeduldig, lieber Freund“, sagte sie zu ihm. „Ach ja, du wandelst auf Freiersfüßen und kannst es kaum noch erwarten, deine Braut in die Arme zu schließen. Dass ich das noch erleben darf! Ich dachte schon, du bleibst für immer Junggeselle! Außerdem, was wolltest du letzte Nacht bei mir? Geburten sind Frauensache. Da haben Männer nichts zu suchen.“ Schelmisch zwinkerte sie Selwyn zu, der krampfhaft versuchte, das Lachen zu verkneifen.
„Genefa!“, wollte Rynard seine Gattin zurückhalten.
„Lass sie doch, Rynard“, meldete sich Selwyn zu Wort. „Sie hat doch recht.“
„Ach ja!“ Rynard sah seinen Freund an, als hätte er etwas Abscheuliches gesagt.
„Nun streitet euch nicht und setzt euch. Mir knurrt der Magen. Wenn ich nicht bald etwas zu essen bekomme, werde ich knurrig oder sterbe an Hunger.“ Genefa begab sich an die Tafel. Rynard schob ihr den Stuhl zurecht.
Als endlich alle ihre Speisen auf ihren Tellern hatten, wandte sich Lord Cedric an Sir Selwyn. „Du willst wirklich nach Dover reisen?“, wollte er wissen. „Ich kann auch einen Boten schicken, der Mister Moore die Nachricht überbringt.“
„Auf keinen Fall! Mein Entschluss steht fest“, erwiderte Selwyn. „Mit Garrick wird es uns ganz bestimmt bald gelingen, Sally zu finden. Jetzt, nachdem wir wissen, dass sie als Bursche verkleidet unterwegs ist, werden wir uns auch nach „Männern“ umschauen.“ Selwyn lächelte verschmitzt. Sally verkleidet zu finden, war bestimmt nicht einfach. Aber ein junger Bursche in Begleitung eines Henkers, den man immer an seiner auffälligen Kleidung erkennen konnte, war garantiert nicht zu übersehen. Wie sehr er sich irrte, ahnte er noch nicht.
„Wie du willst“, sagte Cedric darauf. Er hob sein Glas. „Trinken wir auf Sally und darauf, dass sie bald wieder hier ist. Aber auch auf diese mutige, junge Frau“, er zeigte auf Sabrin, die einen hochroten Kopf bekam, als Sir Cedric sie als mutig bezeichnete.
Als Sir Selwyn gegen Mittag auf die große Freitreppe von Rynards Haus hinaustrat, strahlte die Sonne mit ihm um die Wette. Ein Knecht brachte eben sein Pferd. Das Fell des Hengstes glänzte. Er war frisch gestriegelt und bereits gesattelt. Die Ungeduld seines Herrn schien sich auf das Tier zu übertragen. Es wieherte laut und warf den Kopf majestätisch nach oben, dass der Knecht Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben. Selwyn trat sofort zu ihm und nahm ihm die Zügel ab. „Gleich geht es los, mein Guter. Geduld, Geduld“, sprach er beruhigend auf den Hengst ein.
Rynard kam dazu und reichte Selwyn die Satteltasche. „Unsere Köchin hat es sich nicht nehmen lassen und hat dir reichlich Proviant eingepackt. Braten, Käse, Brot, Hartwurst, alles, was das Herz begehrt.“
„Als wenn ich Hunger verspüren könnte. Meine Aufregung steigert sich von Minute zu Minute. Aber mit diesen Köstlichkeiten kann ich darauf verzichten, Rast in Spelunken zu machen“, bedankte sich Selwyn und saß auf.
„Aber reite bitte dein gutes Pferd nicht zu schanden. Ab und an eine Pause kann für dein Tier nicht falsch sein. Für dich übrigens auch nicht“, warnte Rynard. Er hatte Sorge, dass sein Freund in seiner Ungeduld kein Erbarmen mit seinem Reittier hatte und es antrieb, bis es vor Erschöpfung tot umfiel oder er selber vor Müdigkeit vom Pferd stürzte und sich den Hals brach.
„Keine Sorge. Ich weiß, wann mein Guter hier und ich eine Pause benötigen“, beschwichtigte Selwyn Rynard, während er aufsaß. „Bis bald, meine Freunde“, rief er und presste seinem Hengst die Fersen in die Flanken. Wiehernd stieg er auf die Hinterhand, Selwyn bändigte ihn sofort, ließ ihm aber sogleich wieder die Freiheit. Im gestreckten Galopp ritt er den Kiesweg zum Tor hinunter. Dort stieß er nochmals zum Gruß einen Pfiff aus. Dann verschwand er aus der Sichtweite der Daheimgebliebenen.