https://www.deviantart.com/ifritnox/art/706851298
Endlose Reihen von Baumstämmen glitten vorüber, während sie wanderten. Vögel sangen hoch im Geäst und kleine Tiere huschten raschelnd durch das Unterholz. Es war ein warmer Tag, die Luft roch angenehm nach Moos und frischem Wasser, ein ruhiger Nachmittag nach einem Sommersturm. Nur, dass es keinen Sturm gegeben hatte. Merkanto konnte die Energie der Umgebung spüren und zur Zeit gab es davon äußerst wenig. Die Winde wirkten träge und müde, die Wolken am Himmel schienen sich kaum vom Fleck zu rühren. Der Wald pulsierte vor Leben, doch war es ein entspanntes Leben, das lieber in der Sonne döste statt den alten Tanz von Jäger und Beute zu tanzen. Die kleine Gruppe, die sich ihren Weg zwischen den Seen und Bäumen hindurch suchte, wurde wie ein vorbeiziehendes Truggespenst beobachtete. Ein goldener Fuchs, der nah am Weg ein Sonnenbad nahm, räkelte sich ungerührt weiter. Eine Gruppe kleiner, runder Mäuse starrte zu den Wandernden auf und hoppelte dann gemächlich aus dem Weg.
Merkanto hatte bereits Geschichten aus dem Sonnenreich gehört, zu seiner Zeit als königlicher Berater im großen Krieg. Er hatte einige der Soldaten, die hierher verschleppt und dann entkommen waren, persönlich befragt.
Sie hatten selten von den Grausamkeiten erzählt, die sie während ihrer Kriegsgefangenschaft erlitten hatten. Die Geschichten hatten sich um das Land selbst gedreht: Die Bäume! Die Tiere! Die Hügel! Die Wolken!
Merkanto hatte es damals nicht verstanden, doch nun begann er, die Begeisterung nachzuvollziehen. Die Luft roch so viel klarer und lebendiger als im Schattenreich, die Farben waren so viel satter und leuchtender. Er fühlte sich frei und gleichzeitig geborgen in diesem feindlichen Land. So stark war die Empfindung, dass er manchmal die Gefahr vergaß und einfach nur noch durch den Wald spazieren wollte, ohne Ziel und ohne sich ständig umzusehen.
Merkanto musste sich zwingen, an die Verfolger zu denken. Jedes Lebewesen hier – gut, jedes vernunftbegabte Lebewesen hier – wollte sie tot sehen. Sollte man sie entdecken, bevor sie das Schloss auf dem Sonnenberg erreicht hätten, so würde man sie unverzüglich angreifen. Vermutlich würde das auch geschehen, wenn sie den Sonnenberg erreicht hatten. Einen Moment sah Merkanto das Ende ihrer Reise genau vor sich: Nach vielen gefahrvollen Abenteuern und mit mehr Glück als einem dunklen Wesen zustand erreichte er mit der Gruppe den Berg unter dem goldenen Licht der Sonne. Sie kletterten eine gewundene Straße hinauf zum Palast, die Wachen vor den Toren machten große Augen – bliesen die Hörner und vernichteten die Kinder der Sonne in einem einzigen, heftigen, kurzen Kampf.
Merkanto seufzte und sah sich um. Die Schönheit dieses Waldes hatte ihm seine Vorstellungskraft gründlich vergällt. Er zweifelte bereits daran, dass sie das Schloss überhaupt erreichen könnten. Es gab einfach zu viele Hindernisse, zu viele Gefahren, zu viele Gegner zwischen ihnen und dem Ziel. Iljans Mission war hoffnungslos und gelegentlich stieß Merkanto mit der Realität zusammen und konnte sich nicht länger vormachen, dass es Hoffnung gab. Schon allein das Überschreiten der Grenze war ein Wunder gewesen, alles weitere war nur der Aufschub des unvermeidlichen Scheiterns.
»Was ziehst du so ein Gesicht?«, fragte Cary, die sich unbemerkt an seine Seite gesellt hatte.
