https://www.deviantart.com/ifritnox/art/806529369
Als sich die Türen öffneten, wurde die Halle der Sonnenkönigin erneut vom Licht des hellsten Sterns erleuchtet. Cary hielt unwillkürlich den Atem an, als sie die Menge an Wesen sah, die sich in die große Eingangshalle drängte. Das waren wirklich unzählige Kreaturen!
Direkt am Anfang fiel ihr ein Sonnenlanddrache ins Auge. Die kurzen Hörner wiesen sie als Weibchen aus. Sephrith. Sie hatte gemeinsam mit Sophram und Mirkanish in Quyhst gegen die Kinder der Sonne gekämpft. Fast schon schuldbewusst sah Cary zu Abarax, der nun Mirkanish‘ Körper trug.
Sephrith bemerkte den Drachen ebenfalls, doch der Blick ihrer goldenen Augen war seltsam ruhig.
Als allerersten ging jedoch eine kleinere Gestalt nach vorne, eine kräftig gebaute Frau mit kurzen, dunklen Haaren, glitzernden Raubtieraugen und je drei dunklen Flecken auf den Wangen.
„Jafis!“, rief Jackie leise.
„Und dort stehen auch Relabai, Iska und Korba“, sagte Merkanto. „Warum kommen sie nicht mit Jafis nach vorne?“
„Ich glaube, es sind so viele gekommen, dass immer nur ein Vertretet vor darf“, erriet Caryellê. Terziel hatte eine Hand auf Jackies Schulter gelegt und drückte sie. Tröstend? Schutzsuchend? Jackie konnte es nicht sagen. Ihre Haut kribbelte.
Jafis kniete auf der Mitte des Mosaiks nieder, dort, wo das Bildnis der Sonne war.
„Große Königin“, sagte die Cereceri mit kräftiger Stimme. „Ich bin gekommen, um für die Kinder der Sonne um Gnade zu bitten. Ich spreche für mein Volk und das Baumvolk der Comori. Diese Wesen waren meine Gefangenen in Wisan, ehe ein Teil von ihnen entführt wurde. Verdeckt half ich ihnen, ihre Freunde zu befreien. Ich durfte ihre Liebe und Freundschaft zueinander kennenlernen, sodass ich beschloss an ihrer Seite zu kämpfen gegen drei Sonnenlanddrachen. Ich habe auch ihre tiefste Schwärze gesehen, als sie glaubten, dass eine der ihren tot sei. Herrin … ich sah, wie diese Wesen dem tiefsten Bedürfnis nach Rache widerstanden, nicht wegen der Hoffnung, dafür einen Lohn zu erhalten, sondern aus freiem Willen. Diese Stärke sah ich in kaum einem anderen Wesen. Sie verdienen ein Leben im Sonnenreich, und wir Cereceri verdienen ein Zeichen wie dieses, um zu beweisen, dass auch wir vollfertigt Wesen des Lichts sind.“
Vor aller Augen nahm Jafis ihre Gestalt als Nebelparder an. Ein kollektives Luftholen war zu hören, als die Raubkatze geschmeidig zu den Kindern der Sonne trottete und sich zu ihnen setzte.
„Jafis!“, begrüßten diese sie freudig. Jackie lief zu der Großkatze, zögerte einen winzigen Moment und umarmte sie dann. Jafis ließ es gelassen geschehen.
Der Hobbit Kalin Dachsbau drängte sich als nächstes nach vorne. Terziel senkte beschämt den Blick, als die Anschuldigungen auch schon niederprasselten.
„Sie haben sich in Verkleidung in unser Dorf geschlichen und unsere Gastfreundschaft ausgenutzt! Wenig später erwischten wir sie, wie sie unseren Friedhof entehrten und Leichen ausgruben!“ Erschrockene Rufe kamen vom Publikum.
„Wir konnten einige von ihnen gefangen nehmen“, berichtete Kalin, und plötzlich grinste er die Kinder der Sonne breit an. „Um sie zu befreien, schlug uns der Vampir einen Handel vor. Sie töteten den Drachen, der unsere Dörfer terrorisierte. Oder … naja.“ Er sah kurz zu Abarax im Körper ebenjenes Drachens. „Jedenfalls haben sie uns sehr geholfen und eine gefährliche Tat für ihre Freunde gewagt. Und sie haben ihr Wort gehalten. Es geht keinerlei Gefahr von ihnen aus.“
Mit selbstbewussten Schritten stapfte Kalin zu den Kindern der Sonne. „Ich kann nicht schweigen, während sie einfach getötet werden sollen!“
„Das mit den ausgegrabenen Leichen war ein Missverständnis!“, sagte Abarax leise, doch die Drachenstimme trug über das Gemurmel der Menge.
„Nein, war es nicht“, antwortete Kalin streng. „Obwohl ich es jetzt verstehen kann, Nachtmahr.“
„Zu diesem Drachen habe ich ein paar Worte zu sagen.“ Sephrith trat vor. Der Blick, den sie den Kindern der Sonne schenkte, war nicht dazu angetan, ihnen Mut zu machen.
Die Drachin verneigte sich vor der Königin. „Herrin, die Kinder der Sonne haben das Übel des Drachen selbst heraufbeschworen, indem sie Mirkanish verletzten. Er wurde darauf wahnsinnig. Dabei war es Sophrams Wunsch, ihnen zu helfen. Wir entführten sie aus Wisan, um sie zurück zur Grenze zu bringen. Im Schattenreich hätten sie leben können, hier sahen wir keine Chance für sie. Und diese Chance sehe ich auch heute nicht. Diese Wesen sind unter den Gesetzen der Nacht aufgewachsen. Wer weiß, ob sie sich ändern können, aber selbst wenn sie es tun, werden sie niemals von allen Sonnenändern akzeptiert werden. Sie würden Außenseiter und Geächtete bleiben, egal, wie das Urteil ausfällt. Ich hätte gesagt, schickt sie zurück ins Schattenland. Doch nach dem, was sie Mirkanish angetan haben, noch immer antun, und da sie bereits bis hierhergekommen sind, sehe ich eine Gefahr in ihnen. Sperrt sie ein. Tötet sie. Aber macht sie unschädlich.“
Mit schweren Schritten ging Sephrith auf die Seite gegenüber der Gruppe. Allein stand sie dort und reckte den gehörnten Kopf.
Ein Zwerg trat vor.
„Die Kinder der Sonne töteten eine ganze Gruppe Zwerge in einer der tiefsten Mienen entlang unserer Handelsstraßen. Die tapferen Kämpfer konnten einen Drachen aus ihrer Gruppe töten, doch dann sind sie restlos verbrannt. Meine Schwester, Torkan, war unter den Toten. Es ist ein Wunder, dass es Überlebende gibt, die die Geschichte erzählen können. Der Fall hat erschreckende Ähnlichkeit mit dem Vorfall in Crisayn. Und wer sagt, dass ihnen nicht an mancher Stelle ein Gemetzel gelungen ist, von dem niemand mehr berichten kann?“
Wütende Stimmen schlossen sich dem Zwerg an. Er, sowie einige Hobbits, Nymphen und Elfen, stellten sich zu Sephrith.
„Das sieht schlecht aus“, murmelte Jafis, die sich inzwischen wieder verwandelt hatte und in menschlicher Gestalt unter ihnen stand. „Auf ihrer Seite stehen mehr Wesen. Damit steigt das Risiko, dass ihrer Seite rechtgegeben wird.“
Abarax sah die Cereceri erstaunt an. „Hier gilt ebenfalls das Gesetz der Mehrheit?“
Jafis schüttelte den Kopf. „Am Ende entscheidet die Königin. Doch meistens gibt sie der Seite Recht, die mehr Stimmen hat.“
Der Drache schnaubte. „Das ist bei uns so ähnlich. Nur, dass die Königin der Seite recht gibt, die ihre Macht vergrößert. Manchmal ist das ist Mehrheit, manchmal geht sie nach Macht.“
„Unsere Königin ist gerecht“, sagte Jafis mit fester Stimme. „Ich glaube nicht, dass sie auf die Zwerge hören wird.“
Abarax hob eine Augenbraue. Das hatte eben noch ganz anders geklungen.
Jetzt trat ein weiterer Zwerg vor. Er stellte sich nicht auf Sephriths Seite, sondern blieb auf der Sonne stehen. Die Meute verstummte.
„Was Torkan und die anderen Zwerge in der tiefsten Miene trieben“, brüllte der Zwerg mit lauter Stimme, „war ein großes Unrecht! Sie betrieben Sklavenarbeit und zwangen die Kinder der Sonne, Gold zu schürfen, um ihre Freiheit zurückzugewinnen. Den roten Feuerdrachen erschlugen sie jedoch, kaum, dass das Gold für ihn zusammen war. Das Gemetzel, wie es genannt wurde, war ein Racheakt – ein blinder Racheakt, zugegeben, doch wer hätte in so einer Situation anders gehandelt?“
„Lügner!“, brüllten einige Zwerge. Der einsame Fürsprecher gesellte sich zu den Kindern der Sonne.
„Danke“, flüsterte Cary sanft, als der Zwerg zu ihnen trat. Er sah unglücklich aus.
„Ihr solltet besser gewinnen“, brummte er halblaut. „Mein Vater steht da drüben, und so, wie er guckt, bin ich enterbt.“
Najaxis klopfte dem Zwerg gerührt auf die Schulter. „Das … war unglaublich mutig von dir.“
Zur allgemeinen Überraschung war Flais Knorggenhau samt seiner Luftschiffmannschaft angetreten. Cary hörte überrascht zu, wie der Kapitän ihre Begegnung schilderte.
„Ich wusste nicht, wer sie waren. Ich dachte, es wären gewöhnliche Flüchtlinge, von denen gab es viele. Sie haben sich von mir übersetzen lassen, Richtung Ynmerie. Keine Sekunde hatte ich das Gefühl, dass von ihnen eine Gefahr ausginge. Sie haben mich nach ihren Möglichkeiten bezahlt und waren gute Gäste. Ich möchte damit gerne zeigen, dass diese Gruppe sich durchaus in unserem Land eingliedern kann.“
Etwas scheu kam er zu ihnen herüber und stellte sich in einem Abstand der Gruppe hin. Ein Gespräch suchte er nicht.
Danach zogen einige Elfenhändler ein und berichteten von einer Karawane, die niemals an ihrem Zielort angekommen war.
„Mörder, Diebe und Lügner, die sich jetzt als Heilige darstellen!“, schimpfte der Wortführer giftig.
Die Kinder der Sonne schwiegen.
Die Händler waren viele und senkte die Waagschale zu Ungunsten der Gruppe. Selbst einige weitere Freunde, die nun entgegen der ‚Ein Vertretet pro Fraktion‘-Regel zu ihnen kamen, konnten das Gleichgewicht nicht wiederherstellen. Iska, Korba und Relabai gehörten zu jenen, die es immerhin versuchten.
Plötzlich stieß Iljan Cary an. „Sieh mal!“
Sie sah auf und – ihr Vater stolzierte mit einem kleinen Gefolge in den Raum. Vailandamir warf ihr einen gütigen Blick zu und Cary lächelte erleichtert.
„Ich stehe den Kindern der Sonne skeptisch gegenüber, wie viele hier, die sie nicht näher kennen“, beendete er einen Bericht ihres kurzen Treffens in Ynmerie. „Aber ich kenne meine Tochter, Caryellê Assadar. Ich vertraue ihrem Urteil. Sie gehörte nicht umsonst zu den Weißen Wächtern, sie war eine Anführerin dieser Krieger. Ihr Hass auf die dunklen Wesen war intensiv und begründet, und trotzdem entschied sie, diesen Vampir und seine Freunde zu unterstützen. Nicht nur das – der weiße Hirsch, Dayrquinêl, vertraute ihr ebenfalls, und wir Ihr wisst, Königin, können solche Wesen die Reinheit des Herzens spüren. Dass der Hirsch inmitten dieser Gruppe steht, sollte uns als Beweis reichen!“
Ein paar der Leute aufseiten der Kinder klatschten. Von der Gegenseite schollen Rufe herüber: „Er ist ebenso verdorben wie das Einhorn es war!“
Cary sah schuldbewusst zu der versteinerten Stella. Gudruns Verrat hatte das zarte Wesen vernichtet. Für eine winzige Sekunde fragte sie sich, ob diese Zerstörung der Schönheit einfach Teil des dunklen Wesens war – ob ihre Freunde, trotz aller guten Vorsätze, immer wieder alles vernichten würden. Selbst einen Krieg hatten sie verursacht!
Nein. Sie schüttelte die Gedanken ab. Das durfte sie nicht denken.
Ihr Vater hatte das Plädoyer beendet und kam zu ihnen. Cary fiel ihm um den Hals.
„Danke.“
„Immer doch, mein Kind.“ Vailandamir klopfte ihr auf den Rücken. „Es wird alles gut.“
Doch diese optimistischen Worte trogen.
Es erschienen Weiße Wächter in Heerscharen, die von der Schlacht berichteten. Manche zeigten Wunden, die sie davongetragen hatten. Andere erzählten von der Gefangenname Nejakais, von Iljans Drohung.
„Wir haben unsere Anführerin immer noch nicht gefunden. Vermutlich ist sie tot. Dort, wo die Schlacht war, und im Umkreis, konnten wir sie nicht finden.“
„Und uns setzten sie mitten in Antordia auf einer einsamen Insel aus!“, berichteten andere. Selbstverständlich stellten sich die Weißen Wächter und die Sonnenstrahlen zu Sephrith. Und auch die Sonnengarde gesellte sich zu ihnen. Und die Zentauren, die die Gruppe noch ganz zu Beginn ihres Abenteuers getroffen hatte. Die Mönche von Quellheim. Dazwischen waren Wesen, denen sie nie begegnet waren.
Eine Armee stand ihnen nun gegenüber. Das Gewicht der Freunde und Feinde war ungleich verteilt.
Iljan seufzte. Ihre Gruppe schien förmlich zu schrumpfen.
„Ich kann bestätigen, dass das echt feine Wesen sind!“, donnerte eine Stimme. „Diese Kinder der Sonne sind mutig und treu. Und sie haben mir aus einer ziemlichen Patsche geholfen.“
Iljan sprang auf. „Baradas!“
Tatsächlich, es war der Schiffskapitän, mit dem sie die See von Antordia besegelt und dem Sturm getrotzt hatten. Er grinste breit, kam zu ihnen herüber und zog Iljan in eine knochenbrechende Umarmung.
„Hast du dich mit deiner Elfe versöhnt?“, flüsterte er dabei schelmisch.
Iljan wurde rot. „Aye, Kapitän, das habe ich.“
Cary, die alles gehört hatte, lächelte.
„Aber wo warst du?“, fragte Iljan. „Wir haben Nejakai mit Karren gesehen, die aus dem Holz deines Schiffes gebaut waren. Wir dachten, du wärst tot!“
„Ich? Nein. Sie hat nur mein Schiff zerstört, die alte Hexe. Diese Nejakai war wahnsinnig. Wahnsinnig, hörst du, Königin?“ Die letzten Worte brüllte er quer durch den Thronsaal.
Nun war die Vorhalle leer. Stille, nur untermalt von leisem Gemurmel, legte sich über die Versammlung.
Mit dem Rauschen von Stoff erhob sich die Königin. Das Licht, das durch die Fenster fiel, wurde bereits schwächer, aber immer noch konnte man ihr Gesicht nicht erkennen.
Sie breitete sie Arme aus und ihr Kleid floss wie flüssiges Gold über die Stufen. „Nun, ich denke, es wurden alle angehört“, verkündete sie mit einer weichen, melodischen Stimme.
Doch da wurden die Flügeltüren aufgestoßen und krachten nach innen. Alle wirbelten herum, als die letzten Fürsprecher einzogen.
Iljans Herz machte einen kleinen, freudigen Hüpfer, als er ein kleines, ziegengroßes Geschöpf erkannte, mit schlanken, behaarten Hufen und einem Löwenschwanz.
Es waren die Mondhörner.
An ihrer Spitze lief Rea, ihre Königin, so golden wie eh und je. Neben ihr lief Rait, der sie damals aus dem Wald geführt hatte. Doch sein Fell war nun pechschwarz, Hufe, Horn und Augen blutrot. Erschreckte Blicke ruhten auf den Wesen, die die Sonnenländer nicht kannten.
Doch die Königin senkte ruhig ihre Arme. „Rea, meine alte Freundin.“
„Königin“, sprach Rea kühl. „Ihr wisst, warum wir hier sind. Wir sind die Umira-Hörner, die Wesen der Wandlung, und unseresgleichen wird zuhauf und zu Unrecht in die Schattenlande verbannt, obwohl unsere Schattenseite doch temporärer Natur ist. Genau wie die Kinder der Sonne glauben wir fest an eine Rückkehr aus der Nacht. Aus diesem Grund verlangen wir, dass sie begnadigt werden.“
Rea, Rait und eine ganze Herde Mondhörner trabten zu den Kindern der Sonne. Inzwischen war es sogar in dem großen Raum eng geworden.
„Ha!“, flüsterte Jafis glücklich. „Da habt ihr ja ein paar feinde Freunde. Ihr steckt voller Überraschungen, Kinder der Sonne. Und endlich ist das Gleichgewicht wiederhergestellt.“
Die Mondhörner glichen die Zahl der Gegner aus. Iljan fragte sich besorgt, ob sie kämpfen würden. Viele ihrer Gegner sahen aus, als wären sie durchaus bereit dazu.
Wieder breitete die Königin ihre Arme aus. „Wir haben ein Gleichgewicht der Stimmen. Ebenso viele, wie für die Kinder der Sonne stimmen, sind gegen sie. Den Tod rechtfertig dieser Ausgang keineswegs, doch lassen wir sie bleiben, oder müssen sie gehen? Die letzte Stimme entscheidet, und es wird meine sein.“
„Mit Verlaub, Herrin.“ Noch jemand hatte die Halle betreten. „Lasst mich vorher sprechen.“
Alle wandten sich zum Eingang. Dort stand Nejakai.