https://www.deviantart.com/ifritnox/art/804128696
Man hatte sie in getrennten Zellen untergebracht.
Iljan wusste nicht, wo seine Freunde waren. Ob sie noch lebten. Die Wachen hatten sie aus dem Thronsaal geführt und dann in die Gänge des Schlosses hinein, durch Türen, die im Eingangsbereich verborgen gewesen waren. Sie konnten so verschlossen werden, dass man sie nicht sah, wenn man zum Thronsaal geführt wurde. So war es mit allen Toren im Schloss, auch die Tür zu seiner Zelle war nicht länger zu sehen.
Er kniete auf dem Boden eines runden, sehr hohen Raumes mit glatten, dunkelblauen Wänden. Sechs Ziersäulen, so dünn wie seine Finger, zogen sich vom Boden bis zur Decke, wo sie spitz zusammenliefen. Als würde er in einer Kapelle oder in einem Vogelkäfig sitzen. Keine Tür, kein Fenster, nicht die kleinste Lücke war an den glatten Wänden zu sehen.
Iljans Hände waren hinter dem Rücken gefesselt, die Kette war durch eine Verankerung im Boden gezogen worden. Danach hatte man seine Knöchel an eine ähnliche Verankerung etwas weiter hinten gebunden. Er konnte nicht einmal den Rücken strecken.
„Wisst ihr, was ein ausgehungerter Vampir ist?“, hatte einer der älteren Wachen jene gefragt, die vor Iljans Zellentür bleiben würden. „Sie sind wilde Tiere, reißende Bestien. Sie würden ihre eigenen Freunde töten. Sie behalten ihre Intelligenz und Verschlagenheit, ihre Geschwindigkeit, ihre Kraft. Aber ihre Moral und der Schein von Menschlichkeit weichen mit jeder Stunde ohne Blut. Seid also wachsam.“
Die Haare hingen ihm ins Gesicht. Er konnte nichts hören, nicht einmal einen Herzschlag. Auch die Tageszeit wusste er nicht. Er wusste nur, dass er seine Freunde in eine Todesfalle geführt hatte. Arinaka Dojeshi hatte ihnen versprochen, dass sie im ersten Licht des neuen Tages sterben würden.
Iljan ließ den Kopf hängen. Von der übermenschlichen Kraft eines Vampires konnte er nichts mehr spüren. Er hatte keine Kraft mehr übrig. Schon das Verstreichen der Zeit war ihm unerträglich. Er konnte sich nicht mehr wehren, die Last auf seinen Schultern erdrückte ihn.
Vorbei. Es war alles vorbei.
Lithium, don't want to lock me up inside.
Lithium, don't want to forget how it feels without.
Lithium, I want to stay in love with my sorrow.
Oh, but, God, I want to let it go! *
Kalte Ketten banden seine Flügel an seinen Rücken. Seine nackten Füße waren an den Boden gefesselt, die Hände auf Schulterhöhe an die Wände gekettet, sodass Terziel sich nicht setzen konnte. Die Arme ausgebreitet stand er in der kleinen Zelle. Seine Gedanken kreisten um seinen Bruder, gerade gefunden, schon verloren.
Er ließ den Kopf auf die Schulter sinken. Salzig schmeckten die Tränen auf seinen Lippen. Dann hob er den Kopf zur in Schatten getauchten Decke.
„Bitte …“, flüsterte er. „Ich weiß, dass du zusiehst. Bitte. Ich brauche dich jetzt. Rette mich! Rette meinen Bruder und meine Freunde! Bitte!“
Come to bed, don't make me sleep alone.
Couldn't hide the emptiness; you let it show.
Never wanted it to be so cold.
Just didn't drink enough to say you love me.
Im verlassenen Thronsaal des Sonnenlandes war die Nacht hereingebrochen. Silbernes Sternenlicht kroch über das Mosaik des Bodens, glitt über schweigende Säulen und den stummen Thron.