»Ich kann die Hitze nicht ausstehen«, log Merkanto. Cary aber nickte. »Wegen deiner Magie? Die Luft steht still, nichts rührt sich … «
»Und alles wartet auf das große Gewitter, das sich endlos lange hinauszögert«, fügte Merkanto hinzu, überrascht davon, dass Cary seine Fähigkeiten verstand. »Ich hasse das.«
Die Elfe nickte. »Würde mir wohl nicht anders gehen.«
»Du kennst dich aus.« Merkanto sah die Elfe von der Seite an. Cary verstand die in seinen Worten verborgene Frage.
»Ich habe versucht, so viel wie möglich über die Fähigkeiten meiner Mitstreiter bei den Weißen Wächtern zu lernen«, erklärte sie. »Auch über die Magier und ihre Fähigkeiten.«
»Hattet ihr einen Sturmmagier in euren Reihen?«, fragte Merkanto, der sich das nicht vorstellen konnte.
»Ja«, sagte Cary. »Eine junge Hexe, unglaublich talentiert. Sie war wundervoll – mitfühlend, mutig. Ihr einziges Problem war, dass sie sich selbst immer überschätzt hat. Sie ist bei einem kleineren Scharmützel gefallen. Ich glaube, sie hielt sich für unantastbar für Pfeile und Waffen jeder Art.«
»Das Heldensyndrom«, murmelte Merkanto leise. In Carys Augen war der Schatten eines dunklen Schmerzes getreten und sie lächelte ihn hastig beiseite.
»Ich sollte einem Feind allerdings keine Hintergrundinformationen über unser Heer geben, was?«
»Sicherlich nicht, Spionin«, meinte Merkanto lächelnd. Gleichzeitig fragte er sich, ob nicht er selbst das von Cary erwähnte Scharmützel befohlen hatte.
Wie Stella vorhergesagt hatte, begann sich das Einhorn im Laufe des Tages zu verwandeln. Gudrun hielt sich in der Nähe des wunderbaren Tieres und beobachtete sie scharf. Es begann sehr unauffällig damit, dass sich die Mähne zu ringeln begann. Nach und nach wurde das silbrige Haar kürzer und luftiger und färbte sich dabei ein wenig gräulich. Etwas verspätet setzte die gleiche Verwandlung mit dem Schweif ein. Bald sah es aus, als trüge Stella Mähne und Schweif aus Meeresschaum. Das Einhorn stolperte und krümmte sich vor Schmerz.
»Iljan!«, rief Gudrun. »Lass uns eine Pause machen.«
Der Vampir warf einen Blick zurück, erkannte die Situation und nickte. Gudrun blieb mit Stella auf einer kleinen Lichtung zurück, während die anderen sich einen geschützten Lagerplatz in Hörweite suchten. Gudrun war dankbar über die Privatsphäre, die ihnen damit verliehen wurde.
Sie hockte sich an Stellas Seite und streichelte die bebende Flanke. »Ganz ruhig, meine Große. Einfach weiteratmen.«
»Kann man das nicht irgendwie aufhalten?«, erklang Stellas verbitterte Stimme. »Ich will das nicht mehr!«
Gudrun schwieg. Nach einer Weile antwortete sie: »Ich kann verstehen, dass du die Schmerzen nicht mehr willst. Aber Stella, du musst begreifen, was für eine Gabe du besitzt!«
Das Einhorn sah sie aus Augen an, die nicht mehr golden sondern bereits braun waren. »Gabe?«
Gudrun nickte und streichelte weiter Stellas Fell, das allmählich eine goldbraune Färbung annahm. »Wie wär's, während wir warten, erzähle ich dir eine Geschichte!«
Stella hob leicht den Kopf. »Ein Gute-Nacht-Märchen?«
»Eine Legende«, korrigierte Gudrun und machte es sich bequem. »Hör gut zu.«
Vor ewigen Zeiten, so wollen es die Legenden, gab es keinen Ewigen Krieg. Was für eine Vorstellung, denken die dunklen Wesen, wenn sie diese Geschichten zum ersten Mal in einer schattigen Spelunke hören. »Es heißt Ewiger Krieg. Wie soll er da einen Anfang haben?«
Doch trotzdem behaupten die Legenden, dass es eine Zeit vor dem Kampf von Licht gegen Schatten gab, da alle Wesen vereint waren gegen einen einzigen Feind. So unwahrscheinlich es klingt, jene Wesen, die tatsächlich einen Krieg führten, waren ausrechnet die Menschen.
