Drei Monate später, 14. Dezember
In unserem kalten Exil im tiefsten Schnee am Ende der Welt sind wir sicher, Mingan und ich.
Wir haben die Berge hinter uns gelassen, die Menschen die uns töten wollten und auch jene, die uns verraten und verletzt haben.
Jedenfalls physisch sind sie unerreichbar weit fort – ihre Erinnerung wird uns niemals loslassen.
Ich sehe Mingan an, der seine Geschichte beendet hat und mit düsterem Blick das Hundehalsband in den Händen dreht. Eine Hand ist verstümmelt, Ring- und kleiner Finger fehlen. Eine sichtbare Narbe für den Schmerz eines anderen.
Ich atme durch, immer noch entsetzt von dem, was Mingan mir offenbart hat. Langsam setze ich mich neben ihn, schlinge einen Arm um seinen Rücken und bette den Kopf auf seine Schulter. Es ist, als würden unsere Herzen im Gleichtakt schlagen, Eis und Nacht, Wasser und Dunkelheit, sich gegenseitig ergänzen und stützen. In Mingan habe ich, ohne, dass ich ihn noch gesucht hatte, meinen Seelenverwandten gefunden.
Ich atme aus und versuche, alle Gedanken loszulassen. Gedanken sind Eis. Gefühle sind Wasser. So, wie Mingan es mich lehrt, versuche ich, Wasser zu sein. Ich berühre seine verletzte Hand, dann das Halsband.
Mingan schnieft und wendet das Gesicht ab. Ich richte mich auf, lasse ihn los, nur, um sein Gesicht zu meinem zu drehen. Tränen laufen über seine Wangen, er weicht meinem Blick aus.
„Ich vermisse ihn“, gesteht er flüsternd. „Ich wünschte, ich hätte Sam retten können.“
„Du hast getan, was du konntest“, sage ich fest, mit Eis in der Stimme, damit es ihm Kraft verleiht. „Du hast das Richtige getan.“
„Ich hätte Jens sofort töten müssen“, sagt Mingan.
Ich wiederhole, noch etwas fester: „Du hast das Richtige getan. Sonst wärst du nur ein sinnloser Mörder, wie … wie ich.“
Meine Stimme wird leiser. Ich streiche Mingans Tränen von seinen Wangen und fange endlich seinen Blick ein. Ich lächele. „Und überhaupt – du bist der Junge, der mir beibringt, wie wichtig Emotionen sind. Wag es nicht, deine Trauer vor mir zu verstecken!“, tadele ich spielerisch.
Mingan lacht leise. „Tut mir leid, Schneekönigin.“
„Das sollte es auch besser“, ich nehme ihm sanft das Halsband ab. Wenn ich eines gelernt habe auf meiner Reise zur Schneekönigin Glacia und von dort zu Mingans Geliebter Soyala, dann dass die Toten niemals wirklich fern sind. Langsam lege ich das Halsband um Mingans Schultern und schließe die Schnalle. „Sam“ steht auf einer kleinen, goldenen Plakette, die wie eine Hundepfote geformt ist. Mingan streicht über das Halsband und das Namensschild. Seine Finger kommen auf meinen Händen zum Stillstand.
„Er ist immer bei dir“, sagte ich zu Mingan und erwidere den zaghaften Druck seiner Finger.
Dann steht Mingan auf und wirft einen letzten Blick durch unser kleines Häuschen. Seine Tränen sind getrocknet, auch wenn er immer noch unglücklich aussieht. Als er meine Hand nimmt, lächelt er trotzdem, denn so sehr er seinen Hund vermisst – er liebt mich. Und er glaubt an unsere Mission.
Ich packe die beiden Zeitungsartikel über den rätselhaften Großbrand ein. Mingan öffnet die Tür, Hand in Hand treten wir in einen eisigen Schneesturm hinaus.
„Suchen wir die anderen“, sagt Mingan.
„Nein“, sage ich. „Finden wir die anderen!“
Er grinst mich an: „Besserwisserin!“