https://www.deviantart.com/ifritnox/art/804128175
Abarax‘ Flugstil war gewöhnungsbedürftig. Der Körper des Sonnenland-Drachen besaß keine Flügel, stattdessen bewegte sich Abarax wie eine Wasserschlange im See und flog mithilfe einer Mischung aus Wind- und Meditationsmagie.
Stella hing in einer Klaue des riesigen Drachen und hatte nur den meilentiefen Sturz unter sich. Sie hatte niemals unter Höhenangst gelitten, aber in so einer Situation gab es wohl niemandem, dem nicht flau im Magen werden würde.
Und je höher sie stiegen, desto größere Mühen hatte Abarax. Die Elementarmagie zehrte seine Kräfte auf und die hohe Konzentration konnte er ebenfalls nicht ewig aufrechterhalten. Stella warf besorgte Blicke nach oben. Die Spitzen der gewaltigen Berge waren noch immer hinter Wolken verborgen. Wenn sie es nicht hinüber schafften … Zwar war Nejakais Armee besiegt, doch das hieß nicht, dass keine Rache folgen würden. Ganz zu schweigen von der Gefahr, zu Tode zu stürzen. Zum wiederholten Mal hing alles an einem seidenen Faden … an Abarax‘ Geduldsfaden, um genau zu sein.
Wieder einmal geriet der Drache in ein Luftloch und sackte ein ganzes Stück ab. Stellas Magen wollte sich umdrehen. Sie schloss die Augen.
Und das schlimmste war – hätte sie sich nur aus der Geschichte mit den Kindern der Sonne herausgehalten, dann wäre sie jetzt nicht hier. Doch natürlich hätte sie sich niemals anders entscheiden können. Sie hatte Gudrun gebraucht, als diese seltsamen Verwandlungen begonnen hatten, und bis heute war sie der dunklen Hexe unendlich dankbar für deren Hilfe.
Stella sah zu Gudrun hinauf, die auf Abarax‘ Rücken saß, zusammen mit Cary, Naja, Jackie und Merkanto.
Das Einhorn wurde nachdenklich. Gudrun verbarg etwas. Sie konnte das dunkle Geheimnis fühlen. Vielleicht wäre es besser, Iljan davon zu berichten, aber – wie gesagt, sie verdanke Gudrun viel. Hätte die Hexe da nicht etwas mehr Vertrauen verdient?
Stella zuckte mit den Hufen. Es war so seltsam, keinen Boden unter sich zu fühlen.
Abarax schnaufte hörbar. Stella kniff die Augen zusammen. Sie waren kaum gestartet.
Wie sollten sie es über die Berge schaffen?
Iljan musste sich anstrengen, um an Höhe zu gewinnen. Der große Drache hatte einen deutlichen Vorsprung, für den Vampir in Fledermausform eine gewaltige Strecke. Doch er merkte schnell, dass der Drache seinen Vorsprung nicht länger ausbaute. Abarax‘ Tempo hatte sich nach dem schnellen Start rapide verlangsamt. Iljan erreichte den Drachen und flatterte zu seinem Kopf.
„Was ist los?“, fragte er leise.
„Windströmungen“, knurrte Abarax, ohne die Lefzen zu bewegen, damit keiner der anderen etwas hörte. „Es ist verflucht schwer, auch nur das Gleichgewicht zu halten.“
„Wirst du es schaffen?“, fragte Iljan besorgt.
„Ich muss“, antwortete Abarax und drehte den Kopf ruckartig ab.
Iljan spürte den Windzug, der wie eine unsichtbare Blase rings um den Drachen herrschte. Er spannte die Flügel auf und ließ sich aus der Blase treiben, wo er auf Terziel stieß. Der Engel flatterte auf einer Höhe mit dem Drachen.
„Irgendwas stimmt doch nicht!“, sagte er.
Iljan seufzte. „Wieso durchschaut mich jeder?“
„Ich durchschaue meinen Bruder“, antwortete Terziel. „Er wird immer langsamer.“
„Offenbar gibt es Schwierigkeiten mit den Windverwehungen hier“, erklärte Iljan. „Luftlöcher, Abwärtsströmungen …“
„Das muss an den Bergen liegen“, überlegte der Engel. „Sag ihm, dass er weiter weg aufsteigen soll. Hätte er Flügel, würde ich sagen, dass er einfach kreisen muss, doch so …“
„Sonnenlanddrachen fliegen anders“, sagte Iljan. „Sie steigen in gerader Linie auf.“
Iljan sah zu Abarax. Der hatte den Schwung für den Aufstieg offenbar verloren.