»Menschen!«, schnauben manche. »Diese Schwächlinge? Diese Zwei-Weltler? Diese Magielosen? Wer glaubt schon, dass die jemals etwas besonderes waren!«
Ein Königreich von Kakerlaken käme den meisten wahrscheinlicher vor.
Doch dann geraten einige ins Grübeln. Wie kommt es eigentlich, dass es so viele Menschen gibt, wo sie keine Fähigkeiten haben? Wie kommt es, dass sie sich auf beide Seiten der Grenze verbreitet haben, dass sie problemlos im Niemandsland zwischen Sonne und Nacht wandeln können?
Die Menschen haben nämlich eine Gabe, die keines der anderen Wesen besitzt. Das ist die Gabe der Wandlung.
Vor Unzeiten, vor dem Ewigen Krieg, gab es einen anderen Krieg, den Krieg der Fabelwesen gegen die Menschen. Damals gab es unzählige Menschen. Tausende. Millionen. Milliarden. Sie beherrschten die Welt, bis andere Wesen auftauchten. Ja, ihr habt es gehört, in der düsteren Spelunke. Die Menschen sind die älteste Rasse dieser Welt! Alle anderen Physä kamen später. Viel später.
Es gab das, was es immer gibt, wenn neue Wesen in ein fremdes Land kommen: Missverständnisse, Freundschaften, Misstrauen und Hass, Faszination und Respekt, Liebe, Tote.
Für die Menschen waren alle Fabelwesen gleich. Es gab den schönen Vampir und die schöne Elbin, den hässlichen Drachen und die hässliche Hexe.
Doch einige Wesen brachten den Menschen Kummer und Tod. Ihr wisst, dass wir uns von ihnen ernähren (ach, Stella, das ist übrigens eine Geschichte der dunklen Wesen, deswegen …).
Die Menschen begannen, die für sie unterschiedslosen Fabelwesen zu unterscheiden. Sie sagten: Diese sind mächtig, diese sind schwach. Diese sind langlebig, diese nicht. Diese sind gefährlich, diese nicht.
Diese sind böse, diese sind gut.
Damit begannen sich die Familien zu entzweien. Damit begann die Grenze, und mit der Grenze begann der Krieg.
Doch auch die Menschen befanden sich plötzlich auf zwei Seiten der Lande. Es gab jene Menschen, die kämpfen wollten; und diese zogen in das Schattenreich auf der Jagd nach Blut. Viele von ihnen wurden in dieser Zeit selbst zu Schatten.
Dann gab es jene Menschen, die Frieden wollten; und diese zogen in das Sonnenland. Sie suchten dort Einklang und Harmonie. Viele von ihnen wurden in dieser Zeit selbst zu Licht.
Aber die Familien der Menschen waren getrennt: Frauen von ihren Männern, Brüder von ihren Schwestern, Kinder von ihren Eltern. Die Menschen zog es zu ihresgleichen, selbst nachdem einige von ihnen Licht, andere Dunkelheit geworden waren. Die Menschen wollten ein Volk bleiben.
Sie fanden eine Pforte zwischen Licht und Schatten, und sie nannten sie Umira. Dort, am Tor von Umira, konnten sie die Seiten wechseln.
Aber so ein Wechsel ist nicht harmlos. Die Menschen trugen nun Elemente von Licht und Dunkel in sich, von Gut und Böse. Nur wenige haben ihre eigene Seite niemals verlassen – dazu ist die menschliche Neugier zu groß.
Die Menschen wechselten wieder und wieder. Sie waren böse, dann gut, dann böse, dann gut.
