https://www.deviantart.com/ifritnox/art/741430801
Ein Pfad aus niedergetrampeltem Gras führte durch die Wiesen, ein altausgetretener Weg, den Generationen von Karawanen geebnet hatten. Auch andere Spuren der Karawanen waren geblieben: Blumenwiesen und fremdartige Pflanzen, deren Samen – von den Karawanen mitgeschleppt und verloren – sich am Rand der Klippe angesiedelt hatten. Verschiedenste Beerenbüsche wuchsen zu beiden Seiten des Weges, der sich malerisch die Steigung hinauf wand, immer in Sichtweite der Klippe, sodass die Wandernden förmlich sehen konnten, wie die Wolken immer näher kamen. Trotzdem war die Steigung sanft und ihr Weg, hier und da von kleinen Bächen begleitet, war leicht.
Sobald sie außer Sichtweite von Antordia waren, nahm Gudrun Stella die Taschen ab. Mit dem Wind in der Mähne konnte Stella nicht anders, als über die sanften Hänge zu galoppieren. Sich immer an das langsamere Tempo der anderen anpassen zu müssen zehrte an ihrer Geduld.
Sie rannte durch das hohe Gras, vorbei an Blumen und Büschen, und genoss den warmen Sonnenschein.
Die Reise war so angenehm, dass selbst Merkanto darauf verzichtete, Jackie als Wache einzusetzen. Sie konnten auf den Klippen weit sehen, es gab keinerlei Verstecke für einen Hinterhalt. Gleichzeitig gab es auch keine Verstecke für sie. Wenn sie gesehen wurden, würden sie fliehen müssen, da führte kein Weg herum. Also erlaubte der Magier, dass die Gemeinschaft langsam voran ging, scherzte und lachte und Beeren direkt von den Büschen aßen, bis sie alle Bauchschmerzen hatten.
Sie machten früh am Mittag eine Pause im Schatten einer großen Trauerweide, die am Ufer eines Baches stand und deren Äste weit über die Klippen hinaus ragten. Sie badeten getrennt nach Geschlecht im Wasser, durch einige Büsche vor den Blicken der anderen geschützt. Als sie wenig später Kratzer und Schnitte auf ihrer trocknenden Haut verarzteten, kehrte schließlich Abarax endlich zurück.
Jackie erschauerte und brach dann plötzlich zusammen. Die anderen kamen an ihre Seite gelaufen. Als Jackie die Augen wieder aufschlug, waren sie schwarz wie seelenlose Spiegel. Die Kinder der Sonne atmeten erleichtert auf.
»Abarax!«, rief Terziel. »Wie geht es dir?«
Der Nachtmahr stöhnte. Seine Stimme aus Jackies Mund zu hören war äußerst seltsam.
»Ich hab überlebt«, meinte Abarax. »Hätte ich nicht gedacht.«
Terziel umarmte Jackies besessenen Körper. »Jag' mir nie wieder so einen Schrecken ein!«
»Ich werde mich bemühen«, Abarax wirkte mit der Bekundung von Zuneigung etwas überfordert. »Allerdings werde ich einen neuen Körper brauchen. Nichts für Ungut, Jackie, aber ich bevorzuge Hüllen, die keine eigenen Gedanken haben. Das ist sehr … verwirrend.«
Die schwarzen Augen flackerten und machten Jackies grünen Platz. »Ich wäre auch sehr froh, wenn ich meinen Kopf wieder für mich habe.«
»Was meint er mit einem neuen Körper?«, fragte Cary nervös. »Sollen wir etwa jemanden töten?«
»Das würde ich im Schattenland tun«, Abarax hatte wieder die Kontrolle übernommen. »Ich kann zwar einen Leichnam ein Stück weit wiederherstellen, doch das kostet Kraft. Das Besetzen eines fremden Geistes allerdings auch. Ich werde natürlich nicht verlangen, dass ihr jemanden umbringt. Außer vielleicht Nejakai, ihren Körper zu besetzen würde mir gefallen. Für das, was sie Naja angetan hat.«
Die Gruppe nickte grimmig. Niemand empfand besondere Sympathien für die weiße Magierin.