„Was können wir noch tun?“
„Ich kann irgendjemanden tragen“, sagte Terziel. „Und vielleicht können wir beten.“
„Klar doch!“, schnaubte Iljan.
Terziel warf ihm einen ernsten Blick zu. „Wir können jeden Beistand gebrauchen, den wir kriegen können, ob du an ihn glaubst oder nicht!“
„Tut mir leid“, sagte der Vampir schnell. „Ich wollte mich nicht über dich lustig machen. Ich denke nur, wenn es einen Gott gibt, wird er einen Vampir wohl kaum erhören.“
Terziels Blick wurde weicher. „Er erhört jeden, der mit reinem Herzen bittet. Hast du nicht gesehen, dass meine Macht dir nicht schaden konnte, Iljan?“
Damit schwang sich der Engel zu dem Drachen herüber und flog neben den vier reitenden her. Iljan sah mit gemischten Gefühlen zu, wie Terziel ihnen die Sachlage erklärte. Doch seine Freunde reagieren nicht mit der Panik, die der Vampir erwartet hätte. Sie berieten sich kurz. Dann schuf Merkanto irgendeinen unterstützenden Zauber. Jackie nahm ihre Wolfsform an, obwohl das gewichtstechnisch wohl keinen großen Unterschied machen würde. Dafür war der Vollmond schon zu nah.
Eine kurze (und durchaus wütende) Beratung später stieg Najaxis als offenbar schwerster der vier auf Terziels Rücken und der Engel hob mit mühsamen Flügelschlägen ab.
Für einige Zeit stieg Abarax schneller auf. Dann verringerte sich sein Tempo und sie krochen förmlich an der Seite der Berge hinauf. Abarax wurde langsamer … und langsamer.
Schließlich hielt er fast an, da er sich kaum noch von der Stelle bewegen konnte. Er ächzte und knurrte kraftlos.
„Wir haben es fast geschafft“, sagte Iljan ermutigend. Sie befanden sich bereits auf Höhe der Wolken, doch zum Glück hatten sie ein Loch in der Wolkendecke erwischt. Die Berggipfel waren zu sehen.
Abarax keuchte schwer. Seine Reiter tauschten nervöse Blicke.
„Können wir nicht irgendwo landen?“, fragte Gudrun.
„Die Hänge sind … zu zerklüftet“, schnaufte Abarax. „Ich kann … Stella und Dayr … nicht absetzen.“
„Alles gut, wir schaffen das“, sagte Iljan mit fester Stimme. Wobei es, aufgrund seiner Gestalt, eher ein Stimmchen war. Falls das lächerlich wirkte, ließen seine Freunde es sich nicht anmerken. Iljan umkreiste Abarax‘ Kopf. Der Drache war bereits am Ende seiner Kräfte.
Mit den kleinen Krallen ergriff Iljan Merkantos Schulter und zog an dem Magier. Er könnte Merkanto zwar nicht alleine tragen, aber immerhin entlasten.
Terziel flog ebenfalls herbei, Najaxis noch auf dem Rücken, und streckte eine Hand nach Cary aus. Diese ließ den Bogen und ihre Pfeile über den Rücken des Drachen in die Tiefe fallen.
Die anderen folgten Carys Beispiel. Bis auf die notwendigste Kleidung stürzte all ihre Ausrüstung in die Tiefe. Manch einen Aufprall auf dem Gestein konnten sie noch hören.
Mit einem dumpfen Grollen spannte Abarax die Muskeln an und glitt wieder höher.
Der große Drache legte förmlich einen Sprint ein und schoss pfeilgerade nach oben. Jackie hörte sein großes Herz wummern. Den Atem hatte der gewaltige Drache angehalten.
Etwas knackte in ihren Ohren. Die Luft hier oben war so dünn, dass auch sie kaum atmen konnte.
Die Geräusche von außen wurden gedämpft. Sie sah Terziel, der immer schneller wurde, nicht nur den Inkubus, sondern nun auch Cary tragend. Als erster ihrer Gruppe erreichte der Engel den Gipfel. Dort flatterte er einen Moment über den Bergen. Winde schaukelten ihn. Najaxis hing schlaff auf seinem Rücken und drohte, nach unten zu rutschen. Cary schrie etwas.
Der Engel legte die Flügel an und ließ sich auf die andere Seite fallen.
„Sie haben es geschafft!“
Iljans Jubelschrei drang nur noch wie durch dichte Schichten von Schnee an Jackies Ohren. Ihr war kalt. Die Luft schmecke irgendwie bitter und sie bekam einfach keine Luft.
Langsam fielen ihr die Augen zu. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Nein! Sie musste wach bleiben!
Der Gipfel kam näher. Abarax verlor den Schwung, der ihn bis hierher getragen hatte. Jackie spürte seinen Atemzug, tief und gierig, wie jemand, der in letzter Sekunde die Wasseroberfläche durchbricht.
Dann japste der Drache. Die Luft hier oben war zu dünn.
Irgendein Aufwind trieb sie in den Himmel über den Gipfeln. Abarax rollte sich hinüber auf die andere Seite der Berge. Dann erschlafften seine Muskeln. Jackie konnte das Gesicht des Drachen vor sich sehen, die großen Augen, die zufielen, das Maul, das sich öffnete. Zusammengekrümmt stürzte der weiße Drache in die Tiefe.
„Abarax!“, schrie Iljan gellend.
Wieder knackte es in Jackies Ohren. Dann wurde es auch für sie dunkel.
Stella schlug wild mit den Hufen aus. Ihr Magen rebellierte. Die großen Klauen, die sie eben noch schützend umschlungen hatten, öffneten sich.
Kalter Wind strich über ihr Fell. Sie hörte Iljan schreien. Unter sich sah sie Terziel fallen, die Schwingen halb geöffnet, tieferen Lagen zustrebend.
Eine Windböe riss sie aus Abarax‘ losem Griff. Das Einhorn wirbelte durch den Himmel und für einen Moment wusste sie nicht mehr, wo oben und wo unten war. Der Wind, den ihr Sturz hervorrief, war schließlich ihr Kompass, nach dem sie sich ausrichtete.
Abarax stürzte ein gutes Stück neben ihr. Auf seinem Rücken saßen Jackie und Merkanto. Beide begriffen die Situation offenbar erst jetzt und kreischten los. Vielleicht waren auch sie ohnmächtig gewesen.
Dayr befand sich noch im losen Griff des Drachen. Stella sah nach unten. Der Boden kam rasch näher, viel schneller, als ihr lieb war.
Richtig, das weiße Schloss befand sich auf einer Hochebene. Der Boden war hier wirklich näher.
Stellas Blick glitt zu Abarax. Der Drache blieb bewusstlos. Konnte sie ihn wecken?
Die geringe Hoffnung beflügelte sie. Mit nur einem Gedanken nahm sie die Feuergestalt an und spürte, wie der starke Wind ihre Mähne löschen wollte. Sie richtete das Horn auf den Drachen und schoss einen Flammenstrahl auf seine Pranke.
Mit einem Brüllen riss Abarax die Augen auf und presste die Pranke gegen die Brust. Irritiert sah er sich um, ehe er begriff. Er packte Dayr und glitt dann zu Stella. Sie verwandelte sich zurück in ihre Nebelform, kurz, bevor die Klauen ihren Leib umschlossen.
Ein tosender Orkan umhüllte sie, als Abarax bremste. Magie lenkte den Wind in einer mächtigen Säule nach unten. Dort kam Terziel gerade stolpernd auf. Cary und Naja fielen auf den Boden.
Der Wind wirbelte Staub um sie herum. Die drei warfen sich auf die Bäuche und schützten die Gesichter. Auch Stella musste die Augen schließen. Erde drang in ihre Nüstern.
Ein Ruck ging durch Abarax. Er musste mit den Hinterbeinen aufgesetzt sein. Einen Moment fühlte es sich an, als würde er nach vorne kippen und sich mit den Pranken, die Stella und Dayr hielten, abfangen müssen. Doch der Drache konnte sich auf den Hinterbeinen halten.
Stella fühlte Boden unter den Hufen. Die Klaue ließ sie los. Der Wind verstummte, als der Drache auch die Vorderpranken auf die Erde setzte.
Stella und Dayr taumelten zur Seite. Gerade noch rechtzeitig, ehe der große Drache zusammenbrach und mit pfeifendem Atem liegen blieb.
Das Einhorn und der Hirsch stützten sich gegenseitig und stolperten auf unsicheren Hufen zu einem Stück Wiesenfläche. Terziel, Naja und Cary eilten zu dem anderen, so schnell sie konnten, Naja sogar auf den Knien.
Selbst Iljan, der ja nicht atmen musste, war von dem Kraftakt mitgenommen. Keuchend verteilten sich die Kinder der Sonne auf dem Flecken Erde, der noch von Abarax‘ Landemanöver aufgewühlt war. Sie lehnten sich aneinander oder warfen sich auf den Rücken und … atmeten.
Es dauerte nicht lange, da waren die ersten eingeschlafen, während Gudrun freudentrunken lachte. „Wir haben überlebt! Oder das hier ist das Paradies und wir sind tot!“
Dem Paradies glich das Land, das sie erreicht hatten, wirklich.
Nachdem sie sich erholt hatten, was den halben Tag gedauert hatte, sahen sie sich endlich um.
Es war Vormittag und die Sonne beleuchtete eine große, von Bergen umrahmte Ebene. Auf der einen Seite liefen die Hügellinien immer näher zusammen, bis sie im spitzen Winkel aufeinandertrafen, auf der anderen Seite gingen sie immer sanfter geschwungen auseinander, liefen ein Stück parallel und näherten sich einander dann wieder. Sie würden vermutlich jenseits des Horizonts wieder aufeinandertreffen.
In der Mitte des ovalen Tals erhob sich das Weiße Schloss. Türme und Dächer glitzerten in der Sonne, der weiße Stein leuchtete. Rings um das Ziel ihrer langen Reise erstreckten sich sanfte Hügel, Felder und Haine blühender Kirschbäume.
„Wir haben es geschafft“, flüsterte Iljan andächtig. Er ignorierte die Sonne, die sich wegen des Blutmangels schon wieder unangenehm warm anfühlte. „Wir sind fast da.“
Das Tal war wie ein riesiger Garten angelegt. Unzählige Pfade führten vorbei an Blumenbeeten und kristallklaren Teichen. Niemand von ihnen hatte je zuvor solche Schönheit gesehen. Das ganze Tal erschien wie eine Oase in der Wüste. Winzige Wasserfälle von den Bergen teilten sich im Tal in unzählige Bächlein auf, und die verschiedensten Pflanzen wuchsen auf Inseln im Wasser. Doch alles überwogen die weißblühenden Kirsch- und Apfelbäume, deren Blütenblätter wie Schnee durch die Luft trieben. Der Gesang von Vögel begleitete ihren Weg, und viele der Tiere sahen sie auch. Tauben, Pfaue, Kraniche, die sich ihnen furchtlos näherten.
Das weiße Schloss wuchs vor ihnen in die Höhe. Unzählige Türmchen deuteten in den Himmel. Die Dächer waren goldgedeckt, die Mauern bestanden aus Marmor. Verzierungen in Hellblau, Gold oder Rosa zogen sich in Linien über das Mauerwerk oder um die Fenster, an anderer Stelle rankte sich Efeu in die Höhe und klammerten sich Rosen- und Beerensträucher an die Mauern. Die Architektur des Schlosses vereinte einiges, was sie im Laufe ihres Abenteuers gesehen hatten, in sich: Die runden Hütten aus Crisayn, die Hängebrückenpfade der Wisan-Siedlungen, die bunten Farben aus Antordia. Das verwinkelte Gemäuer bot Raum für Dachgärten, Säulengänge, lichtdurchflutete Höfe und Hallen. Dafür waren Segel gespannt worden, um hier und dort Schatten zu bieten. Aus vielen versteckten Winkeln ragten die Äste irgendwelcher Pflanzen.
Die Kinder der Sonne erreichten den breiten Weg, die weiße Straße, die direkt vor das Tor des Schlosses führte. Als sie sich näherten, öffneten sich die großen Flügeltüren und Bewaffnete kamen heraus. Die Ritter in goldener Rüstung richteten ihre Speere auf die ungleichen Freunde.
„Mitkommen!“
Iljan und die anderen hoben die Hände. Dann traten sie über die Schwelle ins Schloss.