Lichtfinger tasteten über ein gewundenes Horn auf dem Stein, für einen winzigen Moment schimmerte ein bläulicher Streifen auf, eine einzige Faser in dem dicken Flechtstrang, aus dem das Horn gedreht zu sein schien.
Das Licht erlosch. Sternenschimmer wanderte weiter, über die reglose Statue eines weißen Pferdes, das mit gesenktem Kopf dastand.
Leblos.
I can't hold on to me,
Wonder what's wrong with me.
Merkanto hatte den Rücken an die Wand gelehnt und den Kopf im Nacken. Die Hände waren ihm nur vor dem Körper zusammengebunden worden.
„Er ist alt“, hatte der Kerkermeister gesagt, bevor er Merkanto die Fesseln anlegte. „Er hat eigentlich nichts in einem Kerker verloren, also machen wir es nicht schwerer, als es sowieso sein wird.“
Runen waren in die Fesseln eingelassen worden. Merkantos Finger fühlten sich taub an, seitdem er die Elektrizität der Welt nicht länger spüren konnte. Wie ein Blinder strich er wieder und wieder über den Stoff seiner Kleidung.
Seufzend sah er nach oben. Er hatte immer gewusst, dass Iljans Plan riskant war. Im Laufe ihrer Reise hatten sie begriffen, wie viel von ihrem Gelingen abhing. Merkanto erinnerte sich noch gut an die Mondhörner, die ihnen geholfen hatten. So viele Wesen hatten ihre Existenz für sie riskiert, womöglich sogar verloren.
Und Gudrun … sie hatte einen Krieg aus ihrer Mission gemacht und jede Hoffnung verdorben. Für die Kinder der Sonne genauso wie für alle, die ihnen geholfen und vertraut hatten.
Der alte Magier schloss die Augen. Ein wehmütiges Lächeln huschte über seine spröden Lippen, als er an Relabai dachte. Der Mantikor-Cereceri, der auf der Gegenseite gekämpft hatte, und trotzdem hatte Merkanto viel mit ihm reden können. Es war eine unglaubliche Freundschaft gewesen.
„Wären doch nur alle Wesen so“, flüsterte er wehmütig.
Lithium, don't want to lock me up inside.
Lithium, don't want to forget how it feels without.
Lithium, I want to stay in love with my sorrow.
Aus irgendeinem Grund geisterte Stellas Stimme durch ihren Kopf. Der Moment, als das Einhorn ihr ihren Namen in der Sprache der Macht verliehen hatte.
Aelinos – das Klagelied. Schon damals hatte das Wort eine Saite in Gudruns Herzen zum Schwingen gebracht, eine leise Gänsehaut hervorgerufen.
Jetzt kreiste das Wort durch ihre Gedanken, wieder und wieder. Ihr einziger Halt, während sie in endloser Qual auf den Morgen wartete.
Man hatte ihr einen Eisenring um den Hals gelegt, der an der Decke befestigt war und nun seit Stunden schon auf ihren Hals drückte. Lange Ketten banden ihre Handgelenke an den Boden, und auch die Füße konnte sie nicht rühren. Sie musste den Hals recken, an den schmerzenden Handgelenken zerren, um ein wenig atmen zu können. Ihr Puls dröhnte ihr in den Ohren, schnell und panisch wie die Schwingen eines Vogels, der so gerne zurück in das Schattenreich fliegen wollte, zu dem Vampir, den sie liebte.
Ja, sie war wirklich ein Klagelied. Einst die mächtigste Hexe des Sonnenreichs, nun von der Liebe in Bande geschlagen und dazu verurteilt, einen Fehler nach dem anderen zu begehen.
Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass Nepumuk Taidoni sie nicht liebte. Dass er sie nur benutzte. Aber trotzdem würde sie alles für ihn tun, was immer er auch verlangte.
Sie hatte ihre Schönheit für ihn geopfert. Ihre Macht. Ihren Namen.
Und nun ihre Freunde. Selbst Stella, das Einhorn, das ihr bedingungslos vertraut hatte.