»Ich brauche eine möglichst intakte und möglichst frische Hülle«, fuhr Abarax dann fort. »Es kann auch ein Tier sein, jedenfalls für den Anfang. Und eine Weile halte ich es auch noch mit Jackie aus.«
»Wir finden einen Weg«, versprach Terziel mit einer Zuversicht, die Merkanto nicht teilte. Wenn sie einen Mord begehen mussten, würde ihnen das Nejakai erneut auf ihre Spur führen.
»Das Einzige, was ich mir vorstellen kann, ist, einen Friedhof aufzusuchen«, sagte Cary unvermittelt. »Mir gefällt der Gedanke nicht, die Totenruhe zu stören, aber das könnte eine Notlösung sein. Wenn wir dem Weg ein Stück weiter folgen, kommen wir zum Halblingland, dort können wir auch einen Friedhof finden. Wenn wir es so anstellen, dass wir nachher alle Spuren beseitigen – und dafür sorgen, dass Abarax nicht irgendeinem Verwanden des Toten über den Weg läuft – könnte das klappen.«
»Wir werden sehen«, meinte Merkanto zögerlich. Die Sache gefiel ihm immer noch nicht besonders.
Abarax blieb nicht lange und bald war wieder nur Jackie da. Terziel fühlte sich angespannt. Im Moment war alles gut, doch er fühlte bereits die Gewitterfront, die bald wieder am Horizont stehen würde. Sie näherten sich der nächsten Siedlung, und diesmal würden sie Grabschändung betreiben müssen. Er war dazu bereit, er würde alles für seinen Bruder tun – nur würden die Hobbits das kaum verstehen. Sie waren dem Weißen Schloss nun schon so nah, manchmal hoffte er, die Türme am Horizont zur Linken zu sehen. Doch nun waren sie gezwungen, einen Umweg zu nehmen. Die Odyssee schien niemals zu enden. Vielleicht war das gut, denn sie wussten immer noch nicht, was sie tun sollten, wenn sie erst einmal im Schloss angelangt waren.
»Bisher haben doch alle, die uns zugehört haben, erkannt, dass wir nichts Böses wollen«, meinte Iljan zuversichtlich, als sie am Lagerfeuer wieder einmal darüber sprachen. »Ich bin mir sicher, dass auch eure Königin das einsehen wird.«
»Und ich bin ziemlich sicher, dass sie uns keine Zeit lassen werden, um uns zu erklären«, warf Cary ein. »Glaubst du denn, dass du einfach vor den Thron spazieren und in Ruhe alles erzählen kannst?«
Zwischen den beiden bestand eine spürbare Spannung. So plötzlich, wie die beiden ein Paar geworden waren, schien es mit dem jungen Glück auch wieder vorbei zu sein. Terziel hatte weder die eine noch die andere Entwicklung verstanden.
»Vielleicht hilft es, wenn wir eine Geste hätten«, schlug der Engel vor. »Oder irgendein Symbol oder Geschenk. Wie die weiße Flagge, wenn die Seefahrer handeln wollen.«
Cary überlegte und ignorierte gekonnt einen bitteren Blick von Iljan. »Das könnte funktionieren. Vielleicht. Kommt auf die Geste an.«
Terziel zuckte mit den Schultern. »Mir fällt nichts ein. Ich könnte aber auch einfach ins Schloss gehen und euch ankündigen. Für euch um eine Audienz bitten.«
»Ich soll dich darauf hinweisen, wie gut das bei Nejakai funktioniert hat«, meldete sich Jackie.
Terziel warf ihr einen bösen Blick zu: »Abarax, du kannst ruhig an mich glauben!«
Gudrun kicherte.
»Er hat allerdings recht, Terziel«, warf Merkanto ein. »Du bist einer von uns, ein Deserteur. Du bist genauso gefährdet wie jeder von uns.«
Er seufzte und zog die Flügel über den Kopf. »Na gut. Dann überlegen wir uns eben eine Geste, die sie davon abhält, uns zu töten.«
»Wir könnten unsere Waffen ganz einfach offen auf den Boden legen«, schlug Iljan vor.