Sie wandelten sich. Wieder und wieder. Und mit der Zeit machten sie diese Verwandlung zu ihrer Kunst. Es war ihre Magie, dass sie auf beiden Seiten leben konnten, dass sie mehr als einmal wechseln konnten.
Die Menschheit schrumpft, doch es heißt, ihre Gabe lebt fort. Es heißt auch, dass andere Wesen die Wandlung meistern können, die Fähigkeit von Umira.
Gudrun hörte auf zu reden, beinahe mitten im Satz. Stella sah vom Boden zu dem Profil der Hexe auf, der vorspringenden, schiefen Nase und dem spitzen Mund vor dem Flackern der grünen Blätter.
»Und weiter?«, fragte sie leise.
»Es gibt nicht mehr viel zu erzählen«, sagte Gudrun. »Ein paar weitere Legenden. Geschichten über Wesen mit der Umira-Fähigkeit. Prophezeiungen, die sich nie erfüllt haben.«
Die Hexe wandte den ungleich gefärbten Blick Stella zu. »Ich kenne sie nicht mehr auswendig. Wie geht es dir?«
»Besser, Aelinos«, sagte Stella, denn tatsächlich waren die Krämpfe verschwunden. Sie erhob sich vorsichtig auf die Beine. »Wie sehe ich aus?«
»Tja, also Mähne, Schweif und die Fesseln sehen aus wie weißer Schaum«, meinte Gudrun und verbiss sich ein Kichern.
»Und der Rest?«, fragte Stella alarmiert.
»Gestenbraun«, meinte Gudrun und lachte schallend los. »Du bist ein Bier, Stella!«
Das Einhorn sah an sich herunter. Sie konnte ihre von Schaum umspülten Hufe sehen und das goldbraune, leicht gefleckte Fell, wie ein Bier mit einigen Unreinheiten darin. Sie schnaubte.
»Stellt sich nur die Frage, ob wir deine Pisse trinken können, um betrunken zu werden!«, lachte Gudrun.
»Du bist widerlich«, klagte Stella sie an und warf den Kopf hoch.
»Das ist nichts im Vergleich zu dem, was Naja sagen wird«, Gudrun kicherte schadenfroh, dann warf sie einen Arm über Stellas Rücken und klopfte ihr auf die Schulter. »Einfach Haltung bewahren!«
»Einfach Haltung bewahren!«, schnaubte Stella. »Ich trinke nie wieder Alkohol!«
»Das sagen wir alle von Zeit zu Zeit«, meinte Gudrun. »Das sagen wir alle.«
Die anderen warteten bereits ungeduldig. Sie hatten sich auf einigen umgefallenen Baumstümpfen versammelt und ließen Wasserschläuche und Trockenfrüchte kreisen. Neugierige Blicke musterten Stella, als sie mit Gudrun zu der Gruppe trat. Najaxis feixte. »Hübsche Farbe!«
Stella schnaubte, sagte aber nichts. Sie wollte um keinen Preis Najaxis' Gedanken berühren müssen.
»Brauchst ihr noch Ruhe?«, fragte Iljan. »Wir können eine längere Pause machen.«
Gudrun schüttelte den Kopf. »Je schneller wir diesen Wald verlassen, desto besser.«
»Eigentlich«, ließ sich Merkanto vernehmen, »stimmt das nicht so ganz, denn nach dem Wald kommen neue Wiesen.«
Gudrun stöhnte. »Je schneller wir am Sonnenberg sind, desto besser. Besser?«
Merkanto hob abwehren die Hände. »Ich wollte es nur erwähnen!«
»Hört auf zu streiten«, meinte Iljan. »Gehen wir. Ich muss Gudrun ausnahmsweise zustimmen: Diese Reise zieht sich schon zu lange hin.«
Merkanto sah einen Augenblick lang so aus, als wollte er etwas sagen, schwieg dann aber. Stella schnaufte leise und schüttelte die flockige Mähne. Eine Alkohol-Form! Ob die Legenden auch davon sprachen?