Oh, Stella! Was war mit ihr geschehen? Es war keine der Umira-Wandlungen gewesen, was sie überkommen war. Nein, das war ein tieferer Fluch gewesen.
Don't want to let it lay me down this time.
Drown my will to fly.
Here in the darkness I know myself.
Can't break free until I let it go.
Let me go!
Es war ihr Fehler gewesen, die Ketten lang zu lassen. Und die Wachen würden für ihn bezahlen.
Mit wütendem Knurren warf sich Cary erst auf die eine, dann auf die andere Seite der Zelle, und jedes Mal zerrte sie mit ihrem gesamten Gewicht an der Kette.
Ihre Handgelenke waren bereits aufgescheuert von den Kanten des harten Eisens. Blut lief über ihre Finger. Sie schrie, mit aller Kraft, mit alle Wut, die ihr geblieben war. Beim nächsten Wurf prellte sie sich die Schulter an der Wand des schmalen, hohen Käfigs.
Sie knurrte wütend. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen. Die Erinnerungen, die auf sie einstürzten, waren wie eine Flutwelle.
Die Freude, als sie den weißen Palast sahen – das Ziel ihrer Reise!
Die Sorge, als die Wachen sie empfingen. Das Entsetzen über das Urteil. Und ihre eigene Hilflosigkeit, weil sie nichts dagegen tun konnte.
„Ahhh!“ Sie riss wieder an der Kette. Deren Glieder rasselten. Die Schmerzen an ihren Handgelenken waren fast unerträglich. Aber sie durfte nicht aufgeben, nicht nachlassen!
Ihre Muskeln brannten. Sie war erschöpft, eine Erschöpfung, die über die Müdigkeit der langen Reise hinausging.
Sie waren endlich da! Sie waren ihrem Ziel so unglaublich nah! Und jetzt sollte alles umsonst sein, alles Leiden, alle Kämpfe?
„Nein!“
Es war ein Schrei. Ein Kampfschrei, doch auch ein verzweifelter Ruf um Hilfe.
„Bitte.“ Cary weinte. Sie würde die Welt niederbrennen, wenn sie es nur könnte. Sie würde Berge versetzen, den Palast dem Erdboden gleichmachen und Armeen bis zum letzten Soldaten töten.
Iljans Stimme drang wie aus weiter Ferne zu ihr: „Tötet mich, macht es schmerzhaft, wenn es sein muss.“
Nein. Alle, nur nicht Iljan.
Darling, I forgive you after all.
Anything is better than to be alone.
And in the end I guess I had to fall.
Always find my place among the ashes.
Fest verschnürt hing Abarax in dem großen Raum. Dicke, riesige Ketten hingen von der Decke und umschlangen seinen Körper wie Lianen. Dick wie gewaltige Würgeschlangen waren sie um seine Beine und die Drachenschnauze geschlungen. Er hatte keinen Kontakt zum Boden, und seine Augen waren verbunden worden. Der Druck um seine Schnauze war furchtbar. Die Sonnenländer waren sichergegangen, dass er die Lippen kein winziges bisschen teilen konnte, denn dann könnte er dem Drachenleib entfliehen und als Nachtmahr fortreisen.
So blieben die Schuppen sein schlimmstes Gefängnis. Er hatte bereits gehört, dass die Wachen einen Maulkorb und weitere magische Fesseln bringen würden, wenn es am Morgen zur Hinrichtung ginge.
Ihm würde keine Fluchtmöglichkeit bleiben. Wenn sie nur wüssten, dass er ohnehin nicht fliehen konnte. Er war noch nicht stark genug, um ein neues Bewusstsein zu übernehmen, doch er brauchte einen Körper. Außerhalb des Drachen würde er nicht lange überdauern.
Blind und – dank der Ketten – auch stumm und ohne Geruchssinn hing er in den Ketten, die sich bei jeder Bewegung enger um ihn schlossen, ihn zu ersticken drohten. Als hätte er sich in den Bau einer riesigen Boa begeben.
Er spürte den Tod näherkommen. Eisig kalt wie der Hauch des Winters, bedrohlich wie der Rauch eines Waldbrandes, dunkel wie Sturmwolken.
Sein mächtiges Herz schlug schnell vor Angst. Wenn er nur einen Halt hätte, den kleinsten Halt, oder wenn er sehen könnte, wie sich die Sonne hob. Ein letztes Mal den Sonnenaufgang sehen!
Er hatte immer gewusst, dass ihr Abenteuer böse enden würde. Doch das Warten war die Hölle.
I can't hold on to me.
Wonder what's wrong with me.
Die Sicherheitsvorkehrungen, die getroffen worden waren, waren schon beinahe lächerlich. Bei seinen Freunden konnte Najaxis alles nachvollziehen. Einzelhaft, magieneutralisierende Ketten, eine private Leibgarde an Wachen vor der Tür …
Doch ihn hatten sie in ein Bettelgewand gesteckt, das einem Kartoffelsack ähnelte. Der Anführer der Wachen hatte nur Wächter ausgesucht, die glücklich verheiratet waren, damit sie dem Zauber eines Inkubus‘ nicht erliegen konnten. Dann hatten sie ihn geknebelt und seine Hände so tief an den Boden gefesselt, dass er knien musste, die Hände kraftlos im Schoß.
Wie ein betender Mönch würde er seinen letzten Tag verbringen, in dem kratzigen Gewand, das inzwischen wie Feuer auf der Haut brannte.
Und dabei war er ein Nichts, ein Niemand. Nur ein Inkubus, der nicht einmal kämpfen konnte, der von Zuhause weggelaufen und auf einen Vampir mit einem glorreichen Traum getroffen war.
Nun war Iljans Bild vom Frieden zerplatzt. Najaxis, der diesem Traum bis in den Palast hinterher gestolpert war, fühlte sich, als würde er in einen Abgrund ohne Boden fallen. Ohne jeden Halt stürzte er in die Tiefe.
Allein. Verloren. Mitgefangen, mitgehangen.
„Oh, Mutter“, flüsterte er leise. „Du hattest recht.“
Lithium, don't want to lock me up inside.
Lithium, don't want to forget how it feels without.
Lithium, I want to stay in love with my sorrow.
Oh, but, God, I want to let it go.
„Verwandel dich.”
„Wie bitte?!“
Die Wache winkte mit einem Maulkorb. „Wird’s bald?“
Jackie knurrte. Sie hockte auf allen Vieren vor dem Mann, jeweils einen Ring um die Handgelenke, Knöchel und den Hals. Sie konnte die Hände kaum vom Boden nehmen, denn die Ketten waren so kurz, dass sie ihre Hände und Füße an den Stein pressten.
Die Wache griff nach einem Speer. „Na los, Wölfin! Oder ich sorge dafür, dass du dich verwandelst.“
Sie wollte nicht herausfinden, wie er sie zwingen könnte. Tapfer senkte sie den Blick und schloss die Augen.
Fell spross aus den Poren. Knochen knackten und knirschten übereinander. Organe, Muskeln und Gewebe wanderten.
Sie musste die Zähne aufeinanderpressen, doch schlimmer als der Schmerz war die Scham. Ihre Kleidung zerriss. Mit angelegten Ohren kauerte der rote Wolf vor der Wache, der letzten Menschenwürde beraubt.
Ein harter Griff packte ihren Nacken, doch sie wehrte sich nicht, als er ihr den Maulkorb übergestreifte, noch kämpfte sie gegen das Halsband desselben, das ihr neben der schweren Kette umgelegt wurde.
Kälte strich durch ihr Fell wie Wasser und stahl ihr die ureigene Magie. Sie war im Wolfspelz gefangen.
„Braves Hündchen.“ Er befestigte eine Leine an dem Halsband. „Gehen wir.“
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*»Lithium«, Evanescence