»Klar, damit sie uns einfacher töten können!«, brummte Jackie.
»Ich bin auch dagegen«, sagte Merkanto. »Aber aus anderen Gründen. Die meisten von uns haben keine Waffen, die sie ablegen können. Die Geste funktioniert nicht.«
Es folgten noch andere Vorschläge, darunter die berühmte weiße Flagge, doch die meisten Gesten oder Symbole waren so zweifelhaft wie Iljans Idee der Entwaffnung. Schließlich brachen sie die Überlegungen ab und legten sich schlafen.
In die Stille unter dem Himmelszelt hinein sagte Iljan plötzlich: »Wir sollten eine Beerdigung für Najaxis machen.«
Terziel und auch die anderen setzten sich wieder auf.
»Wir … haben nichts, um es zu beerdigen«, merkte Jackie sanft an.
»Ich weiß«, seufzte Iljan. »Aber ich finde, Naja hätte es verdient. Und Askook auch. Wir können wenigstens ein paar Worte sagen.«
Schweigen stellte sich ein.
»Naja war ein guter Junge«, murmelte Merkanto in den Himmel. »Und Askook … er war fast noch ein Schlüpfling, aber er hatte Mut für fünf.«
»Ich werde sie vermissen«, sagte Cary.
»Falls ich Nejakai nochmal treffe«, fügte Iljan hinzu, »wird sie dafür bezahlen.«
Jackie schlief unruhig. Abarax' Anwesenheit in ihren Gedanken war ständig zu fühlen, wie ein Drücken im Hinterkopf. Der Nachtmahr hatte sich (metaphorisch) eingerollt und seinen Einfluss so weit beschränkt wie möglich, um ihr ihre Privatsphäre zu lassen, trotzdem fing sie immer wieder fremde Gedanken auf – oder Gedanken, bei denen sie sich nicht mehr sicher war, wem sie gehörten. Es war ein beängstigendes Gefühl, nicht mehr alleine im eigenen Kopf zu sein.
Sie konnte Abarax' stumme Vergewisserung hören, dass es nur vorübergehend wäre. Schon bald hätten sie einen Friedhof erreicht und dann würde alles besser werden. Jackie hoffte es. Bis dahin war der Nachtmahr nur eine weitere Störung, genau wie die Gedanken, die sie immer wieder heimsuchten.
Sie rollte sich auf die Seite und Iljans Geruch stieg ihr in die Nase, alarmierend, doch wohlvertraut. Er lag nah bei ihr, jedoch weit entfernt von Cary. Obwohl sie sich schlecht fühlte, empfand Jackie Genugtuung bei der Feststellung.
Irgendwas war zwischen den beiden geschehen. Jackie konnte sehen, wie traurig Iljan darüber war, doch statt Mitleid fühlte sie nur Schadenfreude. Endlich konnte sie ihren besten Freund zurückbekommen, der sie in den letzten Tagen so vernachlässigt hatte. Obwohl das Sonnenland ihre ursprüngliche Heimat war, hatte Jackie Heimweh nach dem Jagdgebiet ihres Rudels und dem bedingungslosen Zusammenhalt der Werwölfe. Sie war Iljan trotzdem gefolgt, und glaubte an seine Mission, doch dann hatte der Vampir sie vergessen. Sie fühlte sich ungewollt und ausgenutzt, wie ein Gepäckstück, das man nur der Pflicht wegen mit schleppte und nicht, weil man den Inhalt brauchte oder mochte. Natürlich hätte sie sich für Iljan freuen sollen, doch es gelang ihr nicht, als sie sich einsamer und einsamer fühlte.
Sie war nie in Iljan verliebt gewesen, doch ihre tief empfundene Freundschaft kam einer Liebe so nah wie nur möglich. Iljan mit jemandem zu teilen war schwierig, ihn komplett zu verlieren tat so weh, als ob sie sich selbst einen Dolch in die Brust gestoßen hatte.
Jackie seufzte und drehte sich auf die andere Seite. Erneut hielten die Gedanken sie die ganze Nacht wach.
Wie viel bekam Abarax wohl mit, und was dachte er nun von ihr? War sie kindisch oder war sie im Recht? Und was konnte sie tun, um Iljan als Freund zurückzugewinnen?
Die halbe Nacht und noch länger versuchte Jackie, den düsteren Gedanken zu entrinnen. Es gelang ihr nicht.
Der Morgen begann so friedlich, als wollte er die Ereignisse, die am nächsten Tag folgen sollten, Lügen strafen.
Die Kinder der Sonne brachen ihr Lager ab und packten auch die Kleider, mit denen sie als Karawane erschienen, in ihre Taschen. Sie trugen wieder das, was sie seit ihrem Auszug aus der Tigerpfote trugen.
So zog die geschrumpfte Gruppe los. Iljan ging voran und Jackie, mal als Wolf, dann wieder als Mädchen in ein großes Tuch gewickelt, spähte die Gegend vor ihnen aus und erstattete Iljan regelmäßig Bericht.
Terziel hielt sich in Iljans Nähe, um ab und zu ein paar Worte mit Abarax zu wechseln – bei solchen Gelegenheiten veränderten sich Jackies Bewegungen, wurden ausladender und kraftvoller, vor allem aber wurden ihre Schritte unsicher, da der Nachtmahr nicht mit dem Schwerpunkt des neuen Körpers zurecht kam und die Balance verlor.
Hinter den dreien folgten Gudrun und Merkanto, erstere unter ihrem großen Trankbeutel ächzend und letzterer damit beschäftigt, sie zu ignorieren. Gudrun erzählte fröhlich von diversen Erlebnissen ihrer Kindheit, ob Merkanto nun zuhören wollte oder nicht.
Und schließlich folgte Stella, mit Caryellê auf dem Rücken. Sie bildeten die Nachhut. Cary war ausgelassen und freute sich über die Gelegenheit, wieder zu reiten. Sie trabten durch den Wald, Cary testete ihre Zielgenauigkeit, indem sie einige wehrlose Bäume mit dem Bogen abschoss. Sie war aus der Übung, doch die Erinnerung kehrte schnell zurück.
Stella dagegen fühlte sich … seltsam. Aus irgendeinem Grund klang ihr immer noch der Schrei der Möwen in den Ohren. Sie konnte Salz im Wind riechen, obwohl Antordia inzwischen weit hinter ihnen lag.
Ihr Körper drückte und schmerzte und zog und dann … es gab kein Geräusch, doch es fühlte sich an wie ein Korken, der aus einer Flasche gezogen wurde. Cary stieß einen überraschten Schrei aus und Stella stellte fest, dass die Mähne, die ihr ins Gesicht fiel, auf einmal dunkelblau war.
Die Kinder der Sonne wirbelten alarmiert herum. Gudrun lachte und klatschte in die Hände.
»Was? Was ist los?«, fragte Stella verwirrt, während Cary von ihrem Rücken glitt und sie bestaunte. »Was bin ich jetzt schon wieder?«
»Ein … Wassereinhorn? Meereinhorn?«, Cary zuckte mit den Schultern und wies zum Bach. »Sieh selbst nach.«
Stella tat es. Wie sich herausstellte, war ihr Fell nun hellblau mit einer sanften Zeichnung wie von Meeresschaum. Die Mähne, Schweif und Fesseln waren dunkelblau, in Mähne und Schweif hingen zudem Muscheln und kleine, orange Seesterne. Selbst Stellas Horn hatte sich verfärbt, es war beige-weiß, wie Meeresschaum, und um den Ansatz des Horns ringelten sich grüne Algen, die auch um ihr linkes Vorderbein und auf ihrer rechten Flanke erschienen waren wie kunstvolle Akzente.
Stella seufzte und erinnerte sich daran, dass sie mit Gudrun in der Meeresbrandung gespielt hatte. »Wie lange geht das eigentlich noch so weiter?«