19. Dezember
Der Weg, den ich gehe, ist kaum zu erkennen. Er liegt unter dichtem Schnee und windet sich über die Seite des Berges. Langsam steige ich in die Höhe, bis die Luft dünn und kalt wird. Hier werde ich leben. Hier, wo mich keiner findet.
Wo ich für alle Zeit allein bin.
Natürlich werden sie mich jagen. Aber ich hinterlasse keine Spuren im Schnee. Ich gehe ruhig, spare meine Kräfte, habe genau berechnet, wie weit ich gehen kann.
Eis ist Kälte und Berechnung. Ich lebe meine Kraft. Niemand wird mich besiegen können, wenn ich erst die Spitze des Berges erreicht habe.
Meine Haare haben sich verändert. Sie waren schon immer hell und blond. Jetzt sind sie weiß, mit bläulichen Spitzen. Es kümmert mich wenig, aber ich weiß, dass diese Veränderung dem Eis geschuldet ist. Ich gehe weiter.
Auf halber Höhe den Berg hinauf bemerke ich eine Hütte, die mitten im Tiefschnee auf dem Berg steht. Sie ist noch weit über mir, aber ich sehe bis hierhin, dass schwaches Licht aus den Fenstern fällt. Dabei ist es früher Morgen – wer ist um diese Zeit schon wach?
Der Vollständigkeit halber sollte ich besser sehen, wer an einem solchen Ort eine Hütte bauen und bewohnen würde. Ich will keine Variablen und Unbekannte in meiner Berechnung haben.
Ich folge dem Weg weiter. Der Schnee reicht mir bis zu den Knien. Doch nichts könnte mir hier zur Gefahr werden.
Ich bin die größte Gefahr dieser Berge, schlimmer als Wölfe, Bären, Luchse, Pumas oder Lawinen. Schlimmer als der Schneesturm selbst.
Ich erreiche die Hütte kurz vor Mittag. Sie liegt ein Stück abseits des Weges. Doch ich bin neugierig, also trete ich näher.
Ich sehe vorsichtig durch ein Fenster, das so beschlagen ist, dass ich nicht ins Innere sehen kann. Ich will nicht tatenlos zurückkehren, aber an die Hüttentür klopfen will ich auch nicht. Ich umrunde das Haus einmal. Kein Fenster ist sauber genug, als dass ich hinein spähen könnte.
Frustriert will ich mich abwenden, da spüre ich Wärme.
Sie kommt nicht aus der Hütte. Jemand steht hinter mir. Ich wirbele herum und lasse Schnee aufsteigen, der mich im Notfall sofort in eine dichte Wolke hüllen kann.
Hinter mir steht ein alter Mann. Er hat keine Zähne mehr, sein Gesicht ist unter lauter Falten kaum zu erahnen. Er trägt dicke, weiße Pelze auf dem buckligen Rücken. Doch seine Augen sind erschreckend lebendig und hell. Seine Haut ist gebräunt.
„Hallo Glacia. Ich habe dich erwartet“, sagt er zu mir.
„Wer sind Sie?“, frage ich und ducke mich. Von Fremden, die mich mit meinem Namen anreden können, habe ich für's Erste die Nase voll.
„Ich weiß, du frierst nicht, aber kann ich dir trotzdem eine Tasse Tee anbieten? Ich habe so lange darauf gewartet, dass du kommst – da will ich dich doch wenigstens in meine Hütte einladen!“
Er humpelt an mir vorbei, auf einem Stock aus weißem Holz gestützt. Er öffnet die Tür der Hütte und deutet einladend auf das düstere Innere.
„Wer sind Sie?“, wiederhole ich.
„Ich habe Früchtetee, Kräutertee, Schwarzen Tee. Du kannst dir aussuchen, was du willst. Wir haben viel zu besprechen“, sagt der Mann. Vielleicht ist er taub? Ich glaube selbst nicht daran.
Langsam trete ich auf ihn zu: „Ich trinke mit Ihnen Tee. Meinetwegen. Ich habe es nicht eilig. Aber sagen Sie mir, wer Sie sind.“
Der Alte lächelt. Als er von der Tür zurück tritt, sehe ich, dass im Inneren nur zwei Sessel um einen kleinen Holztisch stehen. Auf dem Tisch steht eine Kerze und zwei Tassen dampfenden Tees.
„Ich bin Matoskah. Ich bin dein Großvater.“