https://www.deviantart.com/ifritnox/art/733388580
»Iljan!«, zischte Nepumuk. »Du enttäuscht mich! Du bist ein Taidoni, du gehörst zur ältesten Vampirlinie der Welt! Was habe ich getan, um so einen Sohn zu verdienen?«
Iljan baumelte kopfüber in seinem Schlafzimmer. Er war unbeholfen wie ein Kleinkind, das gerade erst gelernt hatte, zu fliegen. Er schwang hin und her, während sein Vater mit ihm schimpfte.
»Wie oft noch? Du musst das Gesicht wahren, Iljan. Eine undurchdringliche Maske. Iljan!«
Iljan ruderte hilflos mit den Armen. Es ging einfach nicht, er konnte das Gleichgewicht nicht halten. Kalter Wind fuhr durch seine Haare und etwas Nasses traf sein Gesicht. Tränen?
»Iljan!«, schrie Nepumuk jetzt. »Iljan!«
Iljan wollte sich die Ohren zuhalten, aber seine Arme waren schwer. Wie durch einen dichten Nebel drang ein Gedanke zu ihm vor … Caryellê. Wo waren Cary und die anderen? Waren sie gefangen?
»Iljan!«
»Still, Vater, ich muss denken«, murmelte er. Der Wind wurde kälter und stärker.
»Iljan!«
Iljan schlug die Augen auf.
Der Himmel war grün und unregelmäßig, er erinnerte an Brokkoli. Der Boden dagegen war blauschwarz und Iljan stand auf etwas silbrigem, das sich wie ein bockendes Pferd bewegte. Er wunderte sich darüber, dass er im Stehen hatte schlafen können, doch sein Kopf schmerzte so sehr, dass ihm jeder Gedanke sofort wieder entglitt.
»Iljan!«, brüllte sein Vater. Nur, dass die Stimme nicht Nepumuk Taidoni gehörte, sondern Jackie.
Iljan wollte sich bewegen und stellte fest, dass seine Beine fest im Griff von seltsamen, weißen Seilen waren. Diese Seile waren mit dem silbrigen Schatten verbunden, auf dem er stand … nein, er hing daran! Schlagartig wurde ihm klar, dass er kopfüber von irgendetwas getragen wurde, und dass tief unter ihm – wo er den Himmel vermutet hatte – der Wald von Wisan liegen musste.
»Jackie?«, fragte er und begann zu strampeln.
»Dem Mond sei Dank, du lebst!«, hörte er Jackie hinter sich.
»Was ist passiert?«, die weißen Klauen wollten Iljan nicht freigeben.
»Sie haben dir auf den Kopf geschlagen, als du uns verteidigen wolltest«, berichtete Jackie.
Er erinnerte sich wieder: Die Comori, die Hütte in Wipfelgarten, dann der Angriff. Iljan wusste, dass sie angegriffen worden waren – bloß, von wem?
»Sie?«, fragte er, an Jackie gewandt.
Die Werwölfin stöhnte. »Guck nach oben, oder hat der Schlag dir ein paar Gehirnzellen platzen lassen? Drachen, Iljan! Drachen.«
Endlich erkannte Iljan, dass er auf die weißen Bauchschuppen eines großen, schlanken Drachen starrte, wenn er den Blick zu seinem Füßen hob.
»Das ist noch nie geschehen!«, murmelte Ajandorr und seine Blätter raschelten besorgt. »Ein Angriff aus der Luft, mitten im Sonnenland, auf unser Wipfelgarten!«
»Ja, aber habt ihr sie gesehen?«, fragte Merkanto zum wiederholten Mal. »Wer könnte es gewesen sein? Wo bringen sie unsere Freunde hin?«
»Nun, nun«, murmelte Ajandorr und wiegte den oberen Teil seines Körpers hin und her. »Wir waren hier und der Angriff fand oben statt. Ich habe nichts gesehen. Doch ich werde meine Wurzelbrüder fragen, vielleicht weiß einer von ihnen mehr.«
Merkanto stöhnte genervt und wandte sich ab, marschierte über die Lichtung und trat schließlich hilflos gegen einen riesigen Mammutbaumstamm.
»Verdammt!«, brüllte er.
»Ich bin ja immer der Meinung, dass Dampf ablassen sehr hilfreich ist«, Gudrun saß schmatzend auf einem niedrigen Ast, ließ die Beine baumeln und hielt in einer Hand einen Apfel, »aber die meisten Leute widersprechen mir immer.«
»Halt die Klappe!«, fauchte Merkanto.
Gudrun grinste und sagte, an Stella gewandt: »Er ist auf meiner Seite!«
»Sei still«, schnaubte das Einhorn sanft. »Das ist nicht die richtige Zeit, Aelinos!«
Mehrere quälend lange Minuten vergingen, ehe Ajandorr sich auf seinen Wurzeln zu ihnen herüber schob.
»Ich habe gute Nachrichten. Ich weiß, wohin eure Freunde gebracht wurden. Eine Gruppe weißer Drachen hat sie nach Norden davon getragen. Als sie das letzte Mal gesichtet wurden, lebten sie noch.«
Merkanto sprang auf. »Wir müssen hinterher!«
»Ihr werdet zu langsam sein«, widersprach Ajandorr. »Die Drachen werden spätestens bis zum Morgen Quyhst erreichen. Selbst, wenn sie eine Pause einlegen, werden sie im Laufe des morgigen Tages die Grenze überqueren.«
Darauf konnte Merkanto nur noch schweigen. Mit einem Mal kam ihm die ganze Unternehmung hoffnungslos vor. Wie sollten sie in nur zwei Tagen zur Grenze zurückkehren? Zwar war der Weg kürzer als ihre bisherige, von Um- und Irrwegen gekennzeichnete Reise, doch wären es immer noch sechs, sieben Tagesreisen bis zur Grenze. In dieser Zeit konnte alles mögliche geschehen.
Entmutigt ließ der Zauberer die Schultern hängen, dann ballte er die Hände zu Fäusten. »Wir können unsere Freunde nicht im Stich lassen!«
»Das habe ich auch nicht vorgeschlagen«, sagte Ajandorr und stellte sich Merkanto in den Weg, als dieser loslaufen wollte. »Hör mir bis zum Ende zu, Zauberer. Es ist ungewöhnlich für uns, Fremden unsere Hilfe anzubieten. Aber ihr seid in einer ungewöhnlichen Situation, deswegen bieten wir euch die Hilfe unserer Verbündeten, der Cereceri an.«
Merkanto sah den Comori an. »Cereceri? Tiermenschen?«
»Genau. Die Bewohner von Wipfelgarten waren Cereceri – um genau zu sein, sind die meisten Bewohner von Wisan Tiermenschen, und sie alle haben sich in kleinen Dörfern versammelt, die unter dem Schutz einer Gruppe von Comori stehen. Unser Wurzelnetz ist weit und schnell – ehe der Mond weit gewandert ist, kann eine Gruppe Cereceri hier sein, um euch zu helfen. Sie werden euch bis ins Pilzland von Quyhst tragen und auf schnellen, geheimen Pfaden führen.«
»Das ist sehr freundlich«, meinte Merkanto.
Ajandorr neigte sich leicht. »Diese Hilfe kommt nicht völlig umsonst. Die Cereceri werden euch tragen, aber es ist euch verboten, sie in euren Kampf mit den Drachen hinein zu ziehen. Und danach werdet ihr wieder durch die Dschungel ziehen müssen – unsere Ältesten wollen, dass ihr euch dann zur Tigerpfote begebt und euch dort dem Urteil stellt, das die Comori über euch zu fällen haben!«
»Die Tigerpfote?«, fragte Merkanto.
»Eine Bauminsel am südlichen Ende des Dschungels, die Cereceri werden euch auch dorthin bringen«, erklärte Ajandorr. »Seid ihr mit diesen Bedingungen einverstanden?«
»Ja«, antwortete Merkanto. »Ja, auf jeden Fall.«
»Gut«, der Comori wandte sich zum drehen, hielt dann aber noch einmal inne. »Und glaubt nicht, dass ihr euch an der Tigerpfote vorbeischleichen könnt, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Die Comori werden wissen, welchen Weg ihr nehmt, und wenn ihr euch unserem Urteil verweigert, werden wir eurer Mission ein Ende bereiten, egal, wie unser Urteil ausgesehen hätte.«
Merkanto biss sich auf die Zunge. Das Gefühl, einen gefährlichen, unbedachten Pakt abgeschlossen zu haben, ließ sich nicht abschütteln.
Ajandorr kroch davon. »Packt eure Sachen. Was ihr nicht mitnehmt, legt an den Stamm der Bäume. Wir werden es zur Tigerpfote bringen. In einer halben Stunde werdet ihr aufbrechen.«
Tief unter ihnen glitt der Dschungel dahin wie ein endloses, grünes Meer. Zwischen ihren Stiefeln konnte Cary die grünen Baumkronen sehen und annähernd die Geschwindigkeit bestimmen, mit der die drei großen Drachen vorwärts flogen. Sie waren schnell und hielten in gerader Linie auf das Schattenland zu.
Der zweite Drache in der Reihe hielt Cary in der Vorderpranke. Iljan und Jackie befanden sich in den Klauen des ersten Drachen, Najaxis, Abarax und Terziel wurden vom dritten Drachen getragen.
Cary hörte Stimmen von vorne, doch sie konnte nur auseinandergerissene Wortfetzen verstehen. Dann knurrte der erste Drache und Iljan und Jackie verstummten. Aber immerhin schien der Vampir nicht verletzte zu sein, nachdem er bei dem Angriff der Drachen bewusstlos geschlagen worden war.
Cary wand sich in der Klaue ihres Entführers und drehte den Hals nach hinten. Terziel und Abarax, jeder in je einer Vorderklaue, hatten sich die Hände gereicht, während Najaxis im Griff des linken Hinterbeins zappelte und offenbar eine Panikattacke bekämpfte.
»Wohin bringt ihr uns?«, verlangte Cary laut zu wissen.
»Sei still«, knurrte der Drache, der sie trug.
»Ihr müsst uns zuhören, bevor ihr uns verschleppt!«, Cary ließ nicht locker.
»Du sollst still sein!«, fauchte der Drache. »Aber um dich zu beruhigen, Verräterin: Sophram hat befohlen, dass euch kein Haar gekrümmt wird.«
Cary schnappte nach Luft – auch, weil der Griff des Drachen zu fest um ihren Bauch lag: »Sophram führt euch an?«
Sie sah nach vorne und betrachtete den vordersten Drachen genauer. Die Dunkelheit, der scharfe Gegenwind und die ungünstige Perspektive machten es ihr unmöglich, den Drachen zu erkennen, doch es mochte durchaus Sophram sein.
»Wohin bringt ihr uns?«, fragte sie panisch.
»Zur Grenze«, antwortete der Drache, der sie trug, und gab sich keine Mühe, zu verbergen, wie genervt er war. »Ihr kommt dorthin, wo ihr hingehört – ins Schattenland. Alle von euch.«
Gudrun schleppte eine Tasche zum Ausgang, über deren Dimensionen Merkanto nur den Kopf schütteln konnte.
Als die Hexe sich anschickte, schwer beladen die Treppe hinab zu steigen, musste er eingreifen.
»Willst du das wirklich alles mitnehmen? Wir müssen schnell sein, also brauchen wir leichte Gepäck!«
»Ich brauche alles davon!«, widersprach die Hexe. »Das sind meine Trankzutaten!«
»Trankzutaten!«, fuhr Merkanto auf. »Was willst du deine Tinkturen und Tränke mitnehmen?!«
»Ich bin eine Hexe, diese Dinge sind mein Leben!«, fauchte Gudrun, wuchtete sich die große Tasche auf den Rücken und taumelte ins Freie. »Außerdem, Herr Leichtes Gepäck, hast du von meinen Salben profitiert, wie ich dir ins Gedächtnis rufen möchte!«
Merkanto stöhnte und rieb sich die Stirn, hinter der es unangenehm pochte. »Gudrun, wir gehen auf eine Rettungsmission! Wir werden wohl kaum Brandsalben brauchen.«
»Man kann nie wissen«, gab Gudrun zurück und war verschwunden.
Merkanto atmete mehrmals tief durch, um sein erhitztes Gemüt abzukühlen. In Gudruns Abwesenheit ging er nochmals sein Gepäck durch: Eine zusätzliche Robe – die man als Decke verwenden oder für Bandagen zerschneiden konnte. Brot und Trockenfrüchte, genug für einige Tage, vielleicht eine sparsame Woche. Zwei Wasserflaschen – er nahm beide und warf sie fort, denn Gudrun würde genug Flaschen bei sich haben. Dann noch seinen Stab und ein paar Kleinigkeiten – Zunder, ein Kaleidoskop, eine Auswahl von Schutzamuletten, ein kurzes Messer. Dazu kamen Iljans Degen und Carys Jagdmesser, die Merkanto ihren Besitzern zurückgeben wollte. Alles andere hatte er ebenfalls zusammengepackt und trug die Sachen nun hinaus auf die Brücke. Ein kleiner Comori, der in Form und Farbe einer Mistel ähnelte, war nach oben geklettert gekommen und begann nun, das überflüssige Gepäck nach unten zu tragen. Merkanto folgte ihm mit seinem Bündel. Unterwegs überholte er Gudrun, die sich mit ihrem eigenen Gepäck abmühte und herzhaft fluchte.
Wie Ajandorr es versprochen hatte, fand Merkanto unten am Boden bereits die Cereceri vor.
Neugierig näherte er sich den Cereceri, die, wie er gehört hatte, überall im Sonnenreich vorkamen, aber bevorzugt die Dschungel bewohnten, wo sie ihren naturverbundenen Lebensstil in kleinen, familiären Gruppen ausleben konnte, zurückgezogen und wild wie richtige Tiere.
Nun fand er sich vier Personen gegenüber, die wie normale Menschen aussahen. Drei hielten sich im Hintergrund, die vierte Person, eine sehr dünne, gedrungene Frau mit bronzener Haut und kurzen, beige-grauen Haaren, schien ihre Anführerin zu sein. Sie trug eine Lederhose, die ein Stück über die Knie ging, keine Schuhe, ein weißes Hemd und Hosenträger. Bei den anderen drei Cereceri handelte es sich um zwei junge Kinder, die Geschwister sein könnten, beide besaßen rotbraune Haare und waren mager und blass. Der vierte Cereceri hatte ungewöhnliche, gelb-grüne Haare und glühende Augen, seine Haut dagegen war so schwarz wie eine mondlose Nacht. Er trug metallene Ketten um den Oberkörper und eine schwarze, weite Hose, die eng an den Schienbeinen anlag, sich aber um die Oberschenkel bauschte.
»Ihr seid Merkanto?«, fragte die Frau und kam dem Zauberer entgegen. Der legte sein Gepäck ab und verneigte sich höflich. »Der bin ich.«
»Ajandorr bat uns, euch zu helfen«, die Cereceri musterte Merkanto von oben bis unten und ihr Blick war abschätzig. »Ihr seid Schattenwesen.«
»Wir stammen von der anderen Seite der Grenze, ja«, sagte Merkanto. »Doch das hat Ajandorr sicherlich erwähnt, ebenfalls, dass wir anderen Schattenwesen zu Hilfe kommen wollen, und auch einer Elfe und einem Engel.«
»Den Abtrünnigen«, sagte die Cereceri.
Merkanto seufzte. »Was Ajandorr zu erwähnen vergaß, ist unsere Mission: Wir sind keine Feinde eures Landes und wollen die Dunkelheit hinter uns lassen.«
»Sicherlich«, die Cereceri klang nicht, als ob sie hinter ihrer Aussage stünde. Doch sie fuhr fort. »Mein Name ist Jafis und ich werde sicherstellen, dass ihr eure Freunde findet und mit ihnen zur Tigerpfote gelangt. Das dort sind Iska, Korba und Relabai der Ungezähmte.«
Relabai war der dunkelhäutige Cereceri und Merkantos Augen weiteten sich leicht, als er den Namen hörte. Er verneigte sich erneut. »Es ist mir eine Ehre, Ungezähmter.«
Relabai lachte rau. »Der Nekromant hat Manieren!«
»Ich bin kein … ach, egal. Aber Iska und Korba erscheinen mir bloß Kinder zu sein – ist es klug, sie auf diese Reise mitzunehmen?«
»Cereceri altern nicht wie Menschen, deswegen zählen für uns andere Gesetze«, antwortete Jafis unterkühlt. »Sie sind alt genug.«
Merkanto neigte den Kopf und verbiss sich jede Antwort, denn sie waren auf diese Cereceri angewiesen.
Inzwischen hatte auch Gudrun den Abstieg geschafft und wälzte stöhnend ihr Gepäck heran. Relabai trat zu ihr, griff sich den großen Sack mit einer Hand und hob ihn auf, als würde er nichts wiegen. Gudrun stolperte und fiel beinahe ins Moos.
»Wo ist der Dritte von euch?«, fragte Jafis und sah sich um. Ihre Augen reflektierten das schwache Licht wie die Augen einer Katze und ein Schauer lief Merkanto über den Rücken, denn einen Moment fühlte er sich wie eine Maus. Die kleine, aber muskulöse Frau strahlte eine gefährliche Wildheit aus.
Zweige und Äste knackten im dunklen Wald, als habe Stella nur auf dieses Stichwort gewartet. Das Einhorn trat aus dem Schatten der hohen Mammutbäume hervor, den Kopf gesenkt.
Gudrun stöhnte hörbar. »Stella! Seit wann …«
»Ich muss etwas Falsches gefressen haben!«, seufzte das Einhorn, das ein vertrautes, buntes Muster trug: Grünes Fell mit oranges Streifen, die Mähne rot und rosa, Augen und Hufe schwefelgelb. Eine Giftschlangenfärbung.
»Ich hab dich gewarnt«, flüsterte Gudrun fast unhörbar. »Ich hab dich gewarnt.«
»Ich kann mich nicht zurückverwandeln«, gestand Stella leise.
Gudrun seufzte. »Das liegt daran, dass das Gift noch in deinem Kreislauf ist, Dummerchen